Ernste Gesichter: Die CDU hat viele konservative Stammwähler verloren. (Foto: Imago/Xinhua)
Bundestagswahl

Denkzettel der Konservativen

1,07 Millionen Stimmen an die AfD verloren, 1,3 Millionen an die FDP: Die Union wurde von konservativen und liberalen Stammwählern bestraft – die Quittung für Flüchtlingskrise und die SPD-Umverteilungspolitik der großen Koalition. Eine Wahlanalyse.

Das Positive aus CSU-Sicht:

1. Die CSU gewinnt alle Direktmandate in Bayern. Das ist keineswegs selbstverständlich und gelang erstmals 2013. Das zeigt, dass die Bürger das größte Vertrauen in die CSU-Politiker vor Ort haben. Vor allem die Wahlkreise München-Nord und Nürnberg-Nord, wo die Neulinge Bernhard Loos und Sebastian Brehm auf Anhieb siegten, sind keine CSU-Hochburgen. Hier hat sich der intensive Wahlkampf vor Ort bemerkbar gemacht, insbesondere die mehreren zehntausend Hausbesuche.
2. Rot-Rot-Grün ist passé. SPD, Grüne und Linkspartei erreichen zusammen nur 38,6 Prozent. Die Bürger erteilten damit einer linken Republik eine klare Absage.
3. Die CSU hat in Bayern trotz eines schwachen eigenen Ergebnisses immer noch einen großen Vorsprung vor allen anderen Parteien, die Nummer Zwei ist weniger als halb so stark. Damit bleibt die CSU die bestimmende Kraft in Bayern. Die bayerische SPD dagegen wurde regional sogar von der AfD überholt.
4. Stimmenkönigin der CSU wurde die erst 30 Jahre alte Emmi Zeulner in Kulmbach mit 55,4 Prozent. Sie zog vor vier Jahren mit 26 als jüngste Abgeordnete in den Bundestag ein, und nun erhielt sie von den Wählern einen überwältigenden Vertrauensbeweis. Die weiteren CSU-Stimmenmagneten, die über 50 Prozent der Erststimmen holten, sind: Stephan Mayer (Altötting, 54,5 Prozent), Dorothee Bär (Bad Kissingen, 51,1 Prozent), Gerd Müller (Oberallgäu, 50,4 Prozent) und Peter Ramsauer (Traunstein, 50,3 Prozent).

Wer wählte die AfD?

Im Zentrum aller Analysen steht der Erfolg der AfD. Die rechtspopulistische Protestpartei gewinnt Wähler von allen Parteien, aber besonders viel aus dem Lager der Nichtwähler: 35 Prozent der AfD-Wähler gaben bei der Forschungsgruppe Wahlen an, sie seien 2013 gar nicht zur Wahl gegangen – der größte Einzelanteil. Die Union verlor laut Infratest-dimap bundesweit 1.070.000 Stimmen an die AfD, die SPD 500.000 Stimmen, die Linkspartei 430.000 Stimmen. Laut Infratest-dimap-Auswertung haben 60 Prozent der AfD-Wähler die Partei „aus Enttäuschung“ (über die anderen Parteien) gewählt, nicht aus Überzeugung.

Anders als mit den reinen Protestwählern verhält es sich mit dem nationalkonservativen (ehemaligen) Stammpublikum von CDU und CSU, das sich in einer Größenordnung von knapp 1,1 Millionen der AfD zuwandte. 71 Prozent der ehemaligen Unionswähler sind laut Infratest-dimap mit der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel unzufrieden – und sogar 34 Prozent derer, die diesmal der Union treu geblieben sind.

Sorgen über Kriminalität und Islam

62 Prozent aller Befragten äußern Sorge über eine massive Zunahme der Kriminalität, 46 Prozent sorgen sich über eine zu starken Einfluss des Islams in Deutschland, 38 Prozent äußerten ihre Sorge, dass „zu viele Fremde nach Deutschland kommen“. Diese Konservativen muss die Union, vor allem die CDU, wieder zentral in den Blick nehmen. Ob das mit Merkel als CDU-Chefin und Kanzlerin gelingt, ist fraglich. Zu sehr ist sie als Person, wie sie jetzt selbst einräumt, mit der Flüchtlingswelle und dem Abräumen anderer konservativer Positionen verbunden.

