CSU-Chef Horst Seehofer beim Interview mit dem Bayernkurier. (Foto: Anja Schuchardt)
Horst Seehofer

„Mein Leitmotto lautet: zuhören, nachdenken, entscheiden.“

Interview Ministerpräsident Horst Seehofer erläutert im Gespräch mit Bayernkurier-Chefredakteur Marc Sauber seine Pläne für die zweite Hälfte der Legislaturperiode, zieht eine Zwischenbilanz von seiner Dialogtour durch Bayern und kritisiert den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei. Zudem nennt er Eckpunkte seiner Rentenoffensive und sagt den Landwirten Unterstützung zu.

Horst Seehofer krempelt die Ärmel hoch, mit einer großen Themen- und Dialogoffensive. Warum gerade jetzt?

Weil nach meiner Erfahrung Wahlen in dem Jahr vor dem eigentlichen Wahltag entschieden werden. So war es auch 2013, da wurden die Grundlagen für unseren Wahlerfolg bereits 2012 gelegt. Im Wahlkampf kann man dann noch ein Sahnehäubchen oben drauf setzen, aber was Sie in den Jahren davor versäumt haben, können Sie nicht mehr nachholen. Und was Sie falsch gemacht haben, können Sie nicht mehr korrigieren. Deshalb ist das Jahr 2016 für die Wahljahre, die vor uns stehen, sehr entscheidend.

Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, lauten Ihre thematischen Schlagworte – ganz konkret, welche Projekte möchten Sie anpacken?

Bei der Freiheit müssen wir vor allem sehen, dass die Reglementierung und Bürokratie, die uns ja im Alltag beeinträchtigen, ständig zunehmen. Hier müssen wir Raum für die Ideen und die Kraft der einzelnen Menschen lassen, die wesentlich mehr Positives bewirken, als jede staatliche Planbürokratie. Bei der Gerechtigkeit wollen wir insbesondere die Interessen der bürgerlichen Mitte im Auge haben. Die rechtschaffenen Bürger, die jeden Tag in die Arbeit gehen, sich um ihre Familie kümmern, dafür sorgen, dass ihre Kinder für das Leben vorbereitet sind und die daneben oft auch noch wichtige Ehrenämter in unserer Gesellschaft ausüben, die müssen gerecht behandelt werden. Beim Thema Sicherheit geht es natürlich um die wichtigste Aufgabe des Staates gegenüber seiner Bevölkerung: Gesundheit, Leib und Leben sowie das Eigentum der Menschen zu schützen. Aber es geht mittlerweile auch um eine Sicherheit im umfassenden Sinne: Sicherheit im Alter, Sicherheit bei Krankheit, Sicherheit bei Pflegebedürftigkeit. Die drei Schlüsselbegriffe Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit bedingen sich gegenseitig. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Insgesamt bilden diese Begriffe ein tragfähiges, geistiges Fundament für viele Einzelprojekte von CSU und Staatsregierung, die  in den nächsten Monaten entwickelt werden.

Beim Thema Sicherheit geht es natürlich um die wichtigste Aufgabe des Staates gegenüber seiner Bevölkerung. Gesundheit, Leib und Leben sowie das Eigentum zu schützen. Aber es geht mittlerweile auch um eine Sicherheit im umfassenden Sinne: Sicherheit im Alter, Sicherheit bei Krankheit, Sicherheit bei Pflegebedürftigkeit.

Horst Seehofer

Ein großes Thema ist die Rentenreform. Was erhoffen Sie sich hier?

Da geht es um die Antwort auf die Frage, wie wir Sicherheit im Alter gewährleisten können. Das betrifft vor allem die nächsten 10 bis 20 Jahre. Wir haben in dieser Zeit in der gesetzlichen Rentenversicherung ein sinkendes Rentenniveau. Darunter leiden vor allem Frauen, insbesondere Frauen, die Kinder großgezogen haben. Wir haben auf der anderen Seite eine völlig unzulängliche private Altersvorsorge und wir haben drittens eine relativ attraktive, soziale Grundsicherung im Alter, die oft höher ist, als das was viele in der gesetzlichen Rentenversicherung an Rente erreichen. Deshalb müssen wir eine Lösung für dieses Zukunftsproblem finden, das wird eine der Herkulesaufgaben bis zur Sommerpause. Ich erlebe, wie bei jeder großen Reformdiskussion, dass es wieder lauter Bedenkenträger gibt, die nur sehr oberflächlich an das Thema herangehen. Aber ich bin jetzt, zum Zeitpunkt dieses Interviews, froh, dass keine wesentliche politische Kraft in unserem Land den Handlungsbedarf verneint. Alle sagen ja, da muss etwas geschehen.

