Thomas Silberhorn ist Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. (Foto: Bundeswehr/Sebastian Wilke)
Verteidigung

„Europäischer werden und transatlantisch bleiben“

Interview US-Präsident Trump hat angekündigt, den INF-Vertrag von 1987 zu kündigen, der die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenraketen vorsah. Wie reagiert Europa? Der BAYERNKURIER hat dazu mit Verteidigungsstaatssekretär Thomas Silberhorn gesprochen.

Herr Silberhorn, als der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow 1987 den INF-Vertrag zur kompletten Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenraketen zwischen 500 und 5500 Kilometern Reichweite in Europa unterzeichneten, war die Erleichterung groß. Was bedeutet es für Europa, wenn der heutige US-Präsident Trump das Abkommen kündigen will?

Landgestützte Mittelstreckenraketen sind Waffen, die von Russland aus nahezu jedes Ziel in Europa erreichen können. Insofern ist der INF-Vertrag gerade für uns Europäer ein überaus wichtiges Element der Rüstungskontrolle und eine bedeutende Säule der europäischen Sicherheitsarchitektur. Das gilt umso mehr, als sich die sicherheitspolitische Lage für Deutschland und Europa in Folge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland deutlich verändert hat. Das aggressive russische Verhalten beunruhigt insbesondere unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn, aber auch uns. In dieser Situation kann die Kündigung des INF-Vertrages durch die USA nicht im deutschen und europäischen Interesse sein.

Stimmen Sie dem US-Präsidenten Trump in der Einschätzung zu, dass sich Russland sowieso nicht an das Abkommen gehalten hat?

Die Einschätzung, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstößt, ist keine exklusive Position der USA. Die Nato hat im Sommer dieses Jahres erklärt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer russischen Vertragsverletzung ausgegangen werden kann. Dennoch hätte eine Beendigung des Vertrages weitreichende Konsequenzen. Die Kontroverse ist Ausdruck eines Mangels an Transparenz und Vertrauen zwischen den Vertragsparteien.

Mit unreflektierter Aufrüstung wird es keinem Land oder Bündnis gelingen, den heute ganz unterschiedlichen Sicherheitsrisiken zu begegnen.

Thomas Silberhorn (CSU), Verteidigungsstaatssekretär

Sie könnte zudem eine Kaskade auslösen: Denn sollte ein Instrument der Rüstungskontrolle fallen, könnte anderen Instrumenten ein ähnliches Schicksal drohen. 2021 läuft der „New START-Vertrag“ zur Begrenzung strategischer Nuklearwaffen aus. Negative Auswirkungen einer INF-Kündigung sind nicht auszuschließen. Deshalb müssen wir über die Folgen sorgfältig mit unseren Nato-Partnern beraten.

Im Nachhinein wurde das INF-Abkommen als wichtiger Schritt zur Beendigung des Kalten Krieges gewertet. Befürchten Sie nun ein neues Wettrüsten zwischen den Supermächten?

Das ist durchaus möglich. Aber die Blockbildung aus Zeiten des Kalten Krieges, in dem sich zwei Militärblöcke feindlich gegenüberstanden, gibt es heute so nicht mehr. Wir leben in einer multipolaren Weltordnung – mit weiteren Atommächten. Mit unreflektierter Aufrüstung wird es keinem Land oder Bündnis gelingen, den heute ganz unterschiedlichen Sicherheitsrisiken zu begegnen. Dazu zählen zum Beispiel islamistischer Terrorismus, Bedrohungen aus dem Cyber-Raum oder unkontrollierte Migrationsströme, ausgelöst durch Bürgerkriege, Hungersnöte, Umweltkatastrophen oder Folgen des Klimawandels. Auf diese Bedrohungen werden die Staaten nicht mit der Anhäufung von immer mehr konventionellen oder nuklearen Waffen reagieren können. Dazu bedarf es wesentlich differenzierterer Ansätze. Und ob Russland mit seiner Wirtschaftskraft, die Südkorea entspricht, als eine Supermacht bezeichnet werden kann, darf bezweifelt werden.

Grundsätzlich: Hat die Nato mit der Führungsmacht USA noch eine Chance? Anders gefragt: Wird die Nato Präsident Trump und seinen isolationistischen Kurs überleben?

