Ein Urteil zu Hartz IV-Sanktionen löst eine neue Debatte aus. (Bild: imago images/ blickwinkel/McPHOTO)
Arbeitslose

Hartz IV: Nicht mehr als 30 Prozent kürzen

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Begrenzung von Hartz IV-Sanktionen löst die üblichen Reflexe bei den linken Parteien aus, das System ganz infrage zu stellen. Das Gericht hat jedoch Sanktionen gegen Arbeitsunwillige ausdrücklich erlaubt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte am Dienstag entschieden, dass monatelange Leistungskürzungen für Hartz-IV-Bezieher, die ihren Pflichten nicht nachkommen, teilweise verfassungswidrig sind und abgemildert werden müssen. Minderungen um mehr als 30 Prozent sind demnach mit dem Grundgesetz gänzlich unvereinbar. Auf die Jobcenter kommt nun ein enormer Aufwand zu, weil sie viel stärker auf jeden Einzelfall eingehen müssen.

Sanktionen sind aber weiter erlaubt, wie das Gericht klarstellte: „Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht.“

Debatte über Reform

Dennoch entbrannte eine Diskussion über eine Komplettreform der Grundsicherung. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigte noch für Dienstag Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit und den Ländern an. Einige Änderungen seien unmittelbar notwendig, sagte er in Karlsruhe. Während Heil und die SPD das Urteil zum Anlass für eine grundlegende Hartz-Reform nehmen wollen, mahnte die Union zur Zurückhaltung. Der CDU-Arbeitsmarktexperte Peter Weiß betonte: „Eine sogenannte Totalrevision des Arbeitslosengeldes II ist nach dem heutigen Urteil nicht angezeigt.“

Wir Jusos werden dann beantragen, dass die SPD künftig komplett auf Sanktionen verzichtet.

Kevin Kühnert

Der linksaußen positionierte Juso-Chef Kevin Kühnert hingen warnte wieder einmal davor, Hartz IV zu belassen, wie es ist. Er wolle auf dem SPD-Parteitag im Dezember über eine Abschaffung aller Hartz-IV-Sanktionen abstimmen lassen. „Wir Jusos werden dann beantragen, dass die SPD künftig komplett auf Sanktionen verzichtet und stattdessen Förderung, Ermutigung und den Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung in den Mittelpunkt stellt“, sagte Kühnert der Rheinischen Post.

Union will Sanktionen behalten

Die Union lehnt die komplette Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen ab. „Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen im Bereich des Arbeitslosengelds II insgesamt nicht in Frage stellt“, sagte Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe ebenfalls der Rheinischen Post. Die Koalition werde genau prüfen müssen, welcher gesetzgeberische Handlungsbedarf durch das Urteil ausgelöst werde. Im Vordergrund müssten aber weitere Anreize zur Arbeitsaufnahme stehen.

Wenn eine verweigerte Mitwirkung keine Folgen hat, läuft das System leer.

Kerstin Schreyer, Sozialministerin Bayern

Trotz der Karlsruher Kritik an den Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger sieht die bayerische Staatsregierung keinen grundsätzlichen Bedarf zum Umdenken. „Auch nach dem Urteil gilt weiterhin der Grundsatz des Förderns und Forderns. Das ist das Wichtigste! Denn wenn eine verweigerte Mitwirkung keine Folgen hat, läuft das System leer“, sagte Sozialministerin Kerstin Schreyer (CSU).

Das Bundesverfassungsgericht habe im Grundsatz ja auch bestätigt, dass der Gesetzgeber die Hilfe an Bedingungen und zumutbare Mitwirkungspflichten knüpfen und für den Fall der Verletzung Sanktionen festlegen dürfe. „Hartz IV ist ein Erfolgsmodell! Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2000 halbiert worden ist“, betonte Schreyer.

Damit die Jobcenter die Fälle ausreichend prüfen können, brauche es nun mehr Personal. Hier sei der Bund in der Pflicht. Um den Menschen gerecht zu werden, müsse jeder Einzelfall angeschaut werden. Das verhindere, dass Menschen durch Mitwirkungspflichten überfordert werden und Härtefälle entstehen.

Auf dem Prüfstand

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, sagte, stärkere Minderungen als 30 Prozent seien zwar nicht verfassungskonform – „aber das Thema der Mitwirkungspflichten ist verfassungskonform und das Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ auch“.