Bedenken gibt es bei der Finanzierung. Angesichts des demografischen Wandels, wie soll eine Rentenerhöhung finanziert werden?

Der finanzielle Aufwand für die Alterssicherung der Zukunft, wenn sie denn massenhafte Altersarmut vermeiden soll, ist immer gleich. Die Frage ist nur die Aufteilung. Welchen Anteil trägt die betriebliche und welchen Anteil die private Altersvorsorge? Welchen Anteil trägt die gesetzliche Rentenversicherung und welchen Anteil tragen die Steuerzahler? Es gibt ja auch einen Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung. Ich sage es bewusst noch einmal: Die Summe der finanziellen Aufwendungen ist immer gleich, wenn man das politische Ziel bejaht, die Altersarmut zu vermeiden. Es geht nur um die Frage, welchen Beitrag erbringt welches System? Eine private Altersvorsorge zahlt man vorwiegend selbst, bei der gesetzlichen Rentenversicherung sind Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Staat die Finanziers und bei der betrieblichen Altersversorgung überwiegend die Unternehmen. Im Wesentlichen geht es nun darum, welche Säule in Zukunft welchen Beitrag bringt. Wenn mehr als die Hälfe der Beschäftigten keine private Altersvorsorge zumindest im Sinne von Riester-Verträgen betreiben, oft weil sie sich diese Vorsorge nicht leisten können, dann fällt hier eine wesentliche Komponente weg. Das sinkende gesetzliche Rentenniveau soll ja nach der Theorie durch private Altersvorsorge ersetzt werden. Wenn diese aber nicht betrieben wird, gibt es in nicht wenigen Fällen die Gefahr, dass man im Alter in die Sozialhilfeabhängigkeit kommt. Wir müssen uns unter anderem die Frage stellen, was der eigentliche Grund dafür ist, dass die private Altersvorsorge völlig unzureichend ist und oft auch in völlig unzureichender Höhe abgeschlossen wird. Jetzt wird das Ganze ja auch noch angeheizt durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die die Erträge der Vorsorgeanlage sozusagen stufenweise enteignet.

Die Summe der finanziellen Aufwendungen ist immer gleich, wenn man das politische Ziel bejaht, die Altersarmut zu vermeiden. Es geht nur um die Frage, welchen Beitrag erbringt welches System?

Horst Seehofer

Sie sprechen sich also auch für den Fortbestand der privaten Altersvorsorge aus? Manche haben Ihre Aussage „die Riesterrente ist gescheitert“ so verstanden, dass Sie grundsätzlich gegen die private Rentenversorgung seien.

Wenn nicht einmal die Hälfte der Beschäftigten eine Riester-Rente abgeschlossen hat, dann kann man ja nicht sagen, es war ein Erfolg. Also muss man sich Gedanken machen, was ist erforderlich und was kann man machen, um für die Menschen in Zukunft mehr Vorsorge zu erreichen. Dann muss man sich auch mit dem Gedanken beschäftigen, dass es für Viele nicht möglich sein wird, drei oder vier Prozent ihres Einkommens regelmäßig für die private Vorsorge abzuzweigen. Was muss der Staat hier tun? Gibt es bessere Fördermöglichkeiten oder lösen wir das Problem dann stärker über die gesetzliche Rentenversicherung? Oder über die betriebliche Altersvorsorge? Das muss objektiv und intensiv durchleuchtet und dann entschieden werden. Wir brauchen jetzt die reformatorische Kraft und nicht erst dann, wenn die Altersarmut für jeden greifbar ist. Wir haben jetzt schon über eine Million Menschen, die von der sozialen Grundsicherung leben! Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie arbeiten ein ganzes Leben lang und bekommen am Ende vielleicht im Monat 50 Euro mehr als derjenige, der nie Beiträge bezahlt hat und die soziale Grundsicherung bekommt. Glauben Sie mir, das wird Unruhe in der Bevölkerung hervorrufen. Also, hier steht ein sehr komplexes Reformvorhaben an, ich warne vor dem Errichten von Tabus und vor oberflächlichen Schnellschüssen.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie arbeiten ein ganzes Leben lang und bekommen am Ende vielleicht 50 Euro mehr als derjenige, der nie Beiträge bezahlt hat und die soziale Grundsicherung bekommt. Glauben Sie mir, das wird Unruhe in der Bevölkerung hervorrufen.

