Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD). (Foto: Imago/IPON)
SPD

Wolfgang Thierse für Leitkultur

Sobald Sozialdemokraten im Ruhestand sind, räumen sie frühere Positionen und nähern sich der Union an: So unterstützt der frühere Bundestagspräsident Thierse jetzt die Unions-Auffassung, dass ein Land eine klare kulturelle Identität braucht.

Multikulti oder christlich-abendländische Leitkultur? In dieser zentralen Frage hat sich die SPD bisher meist auf die Multikulti-Seite gestellt, wo Grüne und Linke möglichst unbegrenzte Zuwanderung fordern. Doch nun vernimmt man vom früheren Bundestagpräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) plötzlich ganz andere Töne. „Themen wie Heimat und Überfremdungsängste sollten nicht rechten Kreisen überlassen werden“, schreibt er in einem Gastbeitrag für das politische Magazin Cicero. So verweist Thierse die Generalthese der SPD und des Großteils der deutschen Linken ins Reich der Fabeln, wonach sich der Erfolg der AfD „allein aus politisch-ideologischen und sozial-ökonomischen Ursachen erklären“ lasse.

Die Sozialdemokratie (die Linke insgesamt), sollte damit aufhören, kulturelle Identitätsfragen arrogant abzuwehren.

Wolfgang Thierse (SPD), Alt-Bundestagspräsident

Denn die AfD-Wähler seien nicht einfach Rassisten, Nationalisten oder „Benachteiligte, Arme und Arbeitslose oder die Bewohner ,abgehängter Regionen’“, so der ehemalige Bundestagspräsident. Beim Studium der Wahlanalysen und Nachwahlbefragungen der Meinungsforschungsinstitute erkenne man folgendes: 60 Prozent der AfD-Wähler hätten ja angegeben, dass sie nicht die AfD-Programmatik motiviert habe, „sondern – so die Wahlforscher – vor allem Angst: vor dem Verlust der deutschen Sprache und Kultur, vor der Herrschaft des Islam, vor Terrorismus und Kriminalität, vor Überforderung durch Flüchtlinge (das sind übrigens genau die Ängste, die auch im Anfang September veröffentlichten allgemeinen ,Angstindex der Deutschen‘ an der Spitze lagen.)“.

Ganz reale Gründe

Entgegen der Selbstberuhigungsrhetorik der Linken, dass die Probleme der Zuwanderung im Sinn der AfD-Propaganda aufgebauscht würden, gebe es vor allem „wirkliche Gründe für Ängste und Unsicherheiten“, stellt der ehemalige Bundestagspräsident fest. Denn durch „Globalisierung, also eine Welt von Entgrenzungen und Beschleunigungen, durch die Digitalisierung, den demografischen Wandel, die Flüchtlingsbewegung“ entstünden „Zukunftsunsicherheit, Veränderungsängsten, Benachteiligungsgefühle und Entheimatungsbefürchtungen bei nicht wenigen anderen Menschen. Das Gefühl breitet sich aus, fremd zu werden im eigenen Land“, so Thierse. Fazit: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass unser Land sich weiter verändert und dauerhaft pluralistischer wird, also ethnisch und religiös-weltanschaulich und kulturell vielfältiger und widersprüchlicher wird.“

Heimat, das meint den kulturell geprägten Raum der Vertrautheiten und Geborgenheiten, der emotionalen Bindung und Identifikation, der Anerkennung und Wertschätzung.

Wolfgang Thierse

Seiner eigenen politischen Heimat schreibt Thierse Folgendes ins Stammbuch: „Die Sozialdemokratie (die Linke insgesamt), sollte damit aufhören, kulturelle Identitätsfragen arrogant abzuwehren. Sie sollte endlich damit beginnen, die legitimen Beheimatungsbedürfnisse von Menschen ernst zu nehmen, den Begriff Heimat nicht allzu flott verächtlich zu machen, und sie sollte verstehen lernen, dass Heimat mehr ist als gut funktionierende soziale Infrastruktur.“ Im Folgenden liefert Thierse seine eigene Definition von Leitkultur, ohne sie so zu nennen: „Heimat, das meint den kulturell geprägten Raum der Vertrautheiten und Geborgenheiten, der emotionalen Bindung und Identifikation, der Anerkennung und Wertschätzung, der Selbstverständlichkeiten und Zuordnungen, der Kenntnis von Ort und Herkunft und Geschichte, meint die Erfahrung des Geworden- und Geprägtseins.“

Thierse könnte der SPD ruhig Nachhilfe geben

Doch Thierse steht mit diesen Erkenntnissen in seiner Partei ziemlich allein, wie es scheint. Vor allem seinem eigenen SPD-Landesverband in Berlin könnte Thierse als erstes Nachhilfe in Sachen Leitkultur geben: Hier gibt es einen massiven Streit zwischen den Lagern um den Leitkultur-Begriff. Beim Landesparteitag am vergangenen Wochenende hatten die Gegner der Leitkultur gesiegt. Herausgekommen ist Multikulti: Statt einer Leitkultur sollten „gemeinsame Grundwerte für ein vielfältiges Miteinander“ als Grundlage der SPD-Politik dienen. Eine Leitkultur von links zu definieren sei kontraproduktiv, autoritär und widerspreche dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes, fasst der Berliner Tagesspiegel die Argumente zusammen, die sich letztlich durchsetzten. Der Berliner SPD-Landesvorsitzende und Bürgermeister Michael Müller hatte sich in seiner Parteitagsrede sehr klar gegen eine Leitkultur gewandt: „Ich brauche keine Leitkulturdebatte.“ Das war ein klarer Angriff gegen SPD-Fraktionschef Raed Saleh, der in seinem Buch „Ich deutsch“ eine neue deutsche Leitkultur fordert – und das aus der Feder eines gebürtigen Palästinensers.

Auch der bayerischen SPD könnte Thierse einmal seine Erkenntnisse vermitteln. Die hat im Mai dieses Jahres – Schulter an Schulter mit den Grünen – sogar Verfassungsbeschwerde gegen das vom bayerischen Landtag verabschiedete Integrationsgesetz eingelegt. „Die CSU verordnet dem Freistaat Bayern eine Leitkultur und macht damit ein Stück weit aus unserem Land auch einen autoritären Bevormundungsstaat“, kritisierte SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher. Konkret sieht die Bayern-SPD durch die Integrationspflicht die allgemeine Handlungsfreiheit und die Menschenwürde verletzt. Für verfassungswidrig hält sie auch die Vorschrift, dass alle Kinder in Kindertageseinrichtungen „zentrale Elemente der christlich-abendländischen Kultur erfahren“ sollen. Ob Thierse mit seinen Erkenntnissen in seiner eigenen Partei also durchdringt, darf bezweifelt werden.