Weitgehend leer: Eine deutsche Frontex Beamtin sucht bei Mytilini in Griechenland das Meer nach Flüchtlingsbooten ab. (Bild: Imago/Markus Heine)
Visafreiheit für Türken

Europas Nagelprobe und Merkels nächstes Eigentor

Kommentar Die Zahlen beweisen: Der Türkei-Deal ist nicht die Ursache für die gesunkene Flüchtlingszahl. Dennoch scheint es, als ob die dafür von Kanzlerin Angela Merkel versprochene Visafreiheit am 4. Mai zum Rabattpreis verschleudert wird - mit unabsehbaren Folgen für Deutschland. Die CSU ist vehement dagegen und will lieber das gesamte Abkommen scheitern lassen.

Am Mittwoch fällt die Vorentscheidung, ob die Türkei die versprochene Visafreiheit erhalten soll – als Gegenleistung für den Flüchtlingsdeal. Mehrere Medien berichten vorab, dass die EU-Kommission dies empfehlen will – obwohl die Türkei erst 62 der 72 Voraussetzungen dafür erfüllt habe. Nach Informationen der „Welt“ soll der Türkei mehr Zeit zur Erfüllung gewährt und die Empfehlung unter Vorbehalt erteilt werden. Damit könne das Land beispielsweise bei der Umsetzung von Grundrechten und insbesondere bei einigen Punkten, die eine indirekte Anerkennung von Zypern voraussetzen, noch nachbessern. Der nördliche Teil Zyperns ist seit Jahrzehnten völkerrechtswidrig von der Türkei besetzt, weshalb sie die Anerkennung verweigert. Laut „Spiegel“ reiche es der EU, wenn ein einstelliger Rest bei den 72 Hürden offen bleibe. Außerdem solle es eine Notbremse geben, wenn eine sehr große Zahl türkischer Staatsbürger nach Europa reist, um hier Asyl zu beantragen oder in die Illegalität abzutauchen. Dies hatte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), gefordert.

Widerstand in Europa

Ohnehin ist die Begeisterung bei fast allen europäischen Partnern über den Pakt mit dem türkischen Diktator Erdogan bei praktisch Null. Ausgerechnet der unberechenbare Gernegros aus Ankara soll das Ventil für die Flüchtlinge steuern? Ausgerechnet Erdogan, der mit seinem persönlichen Kurdenkrieg zusätzlich hunderttausende Flüchtlinge produziert hat? Das empfanden viele als katastrophalen Kniefall – verschuldet von Angela Merkel, die aus ihrer völlig verfehlten Flüchtlingspolitik keinen anderen Ausweg mehr sah.

Ein Märchen wird enttarnt.

Die Kanzlerin hatte immer wieder betont, wie wichtig dieser von „ganz Europa“ vorgenommene Vorstoß mit der Türkei sei. Bewusst grenzte sie sich damit von der geschlossenen Balkanroute ab, die – auch durch ihre überall verbreiteten Signal-Bilder – wesentlich mehr zur Reduzierung der Flüchtlingszahl beigetragen hat (siehe Grafik). Dies wurde aber gegen den ausdrücklichen Willen der deutschen Kanzlerin durch Österreich und die Balkanstaaten durchgesetzt. Diesen Irrtum wird sie öffentlich niemals eingestehen. Damit ist aber auch klar: Scheitert der Türkei-Deal, wird die Mär von Merkels „erfolgreicher“ Flüchtlingspolitik auch dem Letzten offenbar.

Die serbische Mahnung

„Ich habe ein Riesenproblem mit den Visa-Erleichterungen. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die erste große Flüchtlingswelle aus dem West-Balkan bekamen, nachdem wir die Visumsfreiheit eingeführt hatten“, warnte jetzt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber im Bayernkurier. Sehr schnell stiegen damals die Zahlen der Asylbewerber vom West-Balkan, als Serbien und Mazedonien Ende 2009 die Visafreiheit erhielten. Und je mehr sich die offenen Tore herumsprachen, umso mehr Menschen kamen und forderten Asyl. Sie kamen vor allem wegen fehlender wirtschaftlicher Perspektiven und der sozialen Wohltaten in Deutschland – was auch auf viele Türken und vor allem auf die benachteiligten türkischen Kurden zutreffen dürfte.

„Kurdenpolitiker warnen seit Monaten angesichts der schweren Kämpfe zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor einer Fluchtwelle aus Südostanatolien nach Europa“, berichtet auch der österreichische „Kurier„. Nach Regierungsangaben haben die Gefechte mehrere hunderttausend Menschen gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Das allein ist schon ein Fluchtgrund. Viele betroffene Kurden sind zwar arm, aber für die in der Türkei relativ hohen Passgebühren von umgerechnet bis zu 190 Euro dürfte es noch reichen.

