Justitia ist blind: "Wir wollten Gerechtigkeit. Und bekamen den Rechtsstaat." (Bild: imago images/HRSchulz)
Justiz

Der Rechtsstaat muss funktionieren

Interview Der Rechtsstaat steht in der Kritik, insbesondere seit den Migrationsbewegungen 2015. Im „Bayernkurier“-Interview erklärt der bayerische Justizminister Georg Eisenreich, ob diese Kritik berechtigt ist.

Bayernkurier: Auf Facebook hatte die CDU/CSU vor einigen Wochen eine Kampagne gestartet mit der Frage: „Was braucht unser Rechtsstaat?“ Diese Frage gebe ich weiter an den bayerischen Justizminister.

Georg Eisenreich: Die CSU hat immer auf einen starken Rechtsstaat gesetzt, viel in Personal und Ausstattung investiert, den Sicherheitsbehörden den Rücken gestärkt. Polizei und Justiz sind deswegen in Bayern sehr gut aufgestellt. Das erwartet die Mehrheit der Menschen auch. Sie wollen, dass der Rechtsstaat funktioniert, sie schützt und sicherstellt, dass die Regeln eingehalten werden. Dadurch kann man das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat sichern. Im Bereich der Justiz muss die hohe Qualität in der Rechtsprechung erhalten bleiben. Die Verfahrensdauern müssen möglichst kurz sein. Straftaten müssen weiterhin konsequent verfolgt und geahndet werden.

Ist der Rechtsstaat auch im Bereich der Gesetzgebung am Puls der Zeit?

Gerade haben wir 70 Jahre Grundgesetz gefeiert. Es sichert unsere Grundwerte und bildet eine stabile Basis für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das Grundgesetz ist zeitlos aktuell. Darüber hinaus brauchen wir Gesetze, die auf der Höhe der Zeit sind. Denn der Rechtsstaat muss sich immer wieder den Herausforderungen durch neue Lebenswirklichkeiten stellen. Ein Beispiel: Die Welt von morgen ist digital. Was in der analogen Welt strafbar ist, muss auch in der digitalen Welt strafbar sein. Dazu müssen die Gesetze angepasst werden. Auch brauchen unsere Ermittlungsbehörden in der digitalen Welt ausreichende digitale Befugnisse.

Sehen Sie personell noch Korrekturbedarf?

Die Gerichte und Staatsanwaltschaften sind sehr leistungsfähig, müssen aber entlastet werden. Es ist gut, dass wir beim Personal in den letzten Jahren viel machen konnten. Seit 2013 haben wir 2.000 neue Stellen geschaffen, für Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizvollzug. 2018 haben wir allein bei Richtern und Staatsanwälten 80 zusätzliche Stellen und im Unterstützungsbereich 133 Stellen eingerichtet. Da ist also viel investiert worden. Mit dem aktuellen Doppelhaushalt können wir unser hohes Niveau halten und zudem weitere Verbesserungen für die Praxis erreichen. Insbesondere werden 260 Stellen, die aufgrund von Mehrbelastung zunächst nur vorübergehend geschaffen wurden, erhalten bleiben. Darüber hinaus erwarten wir neue Stellen im nächsten Doppelhaushalt.

Kann Bayern in puncto Personal Unterstützung vom Bund erwarten?

Die Koalition in Berlin hat den „Pakt für den Rechtsstaat“ beschlossen. Ab 2017 werden bundesweit 2.000 neue Stellen im Justizbereich unterstützt. Der Bund zahlt dafür in zwei Tranchen jeweils 110 Millionen Euro. Davon erhält auch der Freistaat Bayern einen Teil. Das begrüße ich sehr. Die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel werden aber nicht ausreichen, um die Stellen dauerhaft zu finanzieren. Das müssen dann die Länder tun. Es ist also ein überschaubarer Beitrag des Bundes. Aber es ist ein guter Anlass, weiter in die Justiz zu investieren.

Rainer Wendt, der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, schreibt über „Kuscheljustiz“ und meint damit zu milde Urteile. Ist da was dran? Laut einer aktuellen Max-Planck-Studie hat der Freistaat doch die härtesten Richter. Quer durch alle Delikte werden im Schnitt um 24 Prozent oder 3,9 Monate höhere Strafen als im Bundesschnitt verhängt.

