Der Weisheit allerletzter Schluss: Die Grüne Claudia Roth. (Bild: Imago/Felix Abraham)
Türkei

Die Rot-Grün-Blindheit

Kommentar Es gab viele Warnungen, dass Recep Erdogan die Türkei erobern und islamisieren wollte – mit Hilfe der EU. SPD und Grüne waren ihm dabei auch noch behilflich und ignorierten alle mahnenden Stimmen und Hinweise.

Die grüne Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth hat im Radiosender Bayern 2 das harte Vorgehen in der Türkei gegen Opposition und Medien scharf verurteilt. Die Türkei befindet sich nach Roths Worten „auf schleunigstem Weg in die Diktatur“ durch einen „zivilen Putsch“ Erdogans, der der „der Totengräber der Demokratie und des Rechtstaats in der Türkei“ sei. Erdogan spiele sich auf „wie ein absolutistischer Alleinherrscher, der Expansionsfantasien hat – Fantasien hin in Richtung Osmanisches Reich“.

Die falsche Prophetin

Ausgerechnet Claudia Roth spielt sich nun als prophetischer Warner vor dem türkischen Diktator auf. Dabei waren es hauptsächlich sie und ihre Partei der grünen Ideologen, die gegenüber Erdogan so lange vor lauter Multikulti-Fanatismus blind waren. Dass die Türkei 1999 als EU-Beitrittskandidat anerkannt wurde, trotz zahlreicher warnender Stimmen in Politik und Wissenschaft, ist ihr „Verdienst“ und der der SPD. Es ist den Grünen und der SPD zu verdanken, dass 2004 auch noch die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen beschlossen wurde, erneut trotz zahlreicher warnender Stimmen in Politik und Wissenschaft. Und trotz Versprechungen von SPD-Kanzler Schröder:

Über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wird erst und nur dann zu reden sein, wenn das Land die politischen Kriterien für eine Mitgliedschaft – Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz – samt und sonders erfüllt und den Anforderungen des Art. 6 des EU-Vertrages genügt. Auf diesem Felde kann und wird es keinerlei Abstriche geben.

Gerhard Schröder, SPD, zum EU-Kandidatenstatus der Türkei, 1999

Obwohl genau diese „Kopenhagener Kriterien“ von der Türkei nie erfüllt wurden – wenn man nur einen kurzen Blick in die EU-Fortschrittsberichte warf –, hat Rot-Grün den Verhandlungsbeginn durchgesetzt.

Schon lange vor 2004 gab es außerdem viele Anzeichen dafür, dass der seit 2002/2003 regierende Recep Erdogan sich nur deshalb auf EU-Kurs begeben hatte, weil er mit europäischer Hilfe seine Macht festigen, das Land islamisieren und die Macht des Militärs brechen wollte. Wüsste Roth nur ein wenig über die Türkei, wie sie immer wieder behauptet, so wäre ihr diese Gefahr bewusst gewesen.

Die erste Warnung 1994

1994 wurde Erdogan nach einigen Skandalen seiner Konkurrenten überraschend zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt. In seiner Zeit als Rathauschef sagte er bei einer Pressekonferenz, es sei unmöglich, laizistisch und gleichzeitig ein Moslem zu sein. In einem Interview mit der Zeitung Milliyet bezeichnete er sich obendrein als Anhänger der islamischen Scharia-Gesetzgebung: „Gott sei Dank sind wir Anhänger der Scharia … unser Ziel ist der islamische Staat.“ Er setzte sich für gesonderte Badezonen für Frauen und getrennte Schulbusse für Jungen und Mädchen ein. Den EU-Beitritt lehnte er 1994 mit der Begründung ab, die EU sei eine „Vereinigung der Christen“, in der die „Türken nichts zu suchen“ hätten.