Neue Flüchtlinge vor den Toren

So könnte der Pakt mit dem türkischen Teufelchen Europa und insbesondere Deutschland eine weitere Katastrophe bescheren: Hunderttausende, vielleicht über Jahre hinweg sogar Millionen Türken und türkische Kurden, die sich auf den Weg zu uns machen. Die einen aus wirtschaftlich-sozialen Gründen oder weil sie die Erdogan-Türkei nicht mehr ertragen, die anderen, weil Erdogan einen mörderischen Krieg gegen sie führt. Und da in Deutschland sowohl die größten türkischen als auch kurdischen Gemeinden außerhalb der Türkei zu finden sind, können wir dreimal raten, wohin der Hauptteil visumfrei reisen wird. Ein klassisches Eigentor.

Und wenn jemand bleibt?

Jeder türkische Staatsbürger könnte für kurze Aufenthalte bis zu 90 Tagen in die Länder des Schengen-Raums einreisen. Der CSU-Europaabgeordnete Ferber weist auf ein weiteres Problem hin: Was geschieht, wenn jemand dann nicht mehr gehen möchte und Asyl in Deutschland beantragt? „Dann geht sofort die Diskussion los, ob die Türkei ein sicherer Herkunftsstaat ist. Dann werden uns Pro Asyl, die Linken und die Grünen mitteilen, dass es in der Türkei staatliche Verfolgung gibt. Und dann müssen wir bei jedem Türken im Einzelfall prüfen, ob er ein Kurde ist oder ob individuelle Verfolgung vorliegt“, erklärte Ferber. Stephan Mayer (CSU), innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, forderte wenigstens eine EU-weite Ein- und Ausreise-Datei, um festzustellen, ob die Ausreisen fristgerecht erfolgen. Dafür aber wäre ein biometrischer Pass für alle Türken die Voraussetzung. Die geplante Visafreiheit für die Türkei soll aber laut der „Bild„-Zeitung sogar für türkische Bürger gelten, die keinen biometrischen Pass besitzen.

Der Import von Problemen

Den Türkisch-Kurdischen Konflikt würden wir uns sicher verstärkt nach Deutschland importieren. Denn dieser Krieg ist längst auch bei uns: Nationalistische Türken mit viel zu großem Ego führten in den letzten Jahren immer wieder blutige Auseinandersetzungen gegen hasserfüllte Kurden auf deutschem Boden – und umgekehrt.

Der von Erdogan ausschließlich zu seinem Machterhalt vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Kurden, der mit äußerster Härte geführt wird und unter dem auch die Zivilbevölkerung leidet, hat Öl ins Feuer gegossen. Willkür, Mord und Folter der türkischen Sicherheitskräfte sind offenbar an der Tagesordnung. Denn, so meldete es die „FAZ“ vor kurzem, der Krieg gegen die kurdische Terrororganisation PKK ist zum Großteil eine Lüge: die PKK-Kämpfer würden sich im Nordirak verstecken, den Kampf gegen die türkische Armee führten dieses Mal „kurdische Jugendliche, die ohne Chance auf eine Arbeit sind und ohne Perspektive“, so die FAZ. Das aber bedeutet, dass die große Mehrheit der Kurden sich im Krieg mit den Türken fühlen oder befinden. Das wiederum gilt dann auch in Deutschland.

Der türkische Traum, Deutschlands Alptraum

Zur Visafreiheit sagte Ministerpräsident Davutoglu kürzlich: „Das ist ein 50, 60 Jahre alter Traum für unsere Bürger.“ Der österreichische Kurier weiß, dass in der Türkei nur rund zehn Millionen der 79 Millionen Einwohner überhaupt über Reisedokumente verfügen – weil ihnen schlicht das Geld für einen Urlaub fehlt und weil obendrein die maximal zehn Jahre gültigen Pässe so teuer sind. Selbst wenn jetzt aber viele von ihnen einen Pass beantragen würden, ist nicht klar, wie schnell ihnen biometrische Pässe ausgestellt werden könnten. Angeblich sind die türkischen Kapazitäten hier begrenzt. Genaue Zahlen, wie viele Reisepässe im Umlauf sind, kann oder will die türkische Regierung nicht herausgeben. Damit sind aber eindeutig zu viele Unbekannte in der Gleichung.

Viele Türken empfinden die aktuelle Reisepraxis mit der EU nicht ganz zu Unrecht als demütigend. Derzeit dürfen die meisten EU-Bürger visafrei in die Türkei einreisen, umgekehrt die Türken nicht. Sie durchlaufen einen aufwändigen Visumprozess. Es ist also durchaus verständlich, dass türkische Touristen und Geschäftsleute die lästige und kostspielige Visumpflicht loswerden möchten. Laut der Schweizer Zeitung „NZZ“ hat sich die Zahl der ausgestellten Visa in den Schengenraum, also in die EU, auf über 770.000 im Jahr 2014 erhöht.

