Die neue Türkei: Polizisten verhaften diejenigen, die sich solidarisch zum Hungerstreik der willkürlich entlassenen Dozentin Nuriye Gülmen und des Lehrers Semih Özakca erklärten. (Bild: Imago/Depo Photos)
Türkei

Die Wahrheit kostet 43 Jahre

Die Kritik am türkischen Autokraten Recep Erdogan und seiner Regierung reißt nicht ab. Der jedoch verfolgt unbeirrt seinen Kurs in eine Diktatur von seinen Gnaden: Jetzt begann der Schauprozess gegen kritische Journalisten.

CSU-Chef Seehofer verlangte am Samstag beim Bezirksparteitag der CSU Oberbayern, die EU solle bis 2020 vorgesehene Zahlungen von 4,2 Milliarden Euro an die Türkei als EU-Beitrittskandidat stoppen. „Jedem muss nun klar sein, dass die Türkei für eine Vollmitgliedschaft in der EU nicht in Frage kommt“, betonte der Ministerpräsident. „Was in der Türkei seit Monaten abläuft, ist unerträglich und indiskutabel.“

Jedem muss nun klar sein, dass die Türkei für eine Vollmitgliedschaft in der EU nicht in Frage kommt.

Horst Seehofer

Ob der Türkei Hilfen als EU-Beitrittskandidat gestrichen werden können, ist laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung ohne die Beendigung der Beitrittsgespräche fraglich. Im laufenden Programm IPA II gebe es eine frühere Klausel nicht mehr, dass die Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze eine Voraussetzung für die Gewährung der Hilfen sei. Nach einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags sei daher „eine Suspendierung der Hilfe nicht möglich, solange das Beitrittsverfahren der Türkei andauert“.

Auch Bundespräsident gegen Erdogan

Im Streit zwischen Berlin und Ankara hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den türkischen Staatschef Erdogan ungewöhnlich hart kritisiert. Zugleich stellte er sich hinter den schärferen Türkei-Kurs der Bundesregierung. Die letzten Reste an Kritik „werden jetzt verfolgt, werden ins Gefängnis gesteckt, werden mundtot gemacht“, sagte Steinmeier im ZDF-Sommerinterview. „Das können wir nicht hinnehmen.“

Nach einer Emnid-Umfrage für die Bild am Sonntag sagten 76 Prozent der Befragten, dass sich die Bundesregierung von Erdogan zu viel gefallen lasse. Nur 12 Prozent sahen das nicht so. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) nannte das Verhalten Ankaras in der Bild am Sonntag ebenfalls „inakzeptabel“ und die Maßnahmen der Bundesregierung „absolut notwendig“. Er gab aber zu bedenken, dass es beim Nato-Mitglied Türkei auch um geostrategische Fragen gehe.

Ruhe gibt der türkische Diktator nicht: Im Streit mit Deutschland verbat sich Erdogan jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes. Die Türkei sei „ein demokratischer, sozialer Rechtsstaat“, sagte Erdogan. Er betonte aber zugleich die „strategische Partnerschaft“ zwischen Deutschland und der Türkei. „Es sollten keine Schritte unternommen werden, die diese Partnerschaft überschatten.“ Dabei war er es, der durch wiederholte Nazi-Vorwürfe, Bespitzelung von Deutsch-Türken, Bedrohung von Bundestagsabgeordneten und der EU die Partnerschaft aufgekündigt hat.

Erdogans Wüten gegen die Pressefreiheit

Mehr als 250 Tage nach ihrer Inhaftierung hat in Istanbul der Prozess gegen zahlreiche Mitarbeiter der regierungskritischen türkischen Zeitung Cumhuriyet begonnen. Der Auftakt in Istanbul wurde von scharfer internationaler Kritik begleitet. Reporter ohne Grenzen (ROG) nannte die Vorwürfe gegen die 17 Cumhuriyet-Angeklagten „absurd“. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) forderte ein sofortiges Ende des Verfahrens wegen angeblicher „Unterstützung von Terrororganisationen“ und die Freilassung der Inhaftierten.

Das ist wie Folter. Diese Leute werden schon bestraft, bevor sie vor Gericht kommen.

Can Dündar, Cumhuriyet-Ex-Chefredakteur

In Wahrheit versucht der türkische Diktator, die kritische Presse mundtot zu machen. Denn selbst wenn es zu keinen Haftstrafen durch die Erdogan-hörige Justiz kommen sollte, werden Journalisten künftig sehr vorsichtig mit kritischen Artikeln sein – sofern sie es nicht schon sind. Die monatelange Untersuchungshaft bis zur Erhebung einer Anklage ist in türkischen Gefängnissen eine überaus harte Zeit. Teilweise sind die Reporter, wie im Fall des inhaftierten Deutschen Deniz Yücel, sogar in Isolationshaft untergebracht oder haben seit Monaten nie einen Richter zu Gesicht bekommen. Dies widerspricht allen rechtsstaatlichen Maßstäben. Der angeklagte Cumhuriyet-Ex-Chefredakteur Can Dündar, der im Exil in Deutschland lebt. fragte im dpa-Interview: „Können Sie sich das in Deutschland vorstellen? Das ist wie Folter. Diese Leute werden schon bestraft, bevor sie vor Gericht kommen, das ist leider die Politik der türkischen Regierung. Es gibt in dem Land keine Rechtsstaatlichkeit, Erdogan steuert die Richter und Staatsanwälte. Sie sind leider alle im Griff der Regierung.“

