Das Sozialgericht Berlin (im Bild) widerspricht dem Bundessozialgericht. Bild: Imago/Schöning
Berlin

Deutsche Gerichte streiten um Sozialhilfe für EU-Bürger

Das Sozialgericht Berlin ignoriert ein aktuelles Urteil des Bundessozialgerichts: Es entschied, dass ein in Berlin lebender Bulgare keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat, weder auf Hartz IV noch auf Sozialhilfe. Die Kritik am höheren Gericht ist hart: Der Leistungsanspruch sei „verfassungsrechtlich nicht haltbar“. Das Bundessozialgericht setze sich "über den Willen des Gesetzgebers" hinweg.

Zunächst der Fall: Der Bulgare lebte seit 2010 bei seiner Mutter in Berlin und bemühte sich, so jedenfalls die Ansicht der Richter, nicht um eine Arbeit. Im Februar 2013 beantragte er beim Jobcenter Hartz IV, also Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums. Dies wurde abgelehnt mit der Begründung, dass der Mann nur einen Status als Arbeitssuchender habe und deswegen keine Leistungen erhalten könne. So steht es ja auch im entsprechenden Sozialgesetzbuch II. Doch der Mann klagte dagegen, weil die Verweigerung gegen EU-Recht verstoße. Das Berliner Sozialgericht bestätigte nun aber die Auffassung des Jobcenters, wonach kein Hartz IV zu zahlen sei. Dieser Leistungsausschluss sei mit dem Europäischen Unionsrecht vereinbar, wie der Europäische Gerichtshof und auch der 4. Senat des Bundessozialgerichts bestätigt hätten.

Hat das Bundessozialgericht gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen?

Nun aber kam der Clou des Urteils: Zudem habe der Mann auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe, so das Berliner Sozialgericht. Diese gebe es laut deutschem Recht generell nicht für Menschen, die als arbeitsfähig gelten – beurteilt nach ihrem Gesundheitszustand. Dies habe der Gesetzgeber auch unmissverständlich in seiner Gesetzesbegründung klargestellt. Diese Auffassung jedoch ist ein klarer Widerspruch über ein erst vor wenigen Tagen gefälltes und hochumstrittenes Urteil des Bundessozialgerichts (der Bayernkurier berichtete). Danach steht EU-Bürgern zwar kein Hartz IV zu, aber nach sechs Monaten können sie durchaus berechtigt sein, Sozialhilfe zu beziehen.

Soweit das Bundessozialgericht meint, sich über diesen eindeutigen Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen zu können, ist dies verfassungsrechtlich nicht haltbar.

Berliner Sozialgericht

Das Berliner Sozialgericht belässt es aber nicht bei der Verneinung des Hartz IV-Anspruchs. Darüber hinaus wirft es dem höchsten deutschen Sozialgericht vor, „verfassungsrechtlich nicht haltbar“ geurteilt zu haben – ein höchst ungewöhnlicher Vorwurf von untergeordneten Gerichten. Nach Auffassung der Berliner Richter setzt sich das Bundessozialgericht sogar „über den Willen des Gesetzgebers“ hinweg. In der Pressemitteilung heißt es, dass damit „klar Position (…) gegen die jüngste BSG-Rechtsprechung“ bezogen werde. Durch das „Einlegen“ von Regelungszielen in eine Norm, die der Gesetzgeber gerade nicht verfolgt habe, werde die Grenze der richterlichen Gesetzesauslegung überschritten und damit „das Prinzip der Gewaltenteilung durchbrochen“. Der Kläger habe auch nicht von Verfassungs wegen einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Bei der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums komme dem Gesetzgeber nämlich ein Gestaltungsspielraum zu. Die Richter schließen sich dann der Argumentation der Kritiker des Urteils des Bundessozialgerichts an: Anders als Asylbewerbern sei es Unionsbürgern regelmäßig möglich, ohne drohende Gefahren für hochrangige Rechtsgüter in ihr Heimatland zurückzukehren und dort staatliche Unterstützungsleistungen zu erlangen. Der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil von 2014 diese Rechts- und Gesetzeslage abgesegnet. Der deutsche Staat sei deshalb regelmäßig nur zur Gewährung von Überbrückungsleistungen verpflichtet, welche insbesondere die Übernahme der Kosten der Rückreise und des bis dahin erforderlichen Aufenthaltes in Deutschland erfassten. Derartige Leistungen habe der Kläger vorliegend jedoch nicht begehrt.

Das Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, weil es vom Kläger mit der Berufung zum Landessozialgericht in Potsdam angefochten werden kann. Interessant dürfte es aber in jedem Fall werden, wie dieser Fall weitergeht.

Zum Hintergrund:

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) sieht einen Leistungsausschluss für EU-Bürger vor, die nur zur Arbeitsuche in Deutschland sind. Rechtmäßigkeit und Anwendungsbereich dieser Vorschrift waren unter den deutschen Sozialrichtern sehr umstritten. Erst zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (Rechtssache Dano vom 11.11.2014 und Rechtssache Alimanovic vom 15.9.2015) stellten klar, dass die Vorschrift mit dem Europarecht vereinbar ist. In mehreren Urteilen vom 3. Dezember 2015 entschied der 4. Senat des BSG daraufhin, dass arbeitsuchende EU-Bürger zwar keinen Hartz IV-Anspruch hätten, stattdessen aber bei einer „tatsächlichen Aufenthaltsverfestigung“ (nach sechs Monaten) Anspruch auf Sozialhilfe.

Die Politik ist erfreut

Der Münchner CSU-Bundestagsabgeordnete Bernd Fabritius sprach von „Nachhilfeunterricht“, den die Berliner Richter dem Bundessozialgericht erteilt hätten. Fabritius erhofft sich nun eine „Signalwirkung“ an die übrigen Landessozialgerichte und vor allem an die betreffenden Unionsbürger: „Die Freizügigkeit ermöglicht es vielen EU-Bürgern, in Deutschland beruflich erfolgreich zu sein und Teil der Solidargemeinschaft zu werden. Diejenigen, denen dies nicht erfolgreich gelingt, müssen ihr Glück anderswo suchen oder die sozialen Sicherungssysteme ihrer Herkunftsländer in Anspruch nehmen.“

Wir müssen damit rechnen, dass sich die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in Rumänien und Bulgarien herumspricht und der Zuzug aus diesen Staaten in unsere Sozialsysteme wieder zunimmt.

Emilia Müller

Die bayerische Arbeitsministerin Emilia Müller hatte nach dem Urteil des Bundessozialgerichts noch eine gesetzgeberische Klarstellung verlangt, um Sozialhilfe für EU-Ausländer dauerhaft einzuschränken. „Wir müssen damit rechnen, dass sich die neue Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in Rumänien und Bulgarien herumspricht und der Zuzug aus diesen Staaten in unsere Sozialsysteme wieder zunimmt“, warnte Müller in der Deutschen Presse-Agentur. „Ich habe daher die Bundesarbeitsministerin gebeten, dringend tätig zu werden.“ Aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könnten Ausländer ohne Aufenthaltsrecht nun „weitgehend unbehelligt“ Sozialhilfeleistungen beziehen, hieß es dazu in einem Brief Müllers an Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Die CSU-Politikerin schlug vor, gesetzlich festzuschreiben, dass EU-Ausländer, die von Hartz IV ausgeschlossen sind, auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt haben sollen.

Vor allem die Kommunen waren von dem Urteil des höchsten deutschen Sozialgerichts entsetzt. Sie befürchteten jährliche Mehrkosten von 500 Millionen bis zu einer Milliarde Euro.