Späte Abrechnung mit der Arroganz der linken politischen Elite: Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel. (Foto: Imago)
Sigmar Gabriel

Er hat Recht, aber seine Erkenntnis kommt zu spät

Warum werden SPD-Politiker erst dann klug, wenn sie keine wichtigen Ämter mehr bekleiden? Jüngstes Beispiel ist Sigmar Gabriel: Der von seiner Partei geschasste Außenminister lobt Jens Spahn und kritisiert die „Political Correctness“-Ideologie.

Den langjährigen SPD-Chef Sigmar Gabriel scheint die Ruhe auf den hinteren Bänken des Bundestags intellektuell zu erfrischen: In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel geht der vor einem Monat von seiner Partei als Außenminister geschasste Niedersachse hart mit der linken „Political Correctness“-Ideologie ins Gericht, lobt den CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn und wirft der (linken) politischen Klasse vor, die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen zu ignorieren – unter anderem, weil die Politiker und ihre Familien mit den Folgen der Masseneinwanderung nicht direkt konfrontiert sind.

Damit reiht sich Gabriel in die Phalanx der ehemaligen SPD-Politiker ein, die nach dem Ausscheiden aus den Spitzenämtern Klartext reden und den Linkskurs der Sozialdemokraten deutlich kritisieren. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zeigte Verständnis für das CSU-Projekt einer christlich-abendländischen Leitkultur, Exkanzler Gerhard Schröder kritisierte die SPD-Führung nach der Bundestagswahl für ihre vorübergehende klare Absage an eine Regierungsbeteiligung, Ex-SPD-Chef Franz Müntefering und der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi kritisierten die SPD-Spitze für ihren Wischiwaschi-Linkskurs.

Sozialdemokraten fangen erst an, die Lebensrealitäten der Menschen zu betrachten, wenn sie nicht mehr im Amt sind.

Markus Blume, CSU-Generalsekretär

Auch Gabriel selbst hatte bereits Verständnis für die deutsche Leitkultur sowie die Forderung der CSU nach einer Senkung des Kindergelds für Migrantenkinder, die nicht in Deutschland leben, signalisiert. „Das ist die ganze Misere der SPD. Sozialdemokraten fangen erst an, die Lebensrealitäten der Menschen zu betrachten, wenn sie nicht mehr im Amt sind. Gabriel hat mit vielem Recht, aber seine Erkenntnis kommt zu spät“, kommentiert CSU-Generalsekretär Markus Blume dieses Phänomen.

Attacke auf „Political-Correctness“-Ideologie

Macht das Ausscheiden aus SPD-Führungsämtern und eine wachsende Distanz zum Willy-Brandt-Haus klüger? Fast scheint es so. Im Tagesspiegel bezeichnet Gabriel „Politcal Correctness“-Ideologie als „Schließen der Augen vor unbequemen Realitäten aus Sorge, falsch verstanden zu werden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, aus Mutlosigkeit oder Rücksichtnahme und leider oft auch aus Gleichgültigkeit“. Weiter schreibt Gabriel: „In diesem Sinn erleben wir hoffentlich gerade das Ende der Zeit ,politischer Korrektheit‘. Schlimm genug, dass uns die Rechtspopulisten zwingen, über Teile der Wirklichkeit zu reden, die wir bislang gern im liberalen Diskurs ausgeblendet haben oder von denen wir dachten, wir könnten sie im Stillen bewältigen. Wir sind diesen Teilen der deutschen (und europäischen) Wirklichkeit zu lange ausgewichen.“

Der größere Teil der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten begegnet dieser Wirklichkeit im eigenen Lebensalltag nicht.

Sigmar Gabriel, ehemaliger SPD-Vorsitzender

Als Grund für diese Ignoranz gegenüber den Folgen der starken Immigration nennt Gabriel den Umstand, dass „der größere Teil der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten dieser Wirklichkeit im eigenen Lebensalltag nicht begegnet. Das war bequem für uns und für die, die wir haben gewähren lassen. Und immer unbequemer für die, die in ihrem Lebensalltag nicht die Chance hatten, auszuweichen“. Gabriel feuert eine regelrechte Breitseite auf die linksideologische politische und mediale Elite ab – sie sei „biografisch, räumlich und intellektuell“ weit von den Sorgen der einfachen Leute entfernt: „Unsere Kinder gehen zumeist nicht in Kitas und Schulen mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil, wir gehen nicht nachts über unbewachte Plätze oder sind auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, leben nicht in der Rigaer Straße in Berlin und wenn wir zum Arzt gehen, bekommen wir schnell Termine und Chefarztbehandlung selbst dann, wenn wir Kassenpatienten sind. Und vor allen Dingen: Wir ahnen nicht, wie man sich fühlt, wenn man jeden Tag arbeiten geht und trotzdem nicht vorankommt. Oder wie es ist, nach 45 Jahren Arbeit mit weniger als 1000 Euro im Monat klarkommen zu müssen.“

Gabriels Lob für Jens Spahn

In diesem Zusammenhang bezeichnet Gabriel die Aussagen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur inneren Sicherheit und den staatlichen Kontrollverlust im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015/16 als „richtig und notwendig“. Man dürfe Spahns Kritik nicht einfach mit dem Hinweis darauf abtun, dass das staatliche Handeln in vielen Bereichen sehr gut funktioniere, sondern müsse auch auf die „schwierigen Realitäten“ in den Migrantenvierteln hinweisen. In diesem Zusammenhang lobt Gabriel ausdrücklich den früheren Bezirksbürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky, den Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski (beide SPD) wie auch die Verantwortlichen der Essener Tafel – „denen wir Dank und keine staatlich verordnete Kritik schulden“, so der frühere Außenminister.