Absurde Anklagen

Mit Erdogans Behauptung, dass die Inhaftierungen rechtsstaatlichen Prinzipien folgen würden, räumte auch das Auswärtige Amt mit ungewöhnlich deutlichen Worten auf: Journalisten würden „offenbar auf politische Anordnung aus der türkischen Regierung“ in die Nähe von Terroristen gerückt. Angeklagt sind insgesamt 17 Zeitungs-Mitarbeiter, darunter Dündar. Vor Gericht müssen sich unter anderem der derzeitige Chefredakteur Murat Sabuncu, Cumhuriyet-Herausgeber Akin Atalay und der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik verantworten. Sie sollen Terrorgruppen wie die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, die linksextreme DHKP-C oder die Gülen-Bewegung unterstützt haben. Gerade im Fall von Ahmet Sik, der die Gefahr durch die Gülen-Sekte schon 2011 öffentlich machte, als sie noch mit Erdogan verbündet war, und dafür ein Jahr in Haft saß, ist das besonders absurd.

Wir stehen vor Gericht, weil wir Journalisten sind.

Can Dündar

In der Anklageschrift wird Dündar unter anderem beschuldigt, die Blattlinie geändert zu haben. Die Zeitung habe unter seiner Führung die „Terrororganisationen“ verteidigt, heißt es. Als Indizien werden unter anderem Artikel angeführt. Etwa ein Bericht aus dem Jahr 2015, in dem die Cumhuriyet geheime Informationen veröffentlichte, die Waffenlieferungen der Regierung an islamistische Rebellen in Syrien belegen sollen. Dafür wurden Dündar und der Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül in einem anderen Verfahren schon zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Geheimnisverrats verurteilt. Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Im Fall von Sik sind es mehrere Twitter-Nachrichten, die den Konflikt zwischen der Regierung in Ankara und der PKK im Südosten des Landes thematisieren. Dündar sagte dazu: „Es ist eine Schande, dass ein Staatsanwalt in den Kurs einer Zeitung eingreifen darf. Das sollte nicht seine Aufgabe sein. (…) Uns bleibt nur, die Pressefreiheit als solche zu verteidigen; und unser Recht, die Wahrheit zu verteidigen. Wir wissen alle, dass dies ein Fall mit Symbolkraft ist. Wir stehen vor Gericht, weil wir Journalisten sind und unsere Schlagzeilen verteidigen, unsere Nachrichten, unsere Interviews, unsere Zeitung. Gegen die Zensur der Regierung.“

Bis zu 43 Jahre Haft für die Wahrheit

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) drohen den Angeklagten bis zu 43 Jahre Haft. In keinem Land der Welt sind mehr Journalisten hinter Gittern als in der Türkei, nach Angaben der Europäischen Journalistenvereinigung inzwischen mehr als 150. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 155 von 180. Bei Erdogans Amtsantritt lag sie noch auf Platz 99.

Regierungskritiker Dündar ist mit Blick auf die Lage in seiner Heimat heute dennoch optimistischer als vor einem halben Jahr. „Mehr als eine Million Menschen haben an dem Protestmarsch der Opposition und der Versammlung danach teilgenommen. Das war sehr wichtig. Über dem Land hatte zeitweise eine Wolke der Angst gehangen, jetzt werden wir viel mutiger darin, Solidarität zu zeigen – und unsere Haltung zur Regierung“, sagte er zu dpa. „Und in der Türkei selbst haben alle mitbekommen, dass die Hälfte der Bevölkerung gegen den Ausgang des Referendums war. Die Leute beginnen, den Mund aufzumachen und ihren Unmut zu zeigen. Das sind alles gute Zeichen. (…) Wir sehen Licht am Ende des Tunnels.“

Die „terrorverdächtigen“ Unternehmen

Die Türkei hat unterdessen die umstrittene Liste mit knapp 700 terrorverdächtigen deutschen Unternehmen wieder zurückgezogen. Das teilte ein Sprecher von Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Berlin mit. Der türkische Innenminister habe am Morgen in einem Telefonat mit de Maizière von einem „Kommunikationsproblem“ gesprochen. Er habe versichert, dass weder türkische Behörden in der Türkei noch in Deutschland gegen Unternehmen ermittelten, die auf einer Liste aufgeführt worden seien. Das Merkwürdige daran: Der türkische Autokrat Erdogan hatte die Berichte, wonach gegen deutsche Unternehmen ermittelt werde, als „böse Propaganda“ abgetan. Erdogan sicherte jetzt deutschen Investoren in der Türkei Schutz zu. „So, wie allen internationalen Investoren stehen auch deutschen Firmen die Türen unseres Landes und Herzen unseres Volkes sperrangelweit offen.“ Das Problem: Niemand im Westen glaubt dem Diktator auch nur noch ein Wort.