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Die innere Sicherheit ist für Sie ebenfalls von zentraler Bedeutung. Welche Rolle spielen da die Grenzkontrollen?

Eine staatliche Gemeinschaft muss immer ihre Bürger schützen, auch durch Grenzkontrollen. Sicherheit beginnt durch Kontrollen an der Grenze. Nun war es ja die große Errungenschaft, dass sich viele europäische Staaten darauf verständigt haben, den sogenannten „Schengen-Raum“ einzurichten, mit der Kontrolle an den Außengrenzen der Europäischen Union. Soweit zur Idealvorstellung. So wäre es auch ideal, wenn an diesen Außengrenzen der Status eines Flüchtlings verfahrensmäßig entschieden und die anerkannten Flüchtlinge dann gerecht in ganz Europa verteilt würden. Aber dieser Idealzustand existiert leider nicht, die EU-Außengrenzen werden nicht geschützt. Also müssen die Binnengrenzen kontrolliert werden, vor allem aus Sicherheitsgründen. Das ist die Verpflichtung des Staates. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung rufen, dass die Kontrollen, die wir im Zusammenhang mit dem G7-Gipfel in Elmau durchgeführt haben, in wenigen Wochen tausende von Rechtsverletzungen aufgedeckt haben. Der Bedarf an Kontrolle ist zweifelsfrei da, noch dazu bei der Bedrohungslage, die wir derzeit haben.

Wie passt dazu das Verhalten des Bundesinnenministers, der die Grenzkontrollen zurückfahren will?

Das kann uns nicht zufriedenstellen, das haben wir deutlich zum Ausdruck gebracht. Vor allem weil Thomas de Maizière auch sehr dazu neigt, immer darauf hinzuweisen, dass er dies allein zu entscheiden hat. Aber wir leben in einem föderalen Staat und da muss man die Interessen der betroffenen Bundesländer schon ernst nehmen. Das heißt, man sollte das Gespräch suchen, bevor man so eine Entscheidung verkündet. Bayern ist mit Abstand am stärksten betroffen, deshalb muss man solche Entscheidungen mit Bayern treffen und nicht gegen uns.

Man hört Unterschiedliches zu den Grenzkontrollen. Die einen sagen, die Wirtschaft werde durch sie ausgebremst. Jüngst hat das Ifo-Institut genau das Gegenteil verkündet: Die Kosten für eine unkontrollierte Zuwanderung seien viel größer. Wer hat Recht?

Manchmal braucht man nicht einmal ein Institut, da reicht der logische Menschenverstand, um zum richtigen Urteil zu kommen. Es ist doch völlig selbstverständlich, eine unbegrenzte Zuwanderung ohne jedes System, ohne jede Regel, ohne jede Kontrolle löst massive Folgekosten aus! Die Reparatur ist viel teurer, als wenn man die richtige  Vorsorge betreibt. Das gilt ja fast für alle Lebensbereiche, für die Bildung, im Besonderen für die Gesundheit und das ist bei der Zuwanderungspolitik nicht anders. Ich bin dankbar für solche wissenschaftlich fundierten Belege, aber eigentlich sagt uns dies bereits der logische Verstand.

Erfolg und Neid sind ein Geschwisterpaar.

Horst Seehofer

In Berlin sieht man das anders.

