Eine spezifisch deutsche Kultur sei „jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“, schrieb Özoğuz in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. „Schon historisch haben eher regionale Kulturen, haben Einwanderung und Vielfalt unsere Geschichte geprägt. Globalisierung und Pluralisierung von Lebenswelten führen zu einer weiteren Vervielfältigung von Vielfalt.“
Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.
Aydan Özoguz, SPD, Integrationsbeauftragte
Die kürzlich von Innenminister Thomas de Maizière genannten Punkte und die Anfang 2016 von der CSU genannten zehn Grundregeln findet die SPD-Politikerin (ihre Eltern waren türkische Gastarbeiter) also anscheinend nicht gut. Darunter waren etwa die Ablehnung von Antisemitismus, Burka, Kinderehen und Parallelgesellschaften sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch im gesellschaftlichen Umgang (Hand geben, Schwimmunterricht). Wichtig ist danach auch, dass Deutsch gesprochen wird und dass das Christentum nicht nur die Landschaft, sondern auch die Gesetze prägte.
Özoguz gegen die Leikultur
Schon die Debatte über eine Leitkultur, nach ihrer Ansicht ein „ideologischer Kampfbegriff“, hält Özoguz aber für obsolet: „Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschsein.“ Doch diese Debatte ist längst im Gang. Ob die Teilnehmer darüber erfreut sind, indirekt von Özoguz als „lächerlich“ und „absurd“ bezeichnet zu werden, bleibt fraglich.
Kulturelle Regeln sind laut der Integrationsbeauftragten „einem steten Wandel“ unterworfen und müssten „permanent“ ausgehandelt werden. „Fragen Sie mal Frauen, Mütter, Jugendliche, Homosexuelle oder Menschen mit Behinderungen, was sie von einer rechtlichen Konservierung einer Leitkultur der 1950er Jahre halten würden!“ Die oben genannten Regeln jedoch sollten im Gegensatz zu überkommenen Ansichten aus den 50er Jahren auch in 100 Jahren noch gelten – das ist jedenfalls zu hoffen.
Das Hohelied der Vielfalt
Auch wenn es manchen zu kompliziert sei, sei Deutschland „vielfältig“, so Özoguz. „Diese kulturelle Vielfalt ist auch anstrengend, aber sie macht die Stärke unserer Nation als eine offene Gesellschaft aus. Die Beschwörung einer Leitkultur schafft dagegen nicht Gemeinsamkeit, sondern grenzt aus. Sie gießt Öl ins Feuer, um sich selbst daran zu wärmen.“ Daher brauche es keine Leitkultur, sondern „einen Gesellschaftsvertrag mit den Werten des Grundgesetzes als Fundament und gleichen Chancen auf Teilhabe als Ziel“, meinte Özoğuz. Burkas findet sie anscheinend nicht so schlimm, das beinhaltet jedenfalls ihr Satz: „Innerhalb dieses Rahmens haben wir die Grundfreiheiten, nach der eigenen Fasson glücklich zu werden. Da darf es keine Rolle spielen, wer was glaubt, liest, hört oder anzieht.“
Einwanderern kann man keine Anpassung an eine vermeintlich tradierte Mehrheitskultur per se verordnen.
Aydan Özoguz
Man könne den Einwanderern auch „keine Anpassung an eine vermeintlich tradierte Mehrheitskultur per se verordnen“, warnte die SPD-Politikerin. Eine Begründung für diese Behauptung liefert sie allerdings nicht. Man dürfe den Migranten auch nicht unterstellen, sie benötigten „Nachhilfeunterricht“, weil sie außerhalb des hiesigen Wertesystems stünden. Auch hier fehlt letztlich die Begründung, warum man Einwanderern nicht beibringen soll, was in Deutschland üblich und vorgeschrieben ist. Özoguz fragt lediglich, ob wir „ernsthaft behaupten“ wollten, dass es das Leistungsprinzip nur in Deutschland gebe und nur wir „Bildung als Wert“ sehen würden. Was sie vergisst: In vielen islamischen Ländern wird das tatsächlich anders gesehen, dort geben die Männer den Ton an und sagen, welche Leistung die Frauen zu erbringen haben. Bildung ist dort ebenfalls oft nur den Männern vorbehalten.
Erwartungen an die Einwanderer
Erwartungen gebe es laut Özoguz trotzdem an die Einwanderer, aber kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild, wie etwa „geschichtliches Verständnis von der neuen Heimat und deren Verfassungsprinzipien“ sowie „Respekt vor einer lebendigen Streitkultur, die auf Widerspruch, Meinungsvielfalt und Verständigung setzt“. Am Ende fordert sie ein „Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln“ und „interkulturelle Öffnung in allen Bereichen“. Weiter schlägt sie vor, Einbürgerungen zu erleichtern. „Genauso erwarten wir aber auch von jeder und jedem die klar erkennbare Anstrengung, teilhaben zu wollen und sich einzubringen“, fügt sie dann noch an.