Schließlich wies ihn auch seine jahrzehntelange Arbeit in islamistischen Parteien klar als Hardliner aus. Zunächst in der als religiös geltenden Nationalen Heilspartei, ab 1984 dann als stellvertretender Vorsitzender der Wohlfahrtspartei (RP) des Kurzzeit-Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. 1998 wurde diese Partei wegen ihrer Sympathien für den Dschihad und der geplanten Scharia-Einführung verboten. Danach gehörte er deren Nachfolgerin, der Tugendpartei (FP) an, die 2001 ebenfalls als verfassungswidrig verboten wurde. Die Wahlerfolge dieser Parteien wiesen auch schon auf das größte Problem der Türkei hin: eine Spaltung der Gesellschaft in einen streng islamischen und einen säkularen Teil.

Die zweite Warnung 1998

1998 zitierte Erdogan bei einer Konferenz ein religiöses Gedicht, das seinen Weg und sein Ziel klar offenbarte:

Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.

Recep Erdogan, 1998

Dafür wurde er in der Türkei wegen „Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten“ sowie wegen „Aufstachelung zur Feindschaft auf Grund von Religion“ eigentlich zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Nach vier Monaten Haft wurde er jedoch wieder entlassen und ging mit der neu gegründeten AKP den erhofften Weg. 2002 gewann die AKP die Wahlen, doch erst 2003 wurde Erdogan nach Gesetzesänderungen bezüglich des Politikverbotes Ministerpräsident.

Die dritte Warnung 2004

In der Bundestagsdebatte 2004 warnten Angela Merkel, Friedbert Pflüger (beide CDU) und Gerd Müller (CSU) eindringlich vor der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen. Viele der angeblichen Fortschritte der Türkei bestünden „nur auf dem Papier“. Pflüger stellte die entscheidende Frage:

Und wissen wir denn wirklich so genau, in welche Richtung sich die Türkei und die AKP entwickeln?

Friedbert Pflüger, CDU, 2004

„Hasenfuß!“, hielt ihm daraufhin SPD-Mann Gernot Erler vor. Pflüger widersprach: „Ich bin erst im Juni dieses Jahres in der Türkei gewesen und habe viele gehört, die gesagt haben: ‚Wir wollen gerade deshalb in die EU, um dann eine islamische Demokratie zu bekommen, um dann die Grenzen, die das Militär im kemalistischen Staat zieht, aufzuweichen.‘ Es könnte also sogar der Fall eintreten, dass die Türkei im Zuge der Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft genau das verliert, was wir an ihr schätzen: die klare Trennung zwischen Religion und Staat.“

Die Rot-Grün-Blindheit

Uta Zapf von der SPD war empört, wie man nur vor dem rot-grünen Hoffnungsträger Erdogan warnen konnte: „Es ist nicht zu fassen!“ Auch Ludger Volmer von den Grünen gab sich entsetzt: „Sie sind doch auch eine religiöse Partei! So etwas sagt die christliche Partei!“ Pflüger ließ sich nicht beirren und verwies darauf, dass diese Bedenken „in Europa breit diskutiert“ würden. „Keine Ahnung!“, schnappte wieder Zapf. Und weiter:

Die zivile Gesellschaft in der Türkei ist mittlerweile so stark und so gut, dass sie selbst die Kontrolle über die Einhaltung und die Implementierung der Kriterien leisten wird.

Uta Zapf, SPD, 2004

Der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer hoffte, durch die EU-Verhandlungen den bei uns lebenden Türkischstämmigen „ein Gefühl der Zugehörigkeit“ zu geben. Spätestens seit der Kölner Pro-Erdogan-Demo, den 60 Prozent Erdogan-Wählern unter Deutschtürken und den Drohungen nach der Armenien-Resolution des Bundestages dürfte er sich ungern an diese Äußerung erinnern.

Die Grüne Christa Nickels schwärmte in der Debatte gar:

Nun haben wir diese unglaublich positive Entwicklung: Ich kenne weltweit keinen zweiten Staat, der in einer derartigen Kraftanstrengung von Regierung, Verwaltung und anderen staatlichen Organisationen in nur zwei Jahren die gesamte Gesetzeslage umgekrempelt hat (…). Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar (…), dass Sie gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Art von Bedenkenträgerei anfangen. Das ist die Beleidigung eines Volkes (…).