In Berlin sieht man alles anders! Wenn etwas aus Bayern kommt, wird das in Berlin schon mal von vorherein mit großer Skepsis betrachtet. Was oft nicht an der Sache selber liegt, sondern schlichtweg daran, dass wir seit langer Zeit ein höchst erfolgreiches Land sind. Man muss da einfach der Tatsache ins Auge sehen, Erfolg und Neid sind ein Geschwisterpaar.

Was sagen Sie den langjährigen CSU-Wählern, die jetzt sagen, „wenn ich CSU wähle, dann wähle ich damit auch Angela Merkel und ihre Flüchtlingspolitik“?

Diese Aussage begegnet mir ungewöhnlich häufig. Das muss man auch ernst nehmen, weil wir damit für etwas in Haftung genommen werden, was wir nicht zu vertreten haben und auch nie für richtig gehalten haben. Trotzdem bleibe ich bei der Linie, dass wir als CSU versuchen, in die CDU hineinzuwirken, um möglichst viele unserer politischen Überzeugungen zum Tragen zu bringen. Wenn Sie die Flüchtlingspolitik anschauen, ist von der im letzten September definierten, unbedingten Willkommenskultur ja nichts mehr da. Die Bundesregierung hat ihre Zuwanderungspolitik radikal verändert. Es entspricht meiner politischen Erfahrung, dass diese radikale Veränderung öffentlich nie eingeräumt werden wird. Das ist nun einmal so, bei vielen Politikern. Aber die Menschen registrieren, dass es so ist. Es ist inzwischen auch in Berlin erkannt worden, dass man nicht Jahr für Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen kann. Ich bleibe bei der Größenordnung von 200.000, das ist jährlich eine Zahl, die in unserer Gesellschaft mit 80 Millionen Einwohnern gut zu verkraften ist. Da gelingt Integration, da lösen wir keine schwerwiegenden Sicherheitsprobleme aus und das ist auch finanzierbar, ohne Schulden und ohne Steuererhöhungen. Übrigens verdanken wir den Rückgang der Flüchtlingszahlen in allererster Linie unseren österreichischen Nachbarn und den anderen Ländern auf der Balkanroute, wie Mazedonien. Wir profitieren davon, dass andere Länder das tun, was wir in Deutschland hätten machen müssen. All das, was wir im letzten halben Jahr erlebt haben, die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft, das Aufwachsen einer Partei rechts von der Union, die Zerrissenheit Europas, die riesigen Finanzierungs- und Integrationsprobleme, war absolut vermeidbar. Wenn man schon im September auf uns gehört und so gehandelt hätte, wie man es jetzt tut, wäre es zu all dem nicht gekommen.

Trotz der aktuellen Differenzen, werden CDU und CSU bis 2017 wieder eine feste Einheit bilden?

Ja. Ich glaube, wir haben immer dann den größten Erfolg, wenn CDU und CSU zusammenwirken, wenn es nicht nur eine Scheinharmonie ist, sondern eine wirklich von den Personen und von den Inhalten getragene Harmonie. Scheinbündnisse haben wir in der deutschen Politik schon oft erlebt. 1998 war es das Trio Lafontaine, Müntefering und Schröder. Das ist kurz nach der Wahl dann auseinandergeflogen, durch die Flucht von Lafontaine und dann später durch die Spaltung der SPD. Darum lege ich weniger Wert auf Scheinharmonie, sondern auf eine tragfähige Harmonie. Und zu dieser tragfähigen Harmonie gehört eine gemeinsame inhaltliche Ausrichtung bei all den Zukunftsfragen, die für unser Land wichtig sind. Viele aus der bürgerlichen Mitte klagen ja darüber, dass sie in dem Parteienspektrum Deutschlands derzeit keine politische Heimat mehr haben. Diese Heimat müssen wir in der Union wieder bieten und zwar nicht, indem wir nur behaupten, wir seien die politische Mitte, sondern indem wir dies auch inhaltlich unterfüttern! Es geht um eine kluge Wirtschafts-, Sicherheits- und Gesellschaftspolitik, es geht um den richtigen Umgang mit unserer Schöpfung, mit der Natur und um die Bedeutung der Kultur. Das alles gehört zusammen und nur ein attraktiver, auch die Gefühle der Menschen aufnehmender Gesellschafts- und Zukunftsentwurf wird uns in der politischen Mitte wieder glaubwürdiger platzieren. Dann würde auch die Klage wieder verstummen, wenn wir CSU wählen, wählen wir Angela Merkel.