Bevölkerung will Leitkultur
Die Bevölkerung sieht es anders. Die Leitkultur der einheimischen Bevölkerung wollten Ende 2016 in Bayern 87 Prozent der Befragten zum verbindlichen Maßstab für die Integration machen, das ergab eine Umfrage der CSU-Landtagsfraktion. Sogar 95 Prozent der befragten SPD-Wähler und 78 Prozent der Grünen-Wähler waren dafür. Im Mai 2017 fiel das Ergebnis bei einer dimap-Umfrage im Auftrag des Bayernkurier für ganz Deutschland nicht viel anders aus: 85 Prozent der Befragten sind der Meinung, Einwanderer, die dauerhaft in Deutschland bleiben wollen, sollten sich an der deutschen Leitkultur – also an Werten und Grundsätzen des Zusammenlebens in Deutschland, die über Sprache und Verfassung hinausgehen – orientieren. Am geringsten ist die Zustimmung zu dieser Meinung bei den Anhängern der Linken (71 Prozent) und am größten ist sie bei CDU/CSU-Anhängern (91 Prozent).
Noch eine Initiative
Anlass für ihren Gastbeitrag, das macht Özoguz in ihrer Einleitung deutlich, sind die 15 Thesen (siehe Kasten unten), die die „Initiative kulturelle Integration“ jetzt unter der Überschrift „Zusammenhalt in Vielfalt“ in Berlin vorgestellt und der Bundeskanzlerin überreicht hat. Die Initiative empfiehlt den Thesenkatalog nur als Richtwert für ein gesellschaftliches Miteinander, nicht als politische Vorgabe. Initiatoren sind der Deutsche Kulturrat, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das Bundesministerium des Innern, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales – und Özoguz.
Wenn Streitkultur wichtig ist, kann Leitkultur nicht so schlimm sein.
Thomas de Maizière
Da ist es keine Überraschung, dass der Begriff „Leitkultur“ bewusst nicht verwendet wurde, weil er „politisch verbrannt“ sei, so der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann. Der ist ausweislich seiner Homepage auch SPD-Mitglied, seit 1986. Der Begriff Leitkultur „spalte, statt zusammenzuführen“, behauptete auch Zimmermann. Deshalb habe sich die Initiative nach einem Krisentreffen wegen der Äußerungen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière entschieden, den Ausdruck nicht aufzunehmen. Sie spricht von „unverrückbaren kulturellen Werten“.
Die Leitkultur
Die CSU benutzt diesen Begriff schon seit mehreren Jahren. Und bereits im Jahr 2000 hatte sich der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz für eine freiheitlich demokratische Leitkultur ausgesprochen und eine Änderung des Einwanderungsrechts gefordert – übrigens mit einer Aufnahme-Obergrenze von nicht mehr als 200.000 Ausländern pro Jahr. 2005 bedauerte Bundestagspräsident Norbert Lammert den Abbruch der von Merz angestoßenen Debatte.
Der Bundsinnenminister war offenbar nicht zufrieden mit der Initiative, das zeigten seine eigenen zehn Punkte, aber auch seine Äußerungen bei der Thesenvorstellung. „Wenn Streitkultur wichtig ist, kann Leitkultur nicht so schlimm sein“, so de Maizière. Das Grundgesetz allein reiche für ein gutes gesellschaftliches Miteinander nicht aus. „Warum? Weil Gesetze natürlich zu wenig sind, um uns in einem fremden Land zurechtzufinden. Sogar als Tourist. Wir wollen Kultur erleben. Und die finden wir nicht in Gesetzen. Warum sollten wir also für Menschen, die lange Zeit hier bleiben, weniger bereithalten, als für uns selbst, wenn wir nur kurze Zeit in einem fremden Land sind.“
15 Thesen zur kulturellen Integration:
- Das Grundgesetz als Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland muss gelebt werden.
- Das alltägliche Zusammenleben basiert auf kulturellen Gepflogenheiten.
- Geschlechtergerechtigkeit ist ein Eckpfeiler unseres Zusammenlebens.
- Religion gehört auch in den öffentlichen Raum.
- Die Kunst ist frei.
- Demokratische Debatten- und Streitkultur stärkt die Meinungsbildung in einer pluralistischen Gesellschaft.
- Einwanderung und Integration gehören zu unserer Geschichte.
- Die freiheitliche Demokratie verlangt Toleranz und Respekt.
- Die parlamentarische Demokratie lebt durch Engagement.
- Bürgerschaftliches Engagement ist gelebte Demokratie.
- Bildung schafft den Zugang zur Gesellschaft.
- Deutsche Sprache ist Schlüssel zur Teilhabe.
- Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nie abgeschlossen.
- Erwerbsarbeit ist wichtig für Teilhabe, Identifikation und sozialen Zusammenhalt.
- Kulturelle Vielfalt ist eine Stärke.
Mitglieder der Initiative kulturelle Integration sind u.a.:
ARD, ZDF, Immigrantenverbände, Arbeitgeberverbände, Deutsche Bischofskonferenz, DGB, Journalisten-Verband, die Kommunalverbände, Naturschutzring, Deutscher Olympischer Sportbund, Evangelische Kirche, Koordinationsrat der Muslime, Kultusministerkonferenz und der Zentralrat der Juden.