Demonstration in Istanbul gegen ein drohendes Sultanat, die zunehmende Repression und ein Gesetz über Minderjährigen-Ehen. (Bild: Imago/Pacific Press Agency/Sahan Nuhoglu)
EU-Parlament

Rote Karte für die Türkei

Eine deutliche Mehrheit der Europaabgeordneten spricht sich dafür aus, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren. Gleichzeitig warnten bei der Plenardebatte einige Abgeordnete vor einem vollständigen Abbruch des Dialogs.

Das Europaparlament hat mit breiter Mehrheit ein Einfrieren der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei gefordert und damit jenes Signal gesendet, das sich besonders konservative Abgeordnete erhofft hatten. Bereits vor der Abstimmung hatte der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber, „ein klares Signal der EU-Mitgliedsstaaten“ an die Adresse der Türkei gefordert: „Ein Weiter so kann es nicht geben.“ Auf die fortschreitende Aushöhlung des Rechtsstaates in der Türkei mit der Einschränkung von demokratischen Grund- und Freiheitsrechten, der Entfernung hunderttausender Beamter aus dem Staatsdienst und der Verhaftung sogar von gewählten Abgeordneten, so der Vorsitzende der größten Fraktion im Straßburger Parlament, „muss die Europäische Union jetzt Antworten geben“. Weber: „Wir fordern den Außenministerrat auf, jetzt zu beschließen, die Gespräche formal einzufrieren.“

Hart ins Gericht ging der EVP-Fraktionschef auch mit den EU-Außenministern, die sich in Stellungnahmen regelmäßig sehr kritisch über die Türkei äußerten , „aber gleichzeitig nicht in der Lage sind, in Brüssel die notwendigen Entscheidungen zu fällen“. Weber warf den Außenministern ein „Doppelspiel“ vor, das man nicht weiter dulden könne.

Ein Weiter so kann es nicht geben.

Manfred Weber

Der EVP-Fraktionschef warnt aber auch davor, „angesichts der aufgeheizten Stimmung, die wir in der Türkei haben“, mit weiter gehenden Forderungen nach Strafen für die Türkei politisch zu überziehen. Es gehe um die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, um nicht mehr und nicht weniger. Am Donnerstag wollen die Abgeordneten über eine entsprechende Resolution abstimmen. An der genauen Formulierung wird noch gefeilt.

Signal an die türkischen Demokraten

Die EVP stehe zur Partnerschaft mit der Türkei, „aber diese Partnerschaft ist eine Partnerschaft, die auf Werten und Grundprinzipien beruht“. Weber: „Es kann in der jetzigen Situation und angesichts der Instabilität und Unsicherheit ob des türkischen Weges keine weiteren Beitrittsgespräche geben.“ Die Türkei entferne sich vom Rechtsstaat, warnt Weber: „Deswegen brauchen wir jetzt ein klares und ermutigendes Signal, dass Europa das nicht duldet, dass Europa diesen Weg nicht akzeptiert.“ Hintergrund ist die Verhaftungswelle in der Türkei nach dem Putschversuch Mitte Juli.

Wir fordern den Außenministerrat auf, jetzt zu beschließen, die Gespräche formal einzufrieren.

Manfred Weber

Ein solches Signal an die Adresse Ankaras, so Weber, sei auch notwendig um jene innertürkischen Kräfte zu stärken, „die für den Rechtsstaat werben, die für Europa und die Anbindung der Türkei an Europa werben“. Wenn die Europäer jetzt keine Konsequenzen zögen und die Beitrittsverhandlungen einfach weiterführten, so wie es die EU-Außenminister zuletzt beschlossen hätten, „dann werden auch die innertürkischen Kräfte, die für den Rechtsstaat werben, keine Argumente und keine Unterstützung haben“. Fraktionschef Weber erinnerte daran, dass die Parteien der EVP-Fraktion schon immer klar gestellt hätten, dass eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei „aus unserer Sicht kein nachhaltiger Weg ist“. Weber: „Wir sind der Meinung, dass die Partnerschaft mit der Türkei darauf beruht, dass wir individuelle Abkommen schließen, wie wir es beim Flüchtlingspakt gemacht haben. Das ist der richtige Weg.“

Nach Medienangaben sitzen in dem Land derzeit mehr als 36.000 Menschen in Untersuchungshaft, denen Verbindungen zur Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen oder der kurdischen Terrorgruppe PKK vorgeworfen werden, darunter viele gewählte Abgeordnete der Kurdenpartei HDP sowie Journalisten. Die türkische Führung macht Gülen für den angeblichen Putschversuch verantwortlich. Zehntausende weitere Beamte, Polizisten, Richter, Journalisten und andere Angestellte wurden ohne Gerichtsurteil und mit meist fadenscheiniger Begründung über angebliche Gülen-Verbindungen – oder neuerdings PKK-Verbindungen – entlassen oder suspendiert. So wurden mit einem am Dienstag im Amtsanzeiger veröffentlichten Notstandsdekret Erdogans weitere 15.396 Staatsbedienstete entlassen, darunter 9977 Angehörige der Sicherheitskräfte und 5419 zivile Mitarbeiter von Ministerien und Behörden. Mit dem Dekret wurden auch 375 Vereine geschlossen, darunter Menschenrechtsgruppen. Sieben Regionalzeitungen, ein regionales Magazin und ein Lokalradiosender müssen ihre Arbeit einstellen.