Die Zusammenarbeit in der NATO ist derzeit herausfordernder als in früheren Zeiten. Aber in der Sache stehen die Mitgliedstaaten zusammen. Unsere gemeinsamen Werte – Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – bilden ein stabiles Fundament. In der Praxis funktioniert die Zusammenarbeit nach wie vor ausgezeichnet. Gerade führen über 50.000 Soldaten der Nato-Mitgliedstaaten und Partner in Norwegen die Großübung „Trident Juncture“ durch. Deutschland ist mit 8000 Männern und Frauen dabei. Das zeigt doch, dass das Bündnis lebt und von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wird, auch nicht von den USA.

Europäischer werden und transatlantisch bleiben – das ist die Richtung, in die wir gehen wollen.

Thomas Silberhorn

Abgesehen davon haben wir als Deutsche und Europäer keine Alternative zur Nato. Donald Trump liegt ja vollkommen richtig mit seiner Forderung an uns, mehr für unsere eigene Sicherheit zu tun. Das machen wir auch, sowohl national als auch im EU-Kontext, insbesondere mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit PESCO. Die EU hat ihre sicherheitspolitischen Stärken, nicht zuletzt durch die Verzahnung von militärischem und zivilem Engagement. Doch beide Bündnisse sind komplementär zueinander. „Europäischer werden und transatlantisch bleiben“ – das ist die Richtung, in die wir gehen wollen.

Der Historiker Michael Stürmer beklagt in der „Welt“, dass Deutschland seit 1990 zusichert, „fortan müsse deutsche Politik Verantwortung und Führung übernehmen und größer denken als gewohnt“, aber im Grunde nichts in der Richtung passiert sei. Was würden Sie sagen: Wie steht Deutschland da? Muss die Bundeswehr nicht entscheidend besser ausgerüstet werden angesichts der neuen Gefahrenlage?

Die Bundeswehr musste einen Schrumpfkurs von 25 Jahren seit der deutschen Einheit hinnehmen – von über 500.000 auf unter 180.000 Soldaten und von 2,4 auf 1,23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei den Ausgaben. Seit 2015 geht es wieder aufwärts. Bei Personal, Material und Finanzen sind die Trendwenden eingeleitet. Bis 2024 wollen wir auf 198.000 Soldaten und 1,5 Prozent des BIP für Verteidigung aufwachsen. Dabei setzen wir auf Vollausstattung und beenden die Mangelverwaltung durch „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“. Der Verteidigungshaushalt 2018 stieg bereits um zwei Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr, der Haushalt 2019 soll um weitere vier Milliarden Euro zulegen. Weitere 15 Milliarden Euro bis 2024 müssen allerdings noch mobilisiert werden. Das ist unabdingbar, damit die Truppe so ausgestattet werden kann, dass sie neben ihren Beiträgen zur internationalen Krisenprävention gleichrangig auch ihre Verpflichtungen zur Landes- und Bündnisverteidigung erfüllen kann.

Wenn allein die Bundeswehr 4500 Cyberangriffe am Tag abwehren muss und sogar demokratische Wahlen aus dem Ausland gezielt beeinflusst werden, dann wächst das Verständnis für neue Bedrohungen.

Thomas Silberhorn

Wir müssen die zusätzlichen Mittel aber auch effizienter einsetzen als in der Vergangenheit. Deshalb arbeiten wir daran, die Vielfalt der großen Waffensysteme deutlich zu reduzieren. Gemeinsame Plattformen ermöglichen koordinierte Entwicklung und Produktion, gemeinsame Ausbildung und Übung und günstigere Wartung und Instandhaltung. Hier müssen wir in Europa einfach besser werden. Richtig ist, dass sich die deutsche Bevölkerung nicht unbedingt bedroht fühlt. Doch wenn allein die Bundeswehr 4500 Cyberangriffe am Tag abwehren muss und sogar demokratische Wahlen aus dem Ausland gezielt beeinflusst werden, dann wächst das Verständnis für neue Bedrohungen. Und wer mit offenen Augen auf die Konflikte an der Peripherie Europas schaut, der wird sofort erkennen, dass wir ein Interesse daran haben und auch etwas dafür tun müssen, dass in unserer Nachbarschaft Stabilität und Friede herrscht. Deshalb ist die Bundeswehr im Baltikum präsent und vom Kosovo über den Nahen Osten bis zur Sahelzone im Einsatz.