Eine Peinlichkeit ohnegleichen!

Ein weiterer Nebeneffekt des erfüllten Traums: Mit der Visafreiheit würde die streng islamische AKP-Regierung Erdogans bei den Türken auch noch punkten. Die EU würde den Autokraten also belohnen. Angesichts des jüngsten Vorgehens gegen die Opposition und die Unabhängigkeit der Justiz, der wiederholten Missachtung von Gesetzen durch seine AKP-Regierung sowie der Gewalttaten und Urteile gegen kritische Journalisten und Autoren (der Bayernkurier berichtete) wäre das eine Peinlichkeit ohnegleichen!

Die Deutschen jedenfalls lehnen die Visafreiheit für die Türken ab: 70 Prozent der Befragten sind laut einer Erhebung des YouGov-Instituts für die dpa dagegen, dass Türken ohne Visum in die EU einreisen können. Nur 18 Prozent sind dafür.

Glaubwürdigkeit der EU

Die Frage, ob die EU-Kommission nun mit Rabatt die Abschaffung der Visumpflicht empfiehlt oder ohne Rabatt ablehnt, gilt deshalb auch als Glaubwürdigkeitstest für die Europäer.

Die EU kompromittiert ihre Glaubwürdigkeit als Vorbild und Fürsprecher der Demokratie in ihrem eigenen Vorhof. Das bleibt nirgendwo unbeachtet.

NZZ

Ein Rabatt welcher Art auch immer stößt einerseits allen bitter auf, denen Europas Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit oder Demokratie noch etwas bedeuten. Gibt die EU hier nach, „dann kompromittiert sie ihre Glaubwürdigkeit als Vorbild und Fürsprecher der Demokratie in ihrem eigenen Vorhof. Das bleibt nirgendwo unbeachtet“, kommentiert die NZZ und warnt vor „langfristig hohen Folgekosten“ eines Persilscheines. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer mahnte im Bayernkurier-Interview: „Unsere Grundüberzeugung und unsere Grundwerte müssen schon der Maßstab auch für unser internationales Handeln bleiben.“

Die Türkei wäre nicht mal mehr in Ansätzen eine Demokratie, sie wäre eine lupenreine Diktatur.

Erst vor wenigen Tagen warnte das Auswärtige Amt nach der Böhmermann-Affäre davor, im Türkeiurlaub „in der Öffentlichkeit Äußerungen über den türkischen Staat zu machen“. Ja, geht’s noch? Und in der Türkei laufen laut der Agentur Anadolu gerade Vorbereitungen, um die Immunität von 136 gewählten Parlamentsabgeordneten, darunter 50 von der kurdischen Partei HDP, aufzuheben und sie der gelenkten Strafjustiz übergeben zu können. Die geplante Verfassungsänderung soll nach Angaben der HDP nur einen Monat gelten und obendrein nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden können. Sollte ein Gericht die Abgeordneten verurteilen, würden mit ihnen ihre Parteien die Sitze im Parlament verlieren. Der Weg für Erdogan in die erstrebte Präsidialdiktatur wäre frei. Die Türkei wäre, wenn das tatsächlich eintreten sollte, nicht mal mehr in Ansätzen eine Demokratie, sie wäre eine lupenreine Diktatur.

Andererseits darf es den Rabatt auch deshalb nicht geben, weil in die EU strebende Länder wie die Ukraine und Georgien ebenfalls ihre Bedingungen für den Fall der Visumpflicht zu erfüllen hatten.

Aufgabe der EU-Grenzen?

Es gibt aber auch ein grundsätzliches Problem bei der Übergabe der Grenzkontrollen. „Wir können die Schlüssel für unser Territorium und unsere Sicherheit nicht an irgendwelche Drittländer abgeben“, warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk kürzlich im „Figaro“. Europäische Machtlosigkeit würde überall nur die Versuchung wecken, Europa zu erpressen. „Ich habe schon zu oft unsere Nachbarn sagen hören, Europa müsse nachgeben, sonst würde es von Migranten überflutet werden.“

Eine Hoffnung bleibt: Das Ja der EU-Kommission ist nur der erste Schritt. Zustimmen müssen auch der Rat der EU-Mitglieder sowie das Europaparlament. Vor allem aus Osteuropa, Frankreich und Österreich droht hier Ärger für Merkels Zugeständnisse. Auch die CSU hat massiven Widerstand angekündigt. Für den Fall der Nichtgewährung der Visafreiheit hat die Türkei gedroht, den Flüchtlingsdeal aufzukündigen. Europa steht vor einer Bewährungsprobe, so oder so.