Die CSU hat mit Blick auf die bayerische Landtagswahl in einem Jahr nun eine schwierige Aufgabe zu bewältigen: Die zur AfD abgewanderten konservativen Stammwähler müssen unbedingt zurückgewonnen werden, sonst ist die absolute Mehrheit dahin. Dafür muss man in Berlin wichtige konservative Positionen durchsetzen. In sämtlichen denkbaren Koalitionsgesprächen – mit FDP, Grünen oder auch SPD – wird das sehr schwierig. Zudem besteht die Gefahr, dass die konservativen Stammwähler ein Bündnis mit den Grünen generell ablehnen. Sinnvoll wäre für die CSU künftig eine sachliche, aber deutliche Anti-Protest-Botschaft: Die AfD kann überhaupt nichts durchsetzen, weil sie in allen Parlamenten isoliert ist. Wer die CSU schwächt und die AfD wählt, zwingt die CSU zu Kompromissen mit linken Parteien und schädigt damit konservative Positionen. Wer konservative Politik will, muss CSU wählen.

Treibsätze

Die zeitliche Entwicklung der Umfragewerte und Wahlergebnisse zeigt: Der Aufschwung der AfD hat einen Anlass und ein Datum, nämlich die Grenzöffnung für Flüchtlinge am 4. September 2015 durch die Bundeskanzlerin. Bis zu diesem Tag war die AfD praktisch erledigt: Der Protest gegen die Euro-Rettung war verebbt, die Partei zerfleischte sich selbst. Bei einer Erhebung von Infratest-dimap vom 3. September 2015 lag die AfD bei 4 Prozent, Forsa taxierte die AfD am 2. September auf 3 Prozent. Die AfD hangelte sich von da an steil empor: Im März 2016 erhielt die Protestpartei in Sachsen-Anhalt 24,2 Prozent.

Dann aber verflachte der Zuspruch zur AfD wieder, dank der Grenzschließung auf der Balkanroute und des Flüchtlingsdeals mit der Türkei sanken die Asylbewerberzahlen stark. Die CSU hatte in der großen Koalition zudem zwei Verschärfungen des Asylrechts und die leichtere Abschiebung von kriminellen Flüchtlingen durchgesetzt. Im Mai kam die AfD in NRW nur noch auf 7,4 Prozent, im Juli und August lag sie in bundesweiten Umfragen bei acht Prozent. Was machte zuletzt den Aufschwung aus? Speziell im September stilisierte sich die AfD intensiv als Opfer des Establishments aus großen Parteien und Medien. Der trotzige Auszug der Spitzenkandidatin Weidel aus der ZDF-Talkshow sowie die massive mediale Kritik an Gaulands Wehrmachts-Lob bestärkten die AfD in dieser Rolle und verschafften ihr noch mehr Aufmerksamkeit und Zulauf.

CSU als Sündenbock

Vor allem in Bayern inszenierte sich die AfD in der Endphase des Wahlkampfs zudem als eine Art besserer CSU: Die unsinnigen Parolen „Strauß würde AfD wählen“ und „Die AfD hält, was die CSU verspricht“ scheint ein Teil der bisherigen CSU-Wähler geglaubt zu haben. Vor allem in den konservativen CSU-Stammlanden wie Niederbayern und Schwaben schoss die AfD zur zweitstärksten Partei empor. Wenn man so will, erhielt die CSU hier die Quittung für ihr geschwisterliches Bündnis mit der CDU – und wurde stellvertretend für die Kanzlerin bestraft, auch wenn sie die Flüchtlingspolitik von Anfang an kritisiert hatte.

Auch die 1,3 Millionen Wähler, die zur FDP abgewandert sind, müssen der Union zu denken geben. Ein Teil davon gehört zur fleißigen Mittelschicht und zum Mittelstand, der in der abgelaufenen Wahlperiode, als die FDP nicht im Bundestag vertreten war, schmerzlich ein wirtschaftsliberales Korrektiv vermisste und von der großen Koalition (gefühlt) vor allem sozialdemokratische Umverteilungspolitik serviert bekam. Laut Infratest-dimap profitiert die FDP am drittstärksten von der „Enttäuschung“ der Wähler über andere Parteien – stärker profitieren nur die AfD (60 Prozent) und die Linke (39 Prozent).

SPD rutscht weiter ab

Die SPD ist auf einem historischen Tiefpunkt angekommen und muss ihren Weg neu definieren. Sie verlor viele Wähler – und zwar an alle Kleinparteien: 500.000 an die AfD, 430.000 an die FDP, 400.000 an die Grünen, 380.000 an die Linke. Ob die selbst verordnete Oppositionsrolle die SPD-Anhänger zurückgewinnt, ist fraglich. Parteichef Schulz hat die schwerste Niederlage seit 1945 zu verantworten und warb stark mit Initiativen für mehr „soziale Gerechtigkeit“. Wie will er das jetzt durchsetzen, wenn er sich in die Opposition zurückzieht?