Lupenreine Demokratie, Rechtsstaat? Ende April brachen schwere Faustkämpfe im Parlament in Ankara aus, zwischen Abgeordneten der regierenden islamistisch-nationalistischen AKP und der pro-kurdischen HDP. Fällt der Visumszwang für die Türkei, könnte eine neue Welle von Flüchtlingen nach Deutschland schwappen – diesmal per Billigflieger und getarnt als Touristen. (Foto: Depo-Photos/imago)
Visumsfreiheit

Droht eine neue Flüchtlingswelle aus der Türkei?

Die CSU ist eindeutig gegen einen EU-Beitritt der Türkei und sieht auch die von der EU-Kommission empfohlene Aufhebung des Visumszwangs für türkische Staatsbürger sehr kritisch. Nicht zufällig kommt die größte Gruppe von politisch Verfolgten aus der Türkei. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer fordert, der Bundestag müsse ein Votum zur Visumsfrage abgeben.

Die größte Gruppe von politisch Verfolgten in Deutschland, also anerkannten Asylbewerbern, kommt nach wie vor aus der Türkei. Das berichtet die Welt unter Berufung auf Zahlen des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Von den insgesamt 39.557 dieser nach dem Art. 16a GG Asylberechtigten in Deutschland waren zum Stichtag 29. Februar 11.606 türkische Staatsbürger, teilte das BAMF laut Welt mit. Um es nochmal zu verdeutlichen: Das sind mehr als 11.600 politisch Verfolgte in einer angeblichen Demokratie! Mit großem Abstand folgen Iraner (5765), Syrer (5390), Afghanen (2270) und Iraker (1633). Wesentlich mehr Antragssteller erhielten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention: 260.381 Ausländer mit Flüchtlingseigenschaft zählt das BAMF, davon mehr als die Hälfte Syrer.

Türkei stellt schon seit 1986 die meisten politisch Verfolgten

Besonders interessant: Deutschland erkennt die politische Verfolgung in der Türkei in der Praxis schon lange als solche an. Denn die Türkei zählte von 1986 bis 2011 durchgängig zu den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden in Deutschland. Insgesamt erhalten übrigens nur 0,7 Prozent aller Asylbewerber die Anerkennung als politisch Verfolgte.

„Potenziell könnten 400.000 bis 500.000 türkische Flüchtlinge, vor allem Kurden, Asyl beantragen“, sagte etwa der Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Jenkins geht davon aus, dass angesichts der eskalierenden Gewalt im Kurdenkonflikt viele dieser Asylbewerber Aussicht auf Anerkennung hätten.

Kommen erneut Millionen Flüchtlinge – diesmal als Touristen getarnt?

Die Flüchtlinge könnten sich einfach als angebliche Touristen in einen der vielen Billigflieger setzen und dann in Deutschland Asyl beantragen. Das könnte angesichts des brutalen Vorgehens von Präsident Erdogan vor allem gegen die Kurden eine neue gigantische Flüchtlingswelle bedeuten. Es ist sogar denkbar, dass Erdogan die geforderte Visumsfreiheit (der Bayernkurier berichtete) vor allem dafür missbrauchen will, um Kurden und andere Kritiker leichter loszuwerden.

Die CSU fürchtet, dass nach dem wahrscheinlichen Wegfall der Visumpflicht die Zahl der türkischen Schutzsuchenden massiv ansteigen könnte. Wenn Ankara die 72 Kriterien (angeblich) erfüllt und der Rat der Europäischen Union und das EU-Parlament zustimmen, dürfen Türken ab Juni nur mit ihrem Personalausweis frei in alle Mitgliedsstaaten reisen und sich dort drei Monate lang aufhalten.

Opfert die EU Grundrechte für Flüchtlings-Zugeständnisse?

„Grundrechte dürfen nicht einem falschen Pragmatismus geopfert werden“, warnt Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU). „Die Pressefreiheit, die Religionsfreiheit und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei dürfen keinesfalls verrechnet werden mit der Zurückhaltung von Flüchtlingen. Wenn die EU-Kommission Menschenrechte als weniger bedeutsam ansehen würde, dann begibt sie sich auf einen ganz gefährlichen Weg. Dann verzichtet die EU darauf eine Wertegemeinschaft zu sein und das trifft Europa ins Herz.“

Die Pressefreiheit, die Religionsfreiheit und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei dürfen keinesfalls verrechnet werden mit der Zurückhaltung von Flüchtlingen.

Johannes Singhammer

Singhammer fordert insbesondere, dass sich der Bundestag mit der Visumsfrage befasst. „Der Deutsche Bundestag muss seine Mitwirkungs- und Entscheidungsrechte wahrnehmen und sich mit dieser EU-Grundsatzentscheidung befassen“, sagt er.

Die Bürger erwarten, dass der Bundestag sich befasst

„In den Familien und an den Arbeitsplätzen, überall wird das Für und Wider der Gewährung der Visumsfreiheit abgewogen. In dieser Situation schauen die Bürger in Deutschland zu Recht auf den Deutschen Bundestag – ihre gewählte Volksvertretung – und erwarten eine Parlamentsbefassung“, so der Parlaments-Vizepräsident.

Als rechtliche Grundlage verweist Singhammer auf Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz sowie Paragraph 8 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG). „Der Deutsche Bundestag kann seine Haltung im Rahmen eines Stellungnahmerechts zum Ausdruck bringen“, stellt Singkammer klar.

Kurden in Deutschland kritisieren EU-Kommission scharf

Rückendeckung erhält die CSU in ihrer Warnung vor einer Visumsfreiheit von der Kurdischen Gemeinde Deutschland (KGD). Deren Vorsitzender Ali Ertan Toprak nennt die EU-Pläne „ein weiteres unwürdiges Zugeständnis an das Erdogan-Regime. Die Vertreibung der Kurden und die endgültige Abschaffung der Demokratie wird damit belohnt.“

Die kurdische Bevölkerung fühle sich von der EU an einen Autokraten ausgeliefert, der für seine Unterdrückungspolitik belohnt werde, so Toprak. Er nennt es „beschämend für Europa wie auch für die Türkei ist die Tatsache, dass dies der Erfolg einer Erpressungspolitik zu Lasten der Schwächsten ist.“ Durch die Stärkung Erdogans schwäche die EU ausgerechnet die wirklich westlich orientierten, pro-europäischen Kräfte in der Türkei, die allesamt in Opposition zum AKP-Regime stehen.

(Welt/PM/wog)