Christa Nickels, Grüne, 2004

SPD-Abgeordnete Lale Akgün nannte die Argumente der Union „hanebüchen“ und „schäbig“. Sie verdrehten die Wahrheit und malten „Gespenster an die Wand“.

Dann sprach Claudia, die Weise

Auch Claudia Roth trat in der Debatte ans Rednerpult und ignorierte alle Warnungen und Fakten komplett. „Wir sind für den Beginn von Verhandlungen mit der Türkei, weil wir ein vitales Interesse an einer demokratischen Türkei, an der Einhaltung von Menschenrechten, Minderheitenrechten und Rechtsstaatlichkeit haben.“ Wie man dies unterstützen könne, das beschäftige sie „seit 18 Jahren“, lobte sie ihre eigene Kompetenz. „Die glaubwürdige Beitrittsperspektive seit 1999 hat diesen Reformprozess unterstützt und dafür gesorgt, dass es große Veränderungen in der Türkei gegeben hat“, so irrte Claudia Roth 2004. „Es kann doch nicht Aufgabe der EU sein, die Demokratie in der Türkei zu festigen. Dieses Argument ist aberwitzig“, entgegnete Pflüger (CDU). Das müsse das Land schon selber leisten, scheitere aber seit mehr als 40 Jahren daran. Doch Roth wähnte sich – wie bei den Grünen üblich – im Besitz der einzig möglichen Wahrheit.

All diejenigen, die wirklich für die Menschenrechte eintreten und die sie nicht nur dann einfordern, wenn es ihnen politisch in den Kram passt, müssen für die EU-Integration der Türkei sein. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.

Claudia Roth, 2004

Die Union dagegen setze mal wieder auf „Ab- und Ausgrenzung“, statt auf „Entspannungspolitik“, so die Grüne. Nun, unter Kanzler Brandt hatte Entspannungspolitik gegen ein wirtschaftlich angeschlagenes Sowjetimperium Erfolg, als „Appeasement“-Version gegen einen kriegslüsternen Diktator namens Hitler war sie kontraproduktiv. Doch Roth war sich mit hoch erhobenem Zeigefinger sicher: „Wieder erkennen Sie nicht die Zeichen des Wandels und wieder einmal setzen sie auf innenpolitische Stimmungsmache.“

Im März 2016, noch vor dem „Putsch“, warnte Roth im Zusammenhang mit dem Türkei-Deal bei den Flüchtlingen: „Wenn aus innenpolitischem Interesse heraus Außenpolitik gemacht wird, geraten Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ins Hintertreffen.“ Bei all den Menschenrechtsverletzungen und dem neuen Kurdenkrieg Erdogans „dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, was in der Türkei passiert“. Sie muss es ja wissen. Und dann die merkwürdig späte Erkenntnis:

Ich glaube, Erdogan hat gar kein Interesse an einer EU-Integration.

Claudia Roth, im Stern, Mai 2016

Gespenster und Zeichen

Wie Erdogan die Türkei schleichend eroberte, ist bekannt. Wie sich zeigte, hatte die Union die Zeichen des Wandels erkannt und keine „Gespenster“ gemalt. Nicht so Claudia Roth. Und ausweislich ihrer Facebook-Seite ist sie nach wie vor vom türkischen Volk überzeugt: „Wir lassen die weltoffene türkische Gesellschaft nicht allein!“ Bei den hohen Zustimmungswerten zu Erdogan scheint es mit dieser Weltoffenheit nicht mehr weit her zu sein.

Immerhin ihr Parteikollege Cem Özdemir zeigte sich in der Zeitung Welt ein wenig reumütig: „Wir hatten als SPD und Grüne, wie viele damals, lange ein zu optimistisches Bild, dass aus der AKP eine Art CDU der Türkei wird.“ Wer lange irrt, wird endlich klug.