Wenn sich Rainer Wendt für den Bundesverband äußert, hat er in der Regel das gesamte Bundesgebiet im Blick. Den Freistaat Bayern hebt er meistens positiv hervor – aus gutem Grund. Denn für Bayern trifft dieser Vorwurf nicht zu. Die CSU steht in Bayern für Law and Order. Die bayerische Justiz steht für konsequente Verfolgung von Straftätern und gerechte Strafen. Unsere Staatsanwaltschaften ermitteln mit Nachdruck. Unsere Richterinnen und Richter entscheiden sehr verantwortungsvoll. Wenn von zu milden Strafen die Rede ist, darf man eines nicht vergessen: Der Gesetzgeber gibt nur den Strafrahmen vor. Über die konkrete Strafhöhe im Einzelfall entscheiden unabhängige Gerichte. Das ist gut und wichtig. Wir sehen in anderen europäischen Ländern, dass der Rechtsstaat schweren Schaden nimmt, wenn die Gerichte nicht mehr unabhängig sind.

Aber die Studie belegt auch, dass Urteile in den Bundesländern unterschiedlich ausfallen. Wie kommt so etwas zustande?

Die Gerichte treffen ihre Entscheidung in jedem Einzelfall in richterlicher Unabhängigkeit. Für Bayern kann ich jedenfalls sagen, dass unsere Staatsanwälte und Richter sehr gute Arbeit leisten, jeden Einzelfall genau prüfen und die Schuld des Täters individuell bewerten.

Also kein Kommentar zu anderen Bundesländern?

Urteile kommentiere ich nicht, die Politik schon. Wahlen haben Auswirkungen: Natürlich macht es einen Unterschied, ob man CSU oder SPD oder die Grünen wählt. Gerade in der Sicherheitspolitik machen sich die sehr unterschiedlichen politischen Haltungen und Ziele massiv bemerkbar. Für die CSU steht fest: Der Staat muss das Menschenmögliche tun, um die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Das war schon immer eine unserer Grundüberzeugungen, ein Kernthema der CSU. Deswegen haben wir im Freistaat die niedrigste Kriminalitätsrate aller Bundesländer und ein Höchstmaß an Sicherheit. Das verdanken wir einer starken Polizei und einer starken Justiz. In Bayern dulden wir weder kriminelle Clans noch No-Go-Areas und auch keine Parallelgesellschaften. Während Politiker der Linken und der Grünen regelmäßig die Polizei und die Justiz angreifen, stehen in Bayern die zuständigen Minister fest hinter der Polizei und der Justiz. Das wirkt sich aus und das spüren die Menschen unmittelbar, sie haben ein Mehr an Sicherheit.

Nach den massenhaften Straftaten an Silvester 2015 in Köln versprach man eine „harte Antwort des Rechtsstaats“ für die Täter. Jetzt kam raus, dass es bei 1.304 Strafanzeigen nur drei Verurteilungen gab, davon zwei auf Bewährung. Können Sie nachvollziehen, dass einige Bürger am Rechtsstaat zweifeln, ja verzweifeln?

Die Ereignisse in Köln waren ein Einschnitt. Die Vorfälle waren abstoßend und es ist klar, dass die Menschen nach solchen Exzessen politische und juristische Konsequenzen erwarten. Politisch ist seither viel passiert. Unsere klare bayerische Haltung – Humanität und Ordnung – hat auch bundesweit zu Erfolgen geführt. Was die juristische Aufklärung angeht, ist zu sagen: In unserem Rechtsstaat gilt die Unschuldsvermutung. Richter dürfen sich nicht von Gefühlen und Stimmungen leiten lassen. Sie müssen alle Aspekte des Einzelfalles untersuchen und können auch nur das in ein Urteil einfließen lassen, was beweisbar ist. Die Beweislage in Köln war sicherlich schwierig, die Taten geschahen aus einer Masse h­e-­­ raus. Die Vorfälle waren vor allem schweren Fehlern der dortigen Polizei geschuldet. In Bayern wäre ein solcher Exzess nicht möglich gewesen, weil unsere Polizei nicht zuschaut, sondern handelt. Unter dem neuen CDU-Innenminister Herbert Reul hat sich das auch in Nordrhein-Westfalen geändert. Diese Kölner Silvesternacht hat aber auch Defizite im Sexualstrafrecht aufgezeigt. Bayern hat bei der Strafrechtsreform 2016 vieles angestoßen, was zu wichtigen Verbesserungen geführt hat. Insbesondere sind jetzt Opfer von sexuellen Übergriffen, die aus Gruppen heraus oder durch Gruppen begangen werden, besser geschützt. Wir haben außerdem 2017 ein Sieben-Punkte-Programm zur Bekämpfung von Sexualstraftaten erarbeitet, das von Präventionsmaßnahmen über verstärkte Kontrollen der Polizei und zügiger Strafverfolgung bis hin zu konsequenter Abschiebung bei ausländischen Straftätern reicht.