Menschenrechte werden mit Füßen getreten

„Mit einer Regierung, die mit Verhaftungswellen gegen ihr eigenes Volk vorgeht und Menschenrechte mit Füßen tritt, wollen wir keine EU-Beitrittsgespräche führen. Das ist das Signal, das wir als Europäisches Parlament morgen in einer Resolution Richtung Ankara aussenden“, so der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. „Aber das Signal soll nicht nur in der Türkei registriert werden, sondern auch bei den Mitgliedstaaten“, stellt Ferber klar. „Das Europäische Parlament packt mit der Resolution an, wozu die EU-Außenminister und die Kommission sich bis zuletzt nicht durchringen konnten – der Türkei endlich die rote Karte zu zeigen.“

Wir haben schon viel zu lange zum Schein EU-Beitrittsverhandlungen geführt.

Markus Ferber

„Für mich ist eine Mitgliedschaft auch bei einer Besserung der Lage ausgeschlossen“, so Ferber weiter. Den Vorwurf der Grünen, mit dem Beenden der Gespräche alle Brücken abzubrechen, lässt Ferber nicht gelten: „Wir haben schon viel zu lange zum Schein EU-Beitrittsverhandlungen geführt. Auch die Grünen müssen der Realität ins Auge sehen, die Türkei entfernt sich immer weiter von europäischen Werten und will gar kein Mitglied werden.“

Keine Visaliberalisierung und kein Beitritt

Auch der türkischen Forderung nach einer Visaliberalisierung im Zusammenhang mit dem Flüchtlingspakt erteilte Ferber eine klare Absage.

Für ihn stehe fest, dass es angesichts der Lage in der Türkei weder weitere EU-Beitrittsgespräche noch eine Visaliberalisierung für türkische Staatsangehörige geben darf. „Auf die Erpressungsversuche der türkischen Regierung ‚Visaliberalisierung oder Ende des Flüchtlingsdeals‘ dürfen wir uns nicht einlassen“, warnt Ferber. „Ich erwarte, dass Griechenland mithilfe der EU in der Lage sein wird, die Außengrenzen aus eigener Kraft zu sichern. Es darf nicht sein, dass wir dabei auf längere Sicht auf die Hilfe der Türkei angewiesen sind. Denn dadurch machen wir uns erpressbar.“

Ich erwarte, dass Griechenland mithilfe der EU in der Lage sein wird, die Außengrenzen aus eigener Kraft zu sichern.

Markus Ferber

Druck ausüben könnte die EU auf die Türkei nach Ansicht des Chefs des Auswärtigen Ausschusses, Elmar Brok (CDU), wenn sie die Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion infrage stellte. An diesem Abkommen sei die Türkei nämlich interessiert. Die EU ist der bei weitem wichtigste Handelspartner der Türkei.

EU-Parlament kann Beitrittsgespräche nicht allein beenden

Bindend wäre eine Aufforderung des Parlaments, die Beitrittsgespräche auf Eis zu legen, nicht. Die seit 2005 laufenden Verhandlungen führt nämlich die EU-Kommission. Theoretisch müsste die Brüsseler Behörde bei einem „schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß“ der Türkei gegen europäische Grundwerte aber einen zumindest vorübergehenden Stopp empfehlen. Am Ende liegt die Entscheidung bei den Mitgliedstaaten.

Die EU-Außenbeauftragte und Vize-Präsidentin der EU-Kommission, Federica Mogherini, warb während der Debatte jedoch dafür, die Gesprächskanäle offen zu halten. Dies sei der beste Weg, die Demokratie in der Türkei zu stärken. „Wir brauchen einen regelmäßigen, gegenseitigen Dialog.“

Österreich lässt grüßen

Kritiker werfen dieser Haltung ein Einknicken vor Erdogan vor, da man derzeit noch auf den Flüchtlingsdeal mit der Türkei angewiesen sei. Selten habe ein Land alle wichtigen EU-Standards und -Werte so umfassend gebrochen, wie jetzt die Türkei. Dennoch geschehe nichts – ganz im Gegensatz beispielsweise zum übereilten diplomatischen Boykott Österreichs im Jahr 2000, als die rechtspopulistische FPÖ an der Regierung beteiligt wurde, aber noch gar nichts verändert hatte. Hier konnte die Reaktion gar nicht schnell genug erfolgen.

