Ungebrochener Zustrom: Hunderte Migranten protestieren an der mazedonischen Grenze, weil nur Kriegsflüchtlinge weiterreisen dürfen. Bild: Imago/Pixsell
Asylpolitik

Neue Flüchtlingswelle im Winter

Entwicklungsminister Gerd Müller befürchtet eine neue Flüchtlingswelle im Winter. Die Zahl der registrierten Zuwanderer steigt auf mehr als 950.000. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann stellt klar: Jedes Kontingent bedeutet eine Obergrenze. Wegen des massiven und anhaltenden Flüchtlingsansturms wird es deutlich mehr Arbeitslose geben, befürchtet Sozialministerin Nahles.

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) geht davon aus, dass durch den Flüchtlingsansturm auch die Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängerzahlen stark in die Höhe gehen werden. Vor der Debatte über den Sozialetat im Bundestag – mit über 41 Prozent erneut der größte Einzelposten des Bundeshausalts – erklärte sie in Interviews, sie rechne bis 2019 sogar mit bis zu einer Million zusätzlichen Hartz-IV-Beziehern. Insgesamt steuert der Bund 2016 zur Bewältigung der Flüchtlingskrise fast 8 Milliarden Euro bei, 3,3 Milliarden für zusätzliche Ausgaben wie Hartz IV.

Bei den Haushaltsberatungen im Bundestag selbst gab sich Nahles dann wieder ideologisch unbeweglich und wies Forderungen nach Aufweichungen beim Mindestlohn für Flüchtlinge strikt zurück. „Der Mindestlohn gilt für alle, egal welchen Pass jemand mitbringt“, betonte Nahles trotzig. Die Arbeitgeber hatten gefordert, dass für Flüchtlinge Sonderregelungen beim 8,50-Euro-Mindestlohn wie für Langzeitarbeitslose gelten sollen. Die Ausnahmen sollten nach dem Willen der Arbeitgeber zudem von sechs auf zwölf Monate verlängert werden. Laut einer aktuellen Umfrage des ifo-Instituts unter deutschen Unternehmen wird der Mindestlohn vor allem in der Baubranche im Osten (55 Prozent) und im dortigen Handel (62 Prozent) als Einstellungshindernis für Flüchtlinge angesehen.

Müller fordert zehn Milliarden für menschliche Flüchtlingslager vor Ort

Unterdessen hat Bundesentwicklungsminister Gerd Müller die Situation in den Flüchtlingslagern im Libanon, in Jordanien und in der Türkei als beschämend und unmenschlich bezeichnet. Der CSU-Politiker sagte der Augsburger Allgemeinen, die Lage dort sei „dramatisch“. „Es gibt keine Winterzelte, stattdessen leben die Menschen in Nässe und im Dreck“, sagte Müller weiter. Die UNO-Helfer könnten inzwischen Hunderttausende nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgen. Anderen würden die Rationen gekürzt. Daher könnte es trotz winterlicher Witterung zu einem stärkeren Ansturm nach Europa kommen.

Sonst laufen alle davon in Richtung Europa oder es verlieren viele Tausende Menschen ihr Leben.

Gerd Müller, Bundesentwicklungsminister

Auch drohe wegen der unhaltbaren sanitären Zustände vor Ort „ein Ausbruch der Cholera“. Der Minister bekräftigte seine Forderung nach einem EU-Sofortprogramm in Höhe von zehn Milliarden Euro, um die Nachbarländer Syriens zu stabilisieren: „Sonst laufen alle davon in Richtung Europa oder es verlieren viele Tausende Menschen ihr Leben.“ Müller hatte beim Forum „Migration“ am CSU-Parteitag vorgerechnet, jeder vor Ort für die Flüchtlinge investierte Euro spare Deutschland 30 Euro an Kosten im eigenen Land.

Neuer Rekord: 950.000 Zuwanderer, 20 mal mehr als 2010

Derweil wurde bei der elektronischen Registrierung von Flüchtlingen im sogenannten „Easy“-System der Länder für 2015 die Zahl von 950.000 Immigranten überschritten, wie die Welt berichtet. Allein vom 1. bis 24. November reisten demnach 193.000 Menschen illegal ein. Die Zahl von 950.000 für 2015 markiert eine Verzwanzigfachung (!), also eine Zunahme um 2000 Prozent gegenüber 2010. Damals sind rund 45.000 Asylbewerber nach Deutschland gekommen.

Zu der Zahl von 950.000 kommt noch eine unklare Zahl von unregistrierten und illegal im Land befindlichen Einwanderern mit unbekanntem Aufenthaltsort – Experten schätzen sie auf 200.000 bis 300.000. Andererseits gehören zu der Zahl von 950.000 auch Doppelregistrierungen sowie die einigen 10.000 Immigranten, die beispielsweise nach Schweden weitergereist sind. Bemerkenswert: Von der knappen Million Eingewanderter heuer haben bisher erst 362.000 Menschen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asyl beantragt.

Sogwirkung durch Merkels Grenzöffnung im September

Wie aus einer Analyse der Welt hervorgeht, hat sich die Sogwirkung des deutschen Asylrechts massiv verstärkt, seit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Nacht zum 5. September dieses Jahres gemeinsam mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann beschloss, die Grenzen zu öffnen: Wurden von Januar bis August rund 413.000 Asylsuchende registriert, waren es seit September schon mehr als 530.000.

In jener Nacht hatten sich in Ungarn Hunderte Migranten auf den Weg nach Österreich gemacht – zu Fuß, auf der Autobahn. Faymann rief in Berlin an und einigte sich mit Merkel, dass den Flüchtlingen in Deutschland Zuflucht gewährt werde. Diese Entscheidung gilt vielen als humanitärer Akt, Kritiker hingegen sehen darin einen folgenschweren Fehler, der noch mehr Migranten und Flüchtlinge ermutigte, nach Deutschland zu kommen.

Allein 2015 kamen mehr Asylbewerber als zwischen 1953 und 1989 insgesamt

Weiteres Ergebnis der Welt-Analyse: Allein 2015 sind mit den registrierten 950.000 mehr Asylbewerber und andere illegale Immigranten nach Deutschland gekommen als von 1953 bis 1989 zusammen. Von der Einführung des gesetzlich geregelten Asylverfahrens im Jahr 1953 bis zum Fall der Berliner Mauer kamen insgesamt rund 900.000 Schutzsuchende. In der Zeit von 1990 bis 2014 waren es rund 3,2 Millionen. Bereits seit 2007 steigt die Zahl der Asylanträge Jahr für Jahr an, doch niemand hätte jemals mit dem derzeitigen Massenzustrom gerechnet.

Ob dem einzelnen Beobachter das passt oder nicht: Die „deutsche“ Gesellschaft wird sich durch den Massenzustrom nachhaltig ändern. Wenn man – konservativ geschätzt – von einer Million Immigranten 2015 ausgeht, werden heuer deutlich mehr Menschen nach Deutschland einwandern als im Land geboren werden: Statistiker rechnen mit 750.000 Geburten, ein Drittel davon wiederum mit Migrationshintergrund. Rechnet man dabei mit, dass der Großteil der Immigranten Moslems sind, braucht es nicht viel Phantasie, um zu prognostizieren, dass sich auch das kulturelle Klima von der christlich-abendländischen Tradition wegentwickeln wird.

Soziale Verwerfungen drohen

Die Massenzuwanderung wird umfassende Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialsystem haben. Optimisten werden zwar nicht müde, die große Zahl an „Fachkräften“ unter den Migranten zu beschwören. Doch selbst Arbeitsministerin Nahles musste schon zugeben, dass der vielzitierte „syrische Arzt“ die große Ausnahme ist und dass gut 90 Prozent der Zuwanderer nicht unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen sind. „Ein Modellprojekt der Bundesagentur für Arbeit hat gezeigt, dass von 850 Flüchtlingen 65 direkt ohne weitere Maßnahmen vermittelt werden konnten, 13 davon in Ausbildung“, schilderte Nahles in der Deutschen Handwerks-Zeitung ihre ernüchternden Erkenntnisse.

Das Nachsehen dürften, wie kürzlich der Zukunftsforscher Prof. Dr. Franz-Josef Radermacher bei der CSU-Grundsatzkommission sagte, die Angehörigen der bereits in Deutschland lebenden Unterschicht haben, unabhängig ob eingesessene Deutsche oder Nachfahren der Gastarbeiter (Bayernkurier berichtete). Für sie werde die Konkurrenz spürbar härter werden, so Radermacher: Auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, bei Sozialämtern sowie bei wohltätigen Organisationen wie „Tafeln“ für Lebensmittel und so weiter. Dabei könne es langfristig zu erheblichen sozialen Unruhen kommen, warnte Radermacher.

Deutschland trägt den größten Teil der Flüchtlingslast

Noch einen sehr aussagekräftigen Vergleich stellt die Welt an: Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden im Jahr 2014 genau 866.020 Asylanträge in den 44 wichtigsten Industriestaaten gestellt. Diese sind die Länder Europas (714.260 Anträge), die Türkei (87.820), die USA (121.160), Kanada (13.450), Australien (8960), Neuseeland (290), Australien (8960), Japan (5000) und Südkorea (2900). Damit ist klar: Allein 2015 kommen mit 950.000 mehr Immigranten nach Deutschland als 2014 in die 44 wichtigsten Industriestaaten gemeinsam. Schaffen wir das?

Wir nehmen derzeit in Hessen in zwei Monaten mehr Flüchtlinge auf als Großbritannien und Frankreich im ganzen Jahr.

Volker Bouffier

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sagte vor Kurzem dazu: „Wir nehmen derzeit in Hessen in zwei Monaten mehr Flüchtlinge auf als Großbritannien und Frankreich im ganzen Jahr.“ Einschränkend muss man allerdings darauf hinweisen, dass viele Flüchtlinge in den Staaten der Dritten Welt bleiben, die in dieser Statistik nicht auftauchen. In Staaten, die kein Asylsystem haben und sich daher nicht um die Flüchtlinge kümmern, betreut das UNHCR die Flüchtlinge.

Herrmann begrüßt Kontingent-Obergrenzen

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) begrüßte Flüchtlingskontingente als ein Mittel, um zu der von seiner Partei geforderten Obergrenzen zu kommen. Herrmann befürwortete die Einführung von Kontingenten. „Daraus ergeben sich zugleich Obergrenzen“, sagte Herrmann der FAZ. Flüchtlinge müssten auch künftig innerhalb Deutschlands nach einem festen Schlüssel auf die Bundesländer verteilt werden, „woraus sich auch Obergrenzen für jedes Land ergeben“, sagte Herrmann.

In Verbindung mit einer wirksamen und strikten Sicherung der europäischen Außengrenzen können Kontingente daher bewirken, dass der Flüchtlingszuzug nach Europa begrenzt wird.

Ansgar Heveling

Auch der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, Ansgar Heveling (CDU), zeigte sich in der FAZ von dem Vorschlag angetan. Das geltende Asylrecht berechtige nicht ohne Weiteres zur Einreise nach Deutschland. „In Verbindung mit einer wirksamen und strikten Sicherung der europäischen Außengrenzen können Kontingente daher bewirken, dass der Flüchtlingszuzug nach Europa begrenzt wird“, sagte er. Kontingente setzten daher eine Einigung der europäischen Staaten untereinander und eine strikte Sicherung der europäischen Außengrenzen voraus. „Dann könnte der ungeordnete Übertritt über unsere deutschen Grenzen weitgehend unterbunden werden“, so Heveling.

Städtetag: Zuwanderung reduzieren

Laut dem Deutschen Städtetag sind vielerorts die Unterbringungsmöglichkeiten erschöpft und die Grenzen der Leistungsfähigkeit erreicht. Das Präsidium und der Hauptausschuss des Deutschen Städtetages forderten deshalb, die Flüchtlingszuwanderung Richtung Deutschland müsse besser gesteuert und insgesamt deutlich verringert werden. Außerdem halten die Städte es für nötig, die Integrationspolitik neu auszurichten, um die Integration der zahlreichen Menschen mit Bleibeperspektive erfolgreich gestalten zu können. Bund und Länder müssten ihre Ausgaben für Maßnahmen der Integration erheblich ausweiten, damit die Kommunen finanziell in die Lage versetzt werden, die notwendigen Integrationsleistungen zu erbringen.

Die Außengrenzen der EU sind wirksam zu schützen. Und es müssen endlich Perspektiven sichtbar werden für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU.

Eva Lohse

Die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeisterin Eva Lohse aus Ludwigs­hafen, erklärte nach der Sitzung der Spitzengremien in Hamburg: „Eine weitere Zuwanderung wird nur zu bewältigen sein, wenn sie erheblich wirkungsvoller gesteuert und reduziert wird. Die Asylpakete 1 und 2 enthalten wichtige und richtige Schritte auf nationaler Ebene: Schnellere Asylverfahren, mehr Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen und effektivere Rückführungen von Menschen ohne Bleibeperspektive sind elementar. Hier brauchen wir rasch größere Fortschritte, damit sich die Kommunen auf Flüchtlinge konzentrieren können, die unseren Schutz brauchen.“

Daneben bräuchten die Städte aber auch „unbedingt wirksame Maßnahmen, die bei den Fluchtursachen ansetzen und innerhalb der EU. Denn unser Land und seine Kommunen dürfen nicht überfordert werden“. Vor allem eine Befriedung der Konfliktregionen würde die Flüchtlingsbewegung wirksam verringern. Bis dahin müsse die Aufnahme von Flüchtlingen in den Nachbarländern der Konfliktstaaten gefördert werden, um ihnen dort akzeptable Lebensbedingungen zu bieten.

Städte beklagen Hunderttausende unregistrierte Zuwanderer

„Die Außengrenzen der EU sind wirksam zu schützen. Und es müssen endlich Perspektiven sichtbar werden für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Das ist ein entscheidender Prüfstein für den solidarischen Zusammenhalt in der Europäischen Union“, betonte Städtetagspräsidentin Lohse. Für eine bessere Steuerung der Fluchtbewegungen müssten Asylbewerber und Flüchtlinge schon an den Außengrenzen der EU verlässlich registriert werden.

Außerdem dürfe nicht länger zugelassen werden, dass sich Hunderttausende von Flüchtlingen unregistriert in Deutschland aufhalten. Die Städte erwarten außerdem einen hohen Anstieg bei den Ausgaben für die Unterkunftskosten laut Hartz IV. Sie fordern den Bund auf, den flüchtlingsbedingten Anstieg der Unterkunftskosten voll zu übernehmen.

dpa/Welt/FAZ/wog