Groß machen oder nur noch um die großen Themen kümmern? Die EU wird neu gedacht, hier beim FDP-Parteitag in Berlin. (Bild: Imago/IPON)
Ausland

Europas Zerreißprobe

Kommentar Europa hat viele Jahre in der Migrationsfrage versagt. Einzelne Staaten mussten und müssen das größte Problem unserer Zeit lösen, anstelle der EU, die doch für solche grenzüberschreitenden Komplexe zuständig wäre. Doch noch ist es nicht zu spät.

Ach, Europa! Italiens Außenminister Angelino Alfano beklagte jetzt im Interview mit der Bild-Zeitung, sein Land fühle sich in der Migrantenfrage von Europa im Stich gelassen. Das bedeute, „dass die Flüchtlinge in Italien bleiben“, sagte Alfano. Sein Land könne „diese Last nicht alleine verkraften“, denn man erwarte insgesamt mehr als 200.000 Migranten für dieses Jahr. Und weitere Hunderttausende warteten in Libyen auf die Überfahrt.

Es fehlt an einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik, die sich der Ankünfte aus Afrika annimmt.

Alfano, Italiens Außenminister

Ach, Europa! Was ist aus Dir geworden? So viel Hoffnung gab es nach der Wende 1990 auf ein gemeinsames, ein einiges Europa, stark, mit glänzender Zukunft. Einige Enttäuschungen gab es seitdem, die eilige Erweiterung um nicht beitrittsreife Staaten wie Bulgarien und Rumänien, der durch die rot-grüne Bundesregierung durchgepeitschte Kandidatenstatus für die Türkei, und allen voran die Finanz- und Bankenkrise mit den Reform-Faulpelzen in Griechenland und Italien.

Die Offenbarung

Doch jetzt hat die Migrationswelle schonungslos Europas gewichtige Konstruktions- und Denkfehler aufgezeigt. Wo war die EU, als die Migrationswelle begann? Wie konnte man in der EU (und den Einzelstaaten) trotz zahlreicher Warnungen verschlafen, dass der ab 2011 einsetzende syrische Bürgerkrieg eine immense Fluchtbewegung auslösen würde? Die Migration ist doch ein grenzüberschreitendes Problem, also eine der Hauptaufgaben der EU – sollte es jedenfalls sein. Noch dazu ein Problem, das die europäischen Gesellschaften vor riesige Herausforderungen vielerlei Art stellen würde! Dass so eine Bewegung früher oder später auf Europa zukommen würde, war auch schon seit Jahrzehnten erwartbar.

Flucht aus Syrien

Ach, Europa! Als der syrische Bürgerkrieg 2011 ausbrach, „vergaß“ man in der EU, die Flüchtlingslager rund um Syrien ausreichend mit Geld zu unterstützen. Dann wurstelte man hilf- und planlos herum, als die Flüchtlingszahlen explodierten. Dann entschied die Bundeskanzlerin, dass Deutschland dieses Vakuum besetzen müsse, dies war menschlich richtig, aber politisch falsch. Viele Staaten nutzten dies aus, scherten sich nicht um das Dublin-Abkommen und winkten die Flüchtlinge einfach nach Deutschland durch. Gerade auch Italien: sogar die Fahrkarten bezahlten sie den Migranten. Weil die EU auch dann immer noch nicht in der Lage war, die für jedermann ersichtliche notwendige Schließung der Grenzen durchzusetzen, sprang Österreich mit Ungarn in dieses erneute Ideen-Vakuum ein und schloss die Balkanroute. Dann endlich so etwas wie die erste europäische Aktion mit dem leider höchst unsicheren Türkei-Deal. Bei der Verteilung der Flüchtlinge wollten aber dann einige EU-Staaten nicht mitmachen, weil sie die enormen Probleme in Frankreich (das darum auch nicht mitmachen wollte), Niederlande, Belgien, Großbritannien, Schweden und Deutschland bei der Integration von arabischen und afrikanischen Migranten vor Augen hatten. Dann das Versagen der EU, die Heimatländer der Flüchtlinge zur Rücknahme ihrer Bürger zu zwingen, wenn deren Asylantrag abgelehnt wurde. Und schließlich hat es wieder viel zu lange gedauert, bis man endlich die Idee aufgriff, dass gerettete Flüchtlinge wieder zurück nach Afrika gebracht werden müssen.

Zurecht sind nun viele Bürger verärgert und enttäuscht, dass die EU sich in kürzester Zeit zwar um die deutsche Pkw-Maut, aber jahrelang nicht um das größte Problem unserer Zeit kümmerte: Die Migration.

Blick nach vorn

Aber sei es drum! Es ist noch nicht zu spät für Europa, jetzt endlich rasch zu handeln. Die Krümmung von Gurken oder Ölkännchen auf Restauranttischen sind keine Überlebensfragen für die EU, die Migration ist es, wie die Brexit-Abstimmung zeigte.

Zurück auf groß, das muss generell die Devise der EU sein. Es gibt genug Themen, die vor Landesgrenzen nicht Halt machen, die man gemeinsam besser und billiger lösen kann: Umwelt- und Verbraucherschutz, Energie, Verkehr, Innere Sicherheit, Verteidigung. Dann sind da noch die Themen, die das Zeug dazu haben, Europa zu zerreißen: Finanzhilfen für notorische Reformverweigerer wie Italien und Griechenland, der falsche Beitrittskandidatenstatus für die Türkei, sowie – untrennbar verbunden – die Themen Migration und Islam. Sie müssen absolute Priorität haben und dürfen nicht aus dümmlicher politischer Korrektheit leise umschifft werden. Hier braucht es Klartext und klare Handlungen.