Wie wollen Sie wieder zueinander finden?

Ich glaube, wir können uns nur über die Inhalte und Themen definieren. Das müssen wir auch, deshalb gehen CSU und CDU ja auch gemeinsam Ende Juni in Klausur, wenn die CDU nicht schon jedes Thema vorher zum Tabu erklärt. Wenn man die vielen Themen, die die Menschen interessieren, bei denen die Menschen auf Antworten warten, einfach ausblendet, dann darf man sich nicht wundern, dass sich die Menschen anderen politischen Gruppierungen zuwenden. Die Bevölkerung will wissen, wie wir die Probleme in Deutschland lösen und wie wir in die Zukunft gehen. Das bedeutet: gute Inhalte sind die beste Prävention gegenüber radikalen Gruppierungen.

Nur ein attraktiver, auch die Gefühle aufnehmender Gesellschafts- und Zukunftsentwurf wird uns in der politischen Mitte wieder glaubwürdiger platzieren. Dann würde auch die Klage wieder verstummen, wenn wir CSU wählen, wählen wir Angela Merkel. Ich glaube, wir können uns nur über die Inhalte und Themen definieren.

Horst Seehofer

Der Türkei-Flüchtlingsdeal ist so ein Thema, das die Menschen umtreibt. Die neue dimap-Umfrage im Auftrag des Bayernkuriers besagt: 80 Prozent der Bayern halten die Türkei für keinen verlässlichen Partner.

Das zeigt, dass die Bayern ein kluges Volk sind, weil es ja auch in vielerlei Hinsicht stimmt! Man kann doch nicht im Ernst davon reden, dass die Türkei mit ihrer inneren Statik, mit ihrem Umgang mit Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, ohne unabhängige Justiz, dass dieses Land ein Partner ist, von dem man sich in der Zukunft abhängig machen kann. Ich bin nicht dagegen, dass man auch mit solchen Ländern spricht und zusammenarbeitet, aber ich bin dagegen, dass man sich von solchen Ländern abhängig macht! Da wird auch oft mit zweierlei Maß gemessen. Wenn ich mit Ungarn oder Russland auch nur rede, dann bekomme ich heftige Vorwürfe. Und dann schließen genau die, die mich dafür kritisieren, mit der Türkei Verträge. Wissen Sie, der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Unsere Grundüberzeugung und unsere Grundwerte müssen schon der Maßstab auch für unser internationales Handeln bleiben. Wenn der türkische Präsident beispielsweise seinem Verfassungsgericht androht, es würde aufgelöst, falls es nicht in seinem Sinne urteilt, dann kann ich nur sagen, äußerste Vorsicht! Vor dem Gesamtpaket, das die Europäische Union gerade geschnürt hat beziehungsweise beschleunigt umsetzen will, kann ich nur warnen. Denn dazu gehört ja nicht nur die Zahlung von sechs Milliarden Euro an die Türkei, sondern auch die völlige Reisefreiheit, also die Visafreiheit für alle Türken, die dazu führen kann, dass die innertürkischen Probleme nach Deutschland importiert werden, und dann steht auch noch der volle EU-Beitritt der Türkei im Raum, der für mich von vornherein überhaupt nicht in Frage kommt. Wenn ich die Beitrittsverhandlungen beschleunige, dann kann ich ja nicht am Ende des Beschleunigungsvorgangs sagen, es war alles ein Irrtum, wir wollen euch gar nicht in der EU. Wer das beschleunigt, der sendet damit doch auch die Botschaft, dass er den Beitritt will. Und den wollen wir von der CSU ganz klar nicht!

Insgesamt spürt man, die Menschen in Deutschland haben immer weniger Lust auf Europa, viele zeigen sich enttäuscht. Wie kommt man aus diesem Dilemma wieder raus?