Erdogan: „EU schützt Terroristen“

Der türkische Diktator Recep Erdogan misst der bevorstehenden Abstimmung im EU-Parlament keinerlei Bedeutung zu. „Ich rufe allen, die uns vor den Bildschirmen zusehen, und der ganzen Welt zu: Egal wie das Resultat ausfällt, diese Abstimmung hat für uns keinen Wert“, sagte Erdogan bei einer Wirtschaftskonferenz islamischer Staaten in Istanbul.

Ohnehin laufen im Moment in vielen europäischen Ländern Terroristen frei herum. Viele europäische Länder helfen Terroristen und gewähren ihnen Unterschlupf.

Recep Erdogan

„Alleine dass das Europaparlament sich an so eine Abstimmung macht, ist Ausdruck dafür, dass es Terrororganisationen in Schutz nimmt und sich an deren Seite stellt“, sagte Erdogan. Er kritisierte erneut, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK könne in der EU ungehindert agieren: „Ohnehin laufen im Moment in vielen europäischen Ländern Terroristen frei herum. Viele europäische Länder helfen Terroristen und gewähren ihnen Unterschlupf.“ Die PKK ist auch in der EU als Terrororganisation eingestuft. Erdogan wies am Mittwoch Kritik aus der EU an den Massenfestnahmen und Entlassungen in der Türkei nach dem Putschversuch zurück. „Bis heute haben wir unzählige Male gezeigt, dass wir mehr als viele andere Mitgliedsstaaten für die Werte der Europäischen Union eintreten.“

Erdogan hatte kürzlich von der EU eine Entscheidung über einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen bis zum Ende des Jahres gefordert und andernfalls ein Referendum über deren Fortsetzung angekündigt.

Merkel kritisiert Erdogan

Scharf kritisierte die Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Bundestags-Generaldebatte die Politik des türkischen Präsidenten Erdogan, sprach sich aber erneut gegen einen Abbruch der Kontakte aus. Die Einschränkung der Pressefreiheit und die Verhaftung von Abertausenden von Menschen sei nicht zu rechtfertigen. „Insofern müssen wir das deutlich kritisieren.“ Zugleich werbe sie aber dafür, den Gesprächsfaden mit der Regierung in der Türkei aufrecht zu erhalten.

Wieder nur Worte ohne Taten, so die Kritiker. Nur besorgt sein, reiche nicht, hatte Merkel kürzlich auch der zurückgetretene Chefredakteur der in der Türkei verfolgten Oppositions-Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, vorgeworfen. Es brauche endlich Handlungen, um die Türkei unter Druck zu setzen.

Die Eroberung der Türkei

Wie weit die Islamisierung der Türkei voranschreitet, zeigte ein weiteres Beispiel. Erst nach wütenden Protesten und einer Intervention von Erdogan selbst hat die türkische Regierungspartei AKP jetzt einen Gesetzesentwurf zu Sexualstraftaten an Minderjährigen zurückgezogen. Der Entwurf sah vor, dass die Strafe ausgesetzt werden kann, wenn der Täter sein Opfer heiratet. Kritiker hatten bemängelt, das Gesetz hätte im Falle einer Hochzeit zu Straffreiheit bei sexuellem Missbrauch von Minderjährigen führen können. Voraussetzung wäre laut Gesetz gewesen, dass der sexuelle Kontakt ohne Gewalt oder Drohung und nicht gegen den Willen des oder der Minderjährigen zustande kam. Kaum eine Minderjährige hätte aber vermutlich gewagt, den meist von den Eltern arrangierten Ehen zu widersprechen. Das Gesetz hätte sich nur auf Fälle vor dem 16. November bezogen, deren Zahl die Regierung mit 3000 angab.

Die Türkei und die EU

Schon 1959 hat die Türkei Antrag zum Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG gestellt. Vier Jahre später schlossen EWG und Türkei ein Assoziierungsabkommen, das sogenannte Ankara-Abkommen. Ziel war eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie die Möglichkeit, Teil der EWG zu werden – die allerdings damals keine vertiefte politische Union, sondern eine Wirtschaftsunion war.

1987 folgte der EG-Beitrittsantrag (später wurde aus der EG die EU) der Türken, der 1989 abgelehnt wurde. Seit Dezember 1999 ist die Türkei, gefördert durch die rot-grüne Bundesregierung, offiziell EU-Beitrittskandidat, am 3. Oktober 2005 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen.  Bis heute ist lediglich eines von insgesamt 33 Verhandlungskapiteln durchverhandelt und abgeschlossen worden.

(avd/HM/dpa)