Auf mehr Förderung und Qualifizierung pochte der Sozialverband VdK Deutschland. Der Deutsche Landkreistag plädierte zur Vermeidung von Bürokratie für eine Streichung der schärferen Regelungen für Unter-25-Jährige.

Grünen-Chef Robert Habeck forderte eine grundlegende Reform. „Ich halte es für richtig, jetzt das System vom Kopf auf die Füße zu stellen“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die Linke im Bundestag will gar „umfassende Verbesserungen“ für Arbeitslose mit einem neuen „Arbeitslosengeld Plus“ – ein Füllhorn für alle. Die neue Leistung soll laut dpa nach dem Bezug des Arbeitslosengelds fließen. „So schaffen wir soziale Sicherheit und ziehen dem Disziplinierungsinstrument Hartz IV die Zähne“, sagte Vize-Fraktionsvorsitzende Susanne Ferschl der dpa.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes

Tatsächlich stellen die Richter Hartz IV in ihrem Urteil nicht grundsätzlich infrage: Arbeitslosen dürfen auch weiter geringwertige Tätigkeiten zugemutet werden, die nicht ihrem eigentlichen Berufswunsch entsprechen. Dabei haben die Karlsruher Richter auch Sanktionen ausdrücklich erlaubt, nur deren Höhe begrenzt sowie die Dauer flexibler gestaltet.

Bisher waren die Regeln wie folgt: Nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ sanktionierten die Jobcenter seit 2005 unkooperative Hartz-IV-Empfänger, indem sie ihnen den Geldhahn zudrehten. Wer ein Jobangebot ausschlug oder eine Fördermaßnahme ablehnte, lief Gefahr, dass ihm 30 Prozent des Regelsatzes gestrichen wurden. Wer innerhalb eines Jahres mehrfach negativ auffiel, verlor bisher 60 Prozent oder sogar das gesamte Arbeitslosengeld II, auch die Kosten für Unterkunft und Heizung. Einmal verhängt, galt eine Sanktion grundsätzlich drei Monate.

Das werde den strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht, sagte nun Vizegerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Urteilsverkündung. Der Gesetzgeber dürfe zwar „von Menschen verlangen, dass sie die Brücke in die Erwerbsarbeit beschreiten“ und „an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen“, sowie zur Durchsetzung grundsätzlich auch Leistungsminderungen vorsehen. „Wenn er das im Bereich des grundrechtlich geschützten Existenzminimums sanktioniert, darf er aber nicht zu weit gehen.“ Das sei bei Minderungen über 30 Prozent sowie bei einer starren 3-Monats-Sperre aber der Fall.

Die Vorschriften müssen nun überarbeitet werden. Für die Übergangsphase regelt das Verfassungsgericht die Praxis selbst. Minderungen um 60 oder 100 Prozent dürfen demnach ab sofort nicht mehr verhängt werden, bis-zu-30-Prozent-Sanktionen bleiben möglich. Die Jobcenter müssen dabei im Einzelfall aber besondere Härten berücksichtigen und gegebenenfalls auf die Sanktion verzichten – ein hoher Arbeitsaufwand. Außerdem darf die Kürzung nicht volle drei Monate aufrechterhalten werden, wenn der Empfänger seine Mitwirkungspflicht erfüllt oder seine „ernsthafte“ Bereitschaft dazu zeigt. Mit sofortiger Wirkung darf der Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 424 Euro pro Monat für Alleinstehende demnach nur noch um maximal 30 Prozent, also 127 Euro gekürzt werden. Die restlichen 297 Euro können jetzt auch dann nicht mehr gekürzt werden, wenn die Betroffenen jede Mitwirkung ablehnen. Insgesamt bezogen zuletzt knapp 5,4 Millionen Menschen Hartz IV.

Das letzte Wort ist nicht gesprochen: In dem Verfahren ging es nicht um kleinere Verfehlungen wie einen verpassten Termin beim Jobcenter oder beim Arzt, die mit einer zehnprozentigen Kürzung geahndet werden. Überprüft wurden auch nicht die besonders scharfen Sanktionen für junge Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren. Arbeitsminister Heil sagte aber, er gehe von Auswirkungen auch bei den Unter-25-Jährigen aus. Die Koalition werde in Ruhe besprechen, „was das an gesetzgeberischer Weiterentwicklung bedeutet“. Die CSU hatte im Vorfeld Widerstand gegen die Änderung der Regeln für junge Leistungsbezieher angekündigt.