Das liegt nicht an den Menschen, sondern an Europa. Ich hatte nach der letzten Europawahl eine riesengroße Hoffnung, dass man die bürokratische Vergangenheit hinter sich lässt und zu den Grundideen der Gründerväter zurückkehrt. Dass man sich also auf die großen Aufgaben besinnt, wie die Zuwanderungsfrage, die Bekämpfung der Fluchtursachen, den Klimaschutz, die Ressourcenknappheit auf der Welt, die ökologische Bedrohung, die Bekämpfung der internationalen Kriminalität. Die EU sollte sich auf diese großen Fragen konzentrieren, aber genau hier ist sie nur sehr eingeschränkt erfolgreich.

Auf der einen Seite steht diese Regelungswut, die Wut zur Bürokratie in den kleinsten Lebensbereichen und auf der anderen Seite werden die großen Aufgaben vernachlässigt.

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Die Fluchtursachen beispielsweise sind seit Jahren nicht bekämpft worden. Ich frage mich auch, warum den Griechen nicht früher geholfen wurde, beim Schutz der Außengrenzen, sondern erst jetzt und das auch nur scheibchenweise. Auf der anderen Seite werden wir täglich überschwemmt von Richtlinien, Paragraphen, Reglementierungen in allen Lebensbereichen. Nach der Europawahl 2014 glaubte ich, wenigstens damit sei es vorbei, aber das ist es leider nicht. Auf der einen Seite steht diese Regelungswut, die Wut zur Bürokratie in den kleinsten Lebensbereichen und auf der anderen Seite werden die großen Aufgaben vernachlässigt. Darin liegt der eigentliche Grund für die Verdrossenheit.

Auch bei Ihnen?

Wenn ich mir das Verhalten der EU-Kommission bei der Maut anschaue, kann ich jedenfalls nur den Kopf schütteln. Das ist ja auch eines dieser großen Themen, die für uns wichtig sind, um die Gerechtigkeit auf unseren Straßen herzustellen. Da werden wir von der EU mit Argumenten konfrontiert, die man einfach nicht mehr nachvollziehen kann. Wissen Sie, wenn die EU, damit die KFZ-Halter in Deutschland nicht zusätzlich belastet sind, uns verweigern will, dass wir die KFZ-Steuer hier im Land entsprechend senken, aber gleichzeitig sagt, die Mineralölsteuer könnt ihr senken, oder ihr könnt auch die Pendlerpauschale erhöhen, dann fehlt mir jedes Verständnis dafür. Da geht es dann nur noch um Rechthaberei.

In Belgien scheint ein vergleichbares Modell möglich zu sein.

Richtig, bei den Lastwagen in Belgien ist es so. Die Fahrzeugsteuer wird gesenkt und im Gegenzug eine Lkw-Maut eingeführt. Da höre ich nichts von Problemen mit der EU. Das ist alles so widersprüchlich, dass es auch für einen normalen Bürger, der sich nicht jeden Tag mit dem EU-Recht befasst, deutlich ersichtlich ist, dass die Glaubwürdigkeit der EU auf der Strecke bleibt.

Und die EZB? Diese scheint derzeit zusätzliches Wasser auf die Mühlen der EU-Kritiker zu liefern.

Das kommt noch dazu! Die Politik der Europäischen Zentralbank, diese Nullzinspolitik, verursacht im Grunde eine Geldschwemme mit dem Vorwand, wir müssen die Konjunktur und die Wirtschaft am Laufen halten und eine mäßige Inflation auslösen. Das ist eine Politik, die gerade die kleinen Leute mit ihren Sparguthaben, ihrer Lebensversicherung sehr verstört. Dann die Diskussion über die Abschaffung des Bargelds! Das sind alles Überlegungen, die die Bevölkerung beschäftigen und aufwühlen, die Wasser auf die Mühlen von radikalen Parteien sind, die einfache Lösungen versprechen, die es in Wahrheit aber gar nicht gibt. Das alles zusammen, gemeinsam mit der bedrohlichen Sicherheitslage, schafft eine Stimmung gegen etablierte Parteien. Dieser Stimmung wird man nicht Herr mit einer Olympiade von Parolen, sondern nur mit guter Politik.

Lassen Sie uns auf die Landespolitik schauen. Die erste Hälfte der Legislaturperiode ist vorbei. Wenn Sie Ihrer Regierung jetzt ein Halbjahreszeugnis ausstellen würden, was würde darin stehen?