Sollte man nicht gerade im Sexualstrafrecht und beim Kindesmissbrauch die Strafen noch weiter heraufsetzen, Bewährung grundsätzlich ausschließen und Verjährungs­fristen verlängern?

Sexualstraftaten, insbesondere Kindesmissbrauch, müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. Im Umgang mit gefährlichen Sexualstraftätern hat sich in den letzten 15 Jahren allgemein ein Wandel vollzogen, in der Rechtspolitik häufig durch Bayern initiiert und angeschoben. Beispielsweise wurde die Sicherungsverwahrung erheblich ausgeweitet und die Möglichkeit einer Aufenthaltsüberwachung durch elektronische Fußfesseln geschaffen. Gerade im Bereich des Sexualstrafrechts hat sich auch durch die Reformen in den Jahren 2015 und 2016 viel getan. Für Fälle der Kinder- und Jugendpornografie, des sexuellen Missbrauchs und sonstiger sexueller Übergriffe wurden neue Straftatbestände geschaffen und bestehende Strafrahmen erhöht. Die Strafrahmen für diese Delikte geben den Richtern schon heute ausreichend Spielraum, die jeweiligen Einzelfälle angemessen zu bestrafen. Beispielsweise kann schwerer sexueller Missbrauch von Kindern mit Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren geahndet werden – eine längere, nämlich lebenslange Freiheitsstrafe sieht das Gesetz im Wesentlichen nur für Mord und einige andere Tötungsdelikte vor. Auch bei der Verjährung hat sich Bayern mit Erfolg für Verbesserungen eingesetzt. Die Verjährung wurde bei gewichtigen Sexualstraftaten wie sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung bereits verlängert. Schon heute verjährt beispielweise im Fall einer sexuellen Handlung, bei der der Täter gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet, die Tat nicht vor dem 50. Lebensjahr des Opfers.

Aber die Urteile halten auch Vergleichen, etwa im Steuer­recht, nicht stand, wo Steuer­sünder Jahre einsitzen, während Vergewaltiger teils ohne oder mit geringerer Haft davon­kommen.

Zunächst: Auch Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Eine Freiheitsstrafe von mehreren Jahren erhält nur, wer Millionenbeträge hinterzieht …

Aber das angegriffene Gut, die Steuerpflicht, das Geld, das ist doch viel weniger wert als Leben, Gesundheit und Würde von Vergewaltigungsopfern?

Solche Vergleiche halte ich nicht für zielführend. Fest steht doch: Wir brauchen in allen Bereichen der Kriminalität eine konsequente Strafverfolgung. Für die bayerische Justiz kann ich sagen, dass jede Straftat verfolgt wird. Wer in Bayern gegen unsere Gesetze verstößt, wird angemessen bestraft – unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Wo nötig, mit der vollen Härte des Rechtsstaats.

Kaum durchsetzbare Abschiebungen, Mehrfachidentitäten, Gewalt- und Sexualstraftaten durch Zuwanderer: Speziell im Zuge der Migration ist in den letzten Jahren das Vertrauen in den Rechtsstaat beschädigt worden. Wie kann die Politik das Vertrauen wieder stärken?

In Bayern haben wir einen funktionierenden Rechtsstaat. Die CSU hat auch ein gutes Konzept für den Bereich der Migration. Erstens: Wir helfen Menschen in Not. Bayern hat auf allen staatlichen und gesellschaftlichen Ebenen in den letzten Jahren ein Höchstmaß an Humanität bewiesen. Zweitens: Diejenigen, die eine Bleibeperspektive haben, sollen bei uns alle Möglichkeiten erhalten, die deutsche Sprache zu lernen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren und sich eine berufliche Perspektive erarbeiten zu können. Drittens: Die Zuwanderung muss gesteuert und begrenzt werden. Das bedeutet auch, dass insbesondere Straftäter schnell und konsequent abgeschoben werden. Wir in Bayern machen das. Von bundesweit rund 440 Abschiebungshaftplätzen stellt Bayern rund 140. Auch bei diesem Thema zeigen sich große Unterschiede zu rot und grün regierten Bundesländern. Die SPD blockiert zu oft unsere Verbesserungsvorschläge. Bis heute hat die SPD nicht verstanden, dass viele ehemalige SPD-Wähler sowohl soziale als auch innere Sicherheit wollen. Die Grünen gaukeln den Wählern vor, sie seien eine bürgerliche Partei. Aber sie sind eine linke Partei: Sie lehnen im Bereich der Sicherheit einen starken Staat ab und stehen für eine weitgehend unbegrenzte Zuwanderung.

