Im Sommer 2019 verzeichnete Griechenland auf seinen Inseln wieder Tausende Bootsflüchtlinge. Die Lager – hier das Lager Moria auf Lesbos – waren rasch überfüllt. (Foto: pa/ZUMA/Nikolas Georgiou)
EU-Außengrenze

Droht eine neue Flüchtlingskrise?

Seit 2016 war die Zahl der Asylbewerber stark zurückgegangen. Doch nun registriert die EU deutlich mehr Flüchtlinge, vor allem über die Türkei. Österreichs Ex-Kanzler Kurz fordert, die Balkanroute müsse unbedingt geschlossen bleiben.

Die Zahl der Asylbewerber in Europa hat zuletzt stark zugenommen. Im Juli 2019 suchten in den 28 EU-Staaten sowie in Norwegen und der Schweiz rund 62.900 Migranten Schutz, wie die EU-Asylagentur EASO jetzt mitteilte. Das seien 26 Prozent mehr als im Vormonat gewesen und ein Höchstwert seit März 2017.

Die Zahlen berücksichtigen auch Anträge von Menschen, die zuvor schon einmal Asyl beantragt hatten. Der deutliche Anstieg sei teilweise auf einen geringen Juni-Wert zurückzuführen, teilte EASO mit. Insgesamt wurden in diesem Jahr bislang rund 400.500 Asylanträge gestellt – ein Plus von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Eine Situation wie 2015 darf sich nicht mehr wiederholen, die Westbalkanroute muss unbedingt geschlossen bleiben.

Sebastian Kurz (ÖVP), Österreichs Ex-Kanzler

Syrer, Afghanen und Venezolaner machten im Juli rund ein Viertel aller Antragsteller aus. Die Zahl der Anträge von Türken stieg im Vergleich zum Vormonat um 56 Prozent. Auch Pakistaner (+41 Prozent) und Iraker (+33 Prozent) beantragten deutlich häufiger Schutz. Die EU-Asylagentur betonte angesichts des Zuwachses, dass die aktuellen Zahlen noch deutlich unter denen der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 lägen. So seien im Juli 2016 fast 120.000 Anträge auf internationalen Schutz gestellt worden.

Erdogan droht mit erneuter Grenzöffnung

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte in den vergangenen Wochen mehrmals angedroht, mehr Flüchtlinge in die EU durchzulassen, wenn die Europäer nicht deutlich mehr zahlen. Die Türkei hatte seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien 2011 rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Ab Sommer 2015 ließ Erdogan viele Flüchtlinge über Griechenland in Richtung Mitteleuropa ausreisen, die mitteleuropäische Flüchtlingskrise war die Folge.

Das im März 2016 geschlossene Flüchtlingsabkommen sieht vor, dass die Türkei die Flüchtlinge künftig unterbringt und sie nicht in die EU durchreisen lässt. Insbesondere verpflichtete sich die Türkei, illegal nach Griechenland übergesetzte Flüchtlinge wieder zurückzunehmen. Die EU verpflichtete sich im Gegenzug, sechs Milliarden Euro für deren Unterbringung zu zahlen für jeden in die Türkei zurückgeschickten Syrer einen anderen Syrer legal aufzunehmen.

Wir dürfen uns auch nicht länger von Präsident Erdogan mit möglichen neuen Flüchtlingswellen erpressen und auf der Nase herumtanzen lassen.

Sebastian Kurz

Doch nun ist der Bürgerkrieg in Syrien weitgehend abgeebbt, die meisten der jetzigen Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, dem Irak und Pakistan. Neuerdings plant Erdogan zudem, mit Hilfe der Nato eine Schutzzone in Nordsyrien einzurichten, in der die syrischen Flüchtlinge aus der Türkei untergebracht werden sollen. Daher nehmen Beobachter an, dass Erdogan ein neues Abkommen mit deutlich höheren Zahlungen erzwingen will – sowie möglicherweise Zusagen hinsichtlich einer Unterstützung für die geforderte Schutzzone.

Vorgeschmack: Bootsflüchtlinge auf griechischen Inseln

Ein Indiz dafür ist auch der massiv angewachsene Flüchtlings-Zustrom nach Griechenland: Allein im August 2019 verzeichnete Griechenland mehr als 8000 Bootsflüchtlinge aus der Türkei auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos. Auf den Inseln brach beinahe wieder Chaos aus, weil die dortigen Aufnahmelager binnen weniger Tage überfüllt waren. Nach Ansicht von Beobachtern gibt Erdogan damit einen Vorgeschmack, was passieren kann, wenn die EU nicht klein beigibt und mehr zahlt.

Wir müssen sofort zusätzliche Frontex-Mitarbeiter an die griechische und bulgarische EU-Außengrenze entsenden, um vorbereitet zu sein.

Sebastian Kurz

Angesichts der drohenden neuen Flüchtlingswelle fordert Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), zusätzliche Frontex-Mitarbeiter an die griechische und die bulgarische EU-Außengrenze zu entsenden, damit es nicht wieder zu einer ungehinderten Flüchtlingsdurchreise von der Türkei über Griechenland nach Mitteleuropa kommt. „Eine Situation wie 2015 darf sich nicht mehr wiederholen, die Westbalkanroute muss unbedingt geschlossen bleiben“, sagte Kurz.

Keine Beitrittsgespräche mit der Türkei

Damit bezog sich Kurz auf die wiederholten Drohungen des türkischen Präsidenten Erdogan, die Grenzen für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa zu öffnen. „Wir müssen sofort zusätzliche Frontex-Mitarbeiter an die griechische und bulgarische EU-Außengrenze entsenden, um vorbereitet zu sein“, sagte Kurz.

Der ehemalige österreichische Kanzler forderte zudem erneut, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort zu stoppen. „Wir dürfen uns auch nicht länger von Präsident Erdogan mit möglichen neuen Flüchtlingswellen erpressen und auf der Nase herumtanzen lassen“, sagte Kurz. „So handelt kein Partner und erst recht kein Beitrittskandidat.“