„Zufriedenstellend“ wäre zu wenig. „Sehr gut“ klänge arrogant. Also: „gut“!

Was muss in der zweiten Hälfte besser werden?

Also, dass Bayern blendend dasteht, bedarf keines näheren Beweises mehr und zwar in allen Bereichen, die für die Menschen wichtig sind. Das wird überall so gesehen. Wir müssen jetzt aber versuchen, noch besser zu werden und schlüssige Zukunftskonzepte aufzeigen. Wir brauchen für die zweite Halbzeit eine neue, umfassende Agenda. Immer nur darauf zu verweisen, dass wir die Finanzstärksten sind, die Wirtschaftskräftigsten, die sichersten Arbeitsplätze haben, das beste Bildungssystem und eine blühende Kulturlandschaft, reicht nicht. Das wäre ungefähr so, wenn sich Bayern München darin baden würde, wie oft sie Deutscher Meister geworden sind oder Champions League Sieger. Das wird zwar mit Respekt vermerkt, aber es reicht nicht zum Gewinnen in der Zukunft.

In der Bildungspolitik scheint es Handlungsbedarf zu geben, die Diskussion um G8 oder G9 ist neu entflammt. Wie wird sie ausgehen?

Wir können nicht jedes Jahr etwas Neues machen. Für mich ist die Verlässlichkeit in der Bildungslandschaft entscheidend. Wir haben jetzt ein Pilotprojekt G8/G9, bei dem in fast 50 Gymnasien erprobt wird, was wollen die Schüler, die Eltern, die Lehrkräfte, wie kann man das alles am besten organisieren. Rund zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler entscheiden sich derzeit für einen längeren Schulverlauf, das heißt aber auch, etwa ein Drittel will es in der kürzeren Zeit schaffen. Wir müssen jetzt in aller Ruhe mit den Schülervertretungen, mit den Eltern, mit den Lehrkräften und natürlich auch innerhalb der politischen Parteien das Thema besprechen. Bei uns ist es eine Eigenart, dass alle vom Dialog und von gründlicher Diskussion im politischen Raum reden, aber wehe, wenn diese dann auch stattfindet. Dann heißt es, man stehe unter Druck oder ändere permanent seine Meinung. Zu den wichtigsten Tugenden in der politischen Diskussion gehören Geduld und Gelassenheit. Beides haben wir.

Geduldig und gelassen können immer weniger Landwirte sein, sie kämpfen mit enormen Problemen. Was geben sie denen mit auf den Weg?

Das ist ein Thema, das mich von allen politischen Feldern gerade mit am stärksten beschäftigt! Weil es nicht nur die aktiven Bäuerinnen und Bauern betrifft, sondern Rückwirkungen auf den ganzen ländlichen Raum hat. Aber die Problemlösung ist nicht ganz einfach, das Thema ist unheimlich komplex, weil hier viele Einflussfaktoren eine Rolle spielen, die europäisch gesetzt werden und auch vom Weltmarkt. Dazu kommt, dass die Politik pausenlos unterwegs ist, die Bauern und Waldbesitzer noch mit weiteren Reglementierungen und Bürokratien zu überschütten. Ich wäre schon mal sehr froh und ich werde alles dafür tun, dass wenigstens dieser Teil schnell beendet wird. Zuletzt hat es beispielsweise Pläne gegeben, das Bundeswaldgesetz zu ändern. Da habe ich von Anfang an gesagt, auch wenn es mir viel Kritik eingebracht hat, da mache ich nicht mit. Ich kann doch Menschen, die ohnehin täglich um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen müssen, nicht andauernd mit neuen Reglementierungen überziehen. Das andere ist die Preisentwicklung, die in beinahe allen landwirtschaftlichen Bereichen sehr, sehr besorgniserregend ist. Da will ich auch in der Berliner Koalition von Bayern her starken Einfluss nehmen, dass darauf Antworten gefunden werden. Die Landwirtschaft ist eines der Felder, in denen die große Koalition noch ohne ausreichende Antwort ist. Das darf nicht sein.