Die Zuwanderung hat auch Herausforderungen gebracht, die zwar nicht neu sind, aber größer wurden. Kinder-, Zwangs- und Vielehen, Ehrenmorde oder Verschleierung: Obwohl der BGH bereits jeden Kulturrabatt abgelehnt hat, gewähren manche Richter ihn trotzdem.

Einen kulturellen Rabatt bei der Strafzumessung darf es nicht geben. Das sollte im Gesetz klargestellt werden. Bayern hat hierzu bereits 2017 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der leider im Bundesrat abgelehnt wurde. Für uns ist klar: Allein die Wertmaßstäbe unserer Rechtsgemeinschaft dürfen für die Strafzumessung maßgeblich sein. Religiöse und kulturelle Prägungen dürfen kein Anlass für Strafmilderung sein. Wer Teil unserer Gesellschaft werden will, muss auch unsere Werte respektieren und mittragen. Das ist die Voraussetzung für gelingende Integration.

Sie haben die Clans angesprochen. Der organisierten Kriminalität ist oft nur durch Kronzeugenregel und den Zugriff auf ihre Geldquellen beizukommen. Reicht das?

Verbrechen darf sich nicht lohnen. Daher ist es entscheidend, dass wir die Erträge aus Straftaten konsequent abschöpfen. Dazu gibt es das Instrument der Vermögensabschöpfung. Der Gesetzgeber hat die gesetzlichen Regelungen hierfür erst 2017 grundlegend überarbeitet und den Strafverfolgungsbehörden wirksame Instrumente an die Hand gegeben, um kriminell erlangtes Vermögen zu beschlagnahmen. Auch Beweiserleichterungen wurden geschaffen. Die bayerischen Staatsanwaltschaften wenden die Vermögensabschöpfung erfolgreich an. In München haben wir zudem eine eigene Zentralstelle zur Koordinierung der Vermögensabschöpfung eingerichtet, die die Gerichte und Staatsanwaltschaften bei der Anwendung der neuen gesetzlichen Möglichkeiten unterstützt. Strukturell sind wir damit gut aufgestellt. Noch immer kann es im Einzelfall eine Herausforderung sein, die kriminelle Herkunft des Vermögens zu beweisen. Deswegen fordern wir, die Ermittlungsbefugnisse bei schweren und besonders schweren Straftaten auszuweiten, vor allem im Bereich der organisierten Kriminalität.

Die Ermittler fordern mehr Befugnisse, vor allem die erweiterte DNA-Analyse, die Verkehrsdatenspeicherung und die Online-Durchsuchung. Die linken Parteien und die FDP sind dagegen. Soll also Datenschutz vor Opferschutz gehen?

Für die CSU gilt, dass Opferschutz vor Täterschutz geht. Das ist ein Eckpfeiler unserer Rechtspolitik. Ich sage auch ganz klar: Wir brauchen die erweiterte DNA-Analyse. Sie ist im Berliner Koalitionsvertrag auch vereinbart, weil Bayern sich hier bei den Verhandlungen durchgesetzt hat. Das Bundeskabinett hat das jetzt als einen der Eckpunkte zur Reform der Strafprozessordnung beschlossen. Leider ist das SPD-geführte Bundesjustizministerium kein starker Partner in solchen Fragen. Der SPD muss man vieles abringen. Bei der Verkehrsdatenspeicherung warten wir auf Rechtssicherheit auf europäischer Ebene. Auch diese ist dringend notwendig. Auch bei Cyberkriminalität sind die Gesetze noch nicht auf der Höhe der Zeit. Besonders wichtig ist die Ausweitung der digitalen Ermittlungsbefugnisse. In Bayern haben wir schon vor Jahren auf die wachsenden, vielseitigen Gefahren der Internetkriminalität reagiert und eine Gruppe spezialisierter Cyberermittler eingerichtet: die Zentralstelle Cybercrime Bayern bei der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg. Dort ermitteln derzeit 14 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie drei IT-Referenten etwa bei Betrug durch Fake-Shops, bekämpfen Wirtschafts-Cybercrime und gehen gegen den Handel mit Waffen, Drogen oder Kinderpornografie im Darknet vor. Die bayerische Justiz ist für die Herausforderungen der Zukunft gut gerüstet. 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten täglich daran, dass sich die Menschen auf unseren Rechtsstaat verlassen und sich sicher fühlen können.

 

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther