Kritischer Blick: SPD-Chef Schulz (r.), Amtsvorgänger Gabriel. (Foto: Imago/Jens Jeske)
SPD

Sehnsucht nach Leitkultur

Kommentar Die orientierungslose SPD ringt um die Regierungsbeteiligung und den richtigen Kurs. Ex-Parteichef Gabriel verweist auf eine seit langem vergessene Klientel: Die fleißige Mittelschicht, die durchaus etwas mit „Heimat“ und „Leitkultur“ anfangen kann.

Die Phase der inneren Selbstfindung ist für die SPD noch lange nicht abgeschlossen. Parteichef Martin Schulz bleibt trotz Wiederwahl ein ausgesprochener Wackelkandidat, unfähig zur Führung einer verunsicherten und zerstrittenen Truppe. Vor allem Außenminister und Amtsvorgänger Sigmar Gabriel tritt ihm immer wieder gegen das Schienbein und profiliert sich als der bessere Vorsitzende.

Nun hat Gabriel in einem Gastbeitrag im Spiegel den Blick auf eine offene Flanke der SPD gelenkt: Die frühere klassische SPD-Anhängerschaft, die gar nicht vom linken Kulturrevolutionsgeist beseelt ist. Die Menschen, die den Lebensunterhalt ihrer Familien nebst Abzahlung des Eigenheims selbst erwirtschaften wollen, die durchaus etwas mit den Begriffen Leistung und Eigenverantwortung, aber auch mit Tradition, Leitkultur und Heimat anfangen können – und die sich angesichts starker muslimischer Einwanderung auch Sorgen um die nationale Identität Deutschlands machen.

Gabriel kritisiert Ignoranz

Diese Leute nämlich hat Schulz im Bundestagswahlkampf offensichtlich überhaupt nicht angesprochen. Nicht nur, dass die Leistungsbereiten schon vor vielen Jahren teilweise ins Lager der Union übergelaufen sind. Schlimmer noch: Diejenigen SPD-Anhänger, bei denen die Sorgen angesichts der Einwanderung besonders ausgeprägt sind, haben im September oft die AfD gewählt. Bei vielen Wahlanalysen wurde nämlich übersehen, dass nicht nur 1,07 Millionen Stimmen von CDU und CSU zur AfD gingen, sondern auch 500.000 von der SPD und, innerhalb des destruktiven Protestspektrums, 430.000 von der Linkspartei.

Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit.

Sigmar Gabriel

So legt Gabriel nun den Finger in die Wunde: Entscheidend sei, die kulturelle Distanz der SPD zu klassischen Wählerschichten zu verringern, indem deren Anliegen wieder mehr Bedeutung zugemessen würden: „Als Sozialdemokraten und Progressive haben wir uns kulturell oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten. Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit.“

Klare Worte, die eigentlich erstaunen müssen. Denn wenn die Union derlei Argumente vorbrachte, wurde sie regelmäßig nicht nur von Grünen und Linken, sondern auch aus der SPD heftig attackiert – mit den Parolen „Rechte Stimmungsmache“, „Ausgrenzungspolitik“ und so fort. „Wer den Leitkult propagiert, macht Heimat kaputt“, behauptete gar Bayerns Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann Ende 2016. Und die damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özoguz erklärte im Mai 2017, es gebe überhaupt keine deutsche Kultur jenseits der deutschen Sprache.

SPD goes Leitkultur

Auch Gabriel selbst gehörte dazu: Noch im Mai sagte er in Venedig: „Lösungen können wir nicht dadurch finden, indem wir versuchen, Kulturen mit einem exklusiven Goldstandard zu definieren. Oder indem wir eigene ,Leitkulturen‘ gegenüber anderen in Stellung bringen. Es ist eben nur ein kleiner Schritt von der Einengung des Kulturbegriffs auf aktuell mehrheitsfähige Normen zur kulturellen Ignoranz oder gar Intoleranz.“ Für ihn befinde sich die Leitkultur „in den ersten 20 Artikeln der deutschen Verfassung“, so Gabriel. Aber das reicht eben nicht, das könnte er mittlerweile eingesehen haben.

Ist die Sehnsucht nach einer ,Leitkultur‘ angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?

Sigmar Gabriel

Vielleicht hat sich der seine Meinungen stets flott wechselnde Gabriel an dem früheren Bundestagpräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) orientiert, der jüngst forderte: „Die Sozialdemokratie (die Linke insgesamt), sollte damit aufhören, kulturelle Identitätsfragen arrogant abzuwehren.“ Gabriel schreibt jetzt im Spiegel, die Sozialdemokratie müsse sich wieder stärker um jene Teile der Gesellschaft kümmern, „die mit diesem Schlachtruf der Postmoderne ,Anything goes‘ nicht einverstanden sind. Die sich unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet sehen.“ Man fragt sich: Warum hatte er als SPD-Chef das nicht so gesehen?

Späte Einsichten

Auch den im linken Spektrum oft verspotteten Begriff „Leitkultur“ sieht Gabriel positiv und ruft die SPD auf, eine offene Debatte darüber zu führen: „Ist die Sehnsucht nach einer ,Leitkultur‘ angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?“

Man kann nur wünschen, dass dieser Gastbeitrag nicht nur im Willy-Brandt-Haus, sondern auch im Konrad-Adenauer-Haus fleißig gelesen wird. Denn nicht nur die SPD, sondern auch so mancher in der CDU dümpelt ja inhaltlich „irgendwo im linken Nirwana“ umher, wie Horst Seehofer es auf dem CSU-Parteitag formulierte.