Die Sorgen der Landwirte waren auch ein großes Thema beim Basisdialog, den Sie gestartet haben. Was haben Sie noch wahrgenommen, wo drückt die Menschen der Schuh?

Das ganz große Thema ist die Zuwanderung, mit all den Folgefragen wie Integration, Wohnungsbau, Arbeitsplätze. Dann sind es viele, viele Einzelfälle, wo der Staat dem Bürger bürokratisch gegenübertritt und Bürger sich dadurch gegängelt fühlen. In allen Dialogprozessen wird deutlich, dass wir bei der Abschaffung der Bürokratie auch in Bayern noch große Hausaufgaben zu machen haben. Wenn ich die drei Schlagworte „Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit“ hervorhebe, dann bedeutet das auch, dass die Menschen in ihrem Alltag nicht vom Staat bevormundet werden sollen. Bei der Ausübung der Freiheit sind die Paragraphen der Hauptstörer! Aber eben diese Paragraphen werden von den Politikern gemacht und da müssen wir ansetzen. Zudem treibt die Menschen um, wie es wirtschaftspolitisch, sicherheitspolitisch, sozialpolitisch weitergeht, und dann kommen auch viele Fragen zum Natur- und Landschaftsschutz. Gegen Ende der Veranstaltung kommt dann meistens noch die Frage: Wie geht es mit Bayern und Ihnen persönlich weiter?

Und was antworten Sie dann?

Wahrheitsgemäß, dass die Personalfragen jetzt in der Kühlbox liegen und wir sinnvollerweise jetzt erst einmal darauf schauen, dass die Bundestagwahl 2017 gewonnen wird.

Politiker dürfen in einer modernen Gesellschaft nie den Eindruck erwecken, die Bevölkerung würde sie beim Regieren stören. Das wäre fatal. Manche Politiker haben Angst vor der Beteiligung der Bevölkerung. Bei mir ist es genau umgekehrt, ich will diese Beteiligung.

Horst Seehofer

Wie wichtig ist aktive Bürgerbeteiligung in moderner Politik?

Für mich ist sie ein zentrales Element, mein Leitmotto lautet „zuhören, nachdenken, entscheiden.“ Politiker dürfen in einer modernen Gesellschaft nie den Eindruck erwecken, die Bevölkerung würde sie beim Regieren stören. Das wäre fatal. Manche Politiker haben Angst vor der Beteiligung der Bevölkerung. Bei mir ist es genau umgekehrt, ich will diese Beteiligung. Und wenn bei einer Beteiligung der Bürger ein Votum gegen die eigene politische Vorstellung ausfällt, dann darf man nicht die Bevölkerung beschimpfen, sondern dann lag es vielleicht daran, dass die eigenen Argumente nicht überzeugend genug waren. Manchmal waren wir sogar sehr dankbar, dass die Bevölkerung entschieden hat, weil die Politik eine Debatte nicht befrieden konnte. Wenn ich nur an das Rauchverbot denke. Da waren wir von der CSU auch nicht in der Lage, das Problem befriedend zu lösen, und dann hat es die Bevölkerung gelöst. Seitdem gibt es da keine Diskussion mehr.

Was bedeutet das für die Entscheidung über die dritte Startbahn in München?

Dass man diese Fragestellung auch nur unter Beteiligung der Bevölkerung lösen kann! Die Bevölkerung in München hat ja schon einmal darüber entschieden und die politischen Parteien in München fühlen sich zu Recht an diese Entscheidung gebunden. Ich möchte, dass wir ein Verfahren finden, dass wir dann, wenn die Entwicklung der Starts und Landungen am Flughafen dies rechtfertigt, die Bevölkerung noch einmal entscheiden lassen. Im Fall einer solchen politischen Lösung bekommen wir eine Entscheidung in absehbarer Zeit. Die Alternative wäre eine streitige Auseinandersetzung vor Gericht, die Jahre dauern würde. Jetzt frage ich mich, was ist besser? Am Ende wird es auch hier darauf ankommen, die Menschen mit Argumenten zu überzeugen und nicht mit dem Schlachtruf „mia san mia“ über deren Köpfe hinweg zu entscheiden.

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