Alles Europa? Istanbul von der Galata-Brücke aus gesehen. (Bild: Fotolia/Dario Bajurin)
Terroranschlag

100 Tote bei Bombenexplosionen in Ankara

Bei dem Doppelanschlag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration in Ankara wurden mindestens 95 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt. Kurz vor der Parlamentswahl war offenbar die prokurdische Partei HDP das Ziel zweier Selbstmordbomber. Diese sieht die AKP-Regierung von Präsident Recep Erdogan als verantwortlich für den Terroranschlag.

Bei dem schwersten Terroranschlag in der jüngeren Geschichte der Türkei sind nach offiziellen Angaben mindestens 95 Menschen getötet worden – kurz vor der Parlamentswahl. Nach Informationen aus der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP stieg die Zahl der Todesopfer sogar auf fast 100. Bei dem Doppelanschlag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration in Ankara wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums zudem mindestens 200 Menschen verletzt. Der immer offener autokratisch regierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte: „Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist.“ Erdogan versprach eine Aufklärung des Anschlags, zu dem sich zunächst niemand bekannte. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte: „Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass dieser Anschlag von zwei Selbstmordattentätern verübt worden ist.“ Als mögliche Urheber der Tat nannte Davutoglu die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Anschläge der PKK auf eine pro-kurdische Demonstration wie die in Ankara erscheinen allerdings extrem unwahrscheinlich. Die Gewalt zwischen der PKK und der Regierung eskaliert seit Juli. Wahrscheinlicher ist da der IS, dessen härteste Gegner die Kurden sind. Ein weiter zunehmender Kampf Erdogans gegen die Kurden würde den islamistischen Barbaren in die Hände spielen.

Zwei Explosionen und die Polizei lässt sich Zeit

Laut Innenministerium ereigneten sich die beiden Explosionen um 10.04 Uhr (Ortszeit/09.04 MESZ) vor dem Hauptbahnhof in Ankara. Die HDP und andere regierungskritische Gruppen hatten Demonstrationsteilnehmer dazu aufgerufen, sich ab 10 Uhr am Bahnhof zu versammeln. Auf Bildern waren Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Bannern unter anderem der HDP bedeckt waren. Ein Video zeigt, wie junge Demonstranten tanzen, als hinter ihnen eine der Bomben detoniert. Die HDP berichtete, am Samstag sei die Polizei erst 15 Minuten nach den Detonationen am Anschlagsort eingetroffen – und sei dann mit Tränengas gegen Menschen vorgegangen, die Verletzten hätten helfen wollen.

Will Erdogan Chaos, um seine Macht zu sichern?

Die HDP war nach eigener Einschätzung Ziel des Anschlags, weil die Bomben inmitten von HDP-Anhängern detonierten. Sie glaubt den Beteuerungen des Präsidenten Erdogan nicht, die Bluttat aufzuklären. Ihr Chef Selahattin Demirtas sagte, die islamisch-konservative Führung des Landes habe den Anschlag „entweder organisiert oder nicht verhindert“. Der HDP-Vertreter wies Angaben der Regierung zurück, hinter der Bluttat könnten die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK oder links-terroristische Gruppen stecken. „Das ist Unsinn“, sagte er. Die PKK-Führung teilte im Gegenteil mit, Angriffe ihrer Kämpfer auf den Staat vor der Wahl aussetzen zu wollen. Voraussetzung sei allerdings, „dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden“, heißt es in der offenbar vor der Bluttat von Ankara verfassten Erklärung. Die Regierung will jedoch den Krieg gegen die PKK fortführen. „Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk“, so der Ko-Vorsitzende der HDP, Demirtas, weiter.

Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut.

Selahattin Demirtas, HDP-Chef, zur AKP-Regierung

Möglicherweise wolle die von der islamisch-konservativen AKP geführte Regierung den Anschlag und die daraus resultierenden steigenden Spannungen dazu nutzen, die für den 1. November geplanten Neuwahlen für das Parlament abzusagen und den Ausnahmezustand auszurufen. Das Kalkül nach Ansicht der Erdogan-Kritiker ist also: Der Präsident steuert das Land ins Chaos, um seine gefährdete Macht zu sichern. Dafür spricht auch ein Bericht von ARD-Korrespondenten Michael Schramm: Nach dem Doppelanschlag gehe die Polizei nicht nur in Ankara gegen empörte Kurden und Linke vor.

AKP benutzt den Kampf gegen die Kurden für den Machterhalt

Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc, bei dem 33 pro-kurdische Aktivisten getötet wurden, noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt. Die Regierung machte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für die Bluttat von Suruc verantwortlich, der sich dazu allerdings nicht bekannte. Seit der Wahl wurden die HDP und ihre Anhänger nach Angaben der Partei außerdem weit mehr als 100 mal zum Ziel von Angriffen. Die Polizei, die schnell und hart gegen Regierungsgegner durchgreift, konnte oder wollte die Attacken nicht verhindern. „Auch dieser Vorfall wird nicht aufgeklärt werden“, sagte nun Demirtas nach dem neuerlichen Anschlag. Die HDP wirft Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP außerdem schon seit längerem vor, den Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu schüren, der seit dem Kollaps der Waffenruhe im Juli Hunderte Menschen das Leben gekostet hat. Bei der Wahl im Juni war die HDP als erste pro-kurdische Partei überhaupt ins Parlament eingezogen, vor allem, weil sie Erdogans Präsidialsystempläne ablehnte. Die Kampfansage, einen Machtzuwachs Erdogans zu verhindern, sicherte ihr auch Wähler außerhalb der kurdisch geprägten Gebiete im Südosten der Türkei. Erdogans AKP verfehlte wegen des HDP-Erfolgs die absolute Mehrheit. Der Präsident will aber weiter die Verfassung ändern, um endgültig eine Alleinherrschaft seiner Partei unter seiner Führung zu sichern, legitimiert mit einem demokratischen Mäntelchen. Darum hetzt er auch in vielen Reden gegen die Kurden – laut mehreren Medienberichten sogar in „regelrechten Hassreden“.

Demonstrationen gegen Erdogan

Nach dem Anschlag in Ankara demonstrierten in der Millionenmetropole Istanbul Tausende Menschen gegen die Regierung. Sie skandierten „Dieb – Mörder – Erdogan“, wie ein dpa-Reporter berichtete. In Sprechchören wurde die verbotene kurdische Arbeiterpartei zu Vergeltungsaktionen aufgefordert. „Rache – PKK“, riefen Teilnehmer. Internetnutzer berichteten, der Zugang zu sozialen Medien wie Twitter sei erschwert oder ganz unmöglich. Auch in mehreren deutschen Städten gingen nach dem Terroranschlag in der Türkei am Samstag spontan Hunderte Menschen auf die Straße. Zu prokurdischen Demonstrationen kam es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste.

Ein Anschlag auf die Menschlichkeit, die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Joachim Gauck, Bundespräsident

In ersten Reaktionen aus dem Ausland wurde der Anschlag auch als Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei verurteilt: Sollte sich bestätigen, dass es sich wie vermutet um die Taten von Terroristen handele, „dann handelt es sich um besonders feige Akte, die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind“, schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Davutoglu. Bundespräsident Joachim Gauck sprach von einem „Anschlag auf die Menschlichkeit, die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Die US-Regierung bekräftigte ihre Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus. „Derartige entsetzliche Gewalttaten werden uns ganz gewiss nicht abschrecken, sondern uns nur in unserer Entschlossenheit bestärken“, erklärte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Ned Price. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: „Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus.“ Auch der russische Präsident Wladimir Putin sprach Erdogan sein Beileid aus. Die Türkei hat Russland wegen der Luftangriffe in Syrien scharf kritisiert.

(dpa/avd)