In der Europäischen Union will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den gegenseitigen militärischen Beistand stärken. Dabei schwingt im militärisch zu selbstbewussten Nachbarland stets auch mit, dass man sich von den USA lösen will und auf französische Führung setzt. Doch das ist ein Trugschluss.
„Hirntod“ allerorten
Kürzlich bezeichnete Macron die NATO als „hirntot“ und forderte mehr europäische Eigenständigkeit in Verteidigungsfragen. Diskutiert werden müsse die Frage der transatlantischen Beziehungen, der Umgang mit dem Bündnispartner Türkei sowie das Verhältnis zu Russland.
Macron hält angesichts des amerikanischen Rückzugs aus Syrien und des türkischen Angriffskrieges gegen die Kurden die sicherheitspolitische Koordinierung im Bündnis für völlig unzureichend. Zurecht: Beide Aktionen wurden nicht mit den NATO-Partnern abgesprochen, die Türkei gefährdet überdies mit ihrem Angriff die Erfolge im gemeinsamen Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Hinzu kommt, dass die Türkei zuletzt auch eine Weiterentwicklung von Nato-Verteidigungsplänen für Osteuropa blockierte, um im Gegenzug mehr Unterstützung für ihren Krieg zu bekommen.
Nur teilweise richtig
Zwar hat Macron teilweise recht: Es braucht mehr europäische Eigenständigkeit und Verteidigungsbereitschaft. Ganz offensichtlich braucht es auch wieder mehr Absprachen in der NATO. Zudem sind die USA derzeit in der Tat kein zuverlässiger Partner mehr, was sich aber schon unter dem nächsten US-Präsidenten ändern könnte.
Doch der Franzose liegt auch falsch. Im Economist hatte Macron gesagt, aus seiner Sicht habe Europa die Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, unter anderem wegen der starken französischen Streitkräfte. Dieses Ziel hatte er ja bereits früher angedeutet: Eine europäische Armee unter französischer Führung.
Doch zumindest derzeit ist Europa Lichtjahre davon entfernt, sich trotz der militärischen Beistandsklausel in Artikel 42.7 des EU-Vertrages selbst verteidigen zu können – oder sich wenigstens auf eine europäische Armee zu verständigen. Französische Armee hin oder her. Natürlich muss der europäische Pfeiler der NATO stärker werden, Fähigkeitslücken finden und einige Dinge klären, wie etwa die Haltung zu Cyber-Angriffen. Aber es fehlen derzeit die nötigen Kommandostrukturen, moderne Waffen in ausreichender Zahl und vor allem der nukleare Schutzschirm Amerikas. Denn das kleine britische und französische Arsenal taugt dazu nicht.
Der Russland-Fehler
Völlig falsch liegt Macron in Bezug auf Russland. Kurz vor dem Nato-Gipfel erklärte Frankreichs Präsident in tiefster Überzeugung, Russland und China seien nicht mehr der Feind, sondern der internationale Terrorismus. Er forderte eine „neue Architektur des Vertrauens“ und einen „klarsichtigen, robusten, fordernden Dialog“ gegenüber Russland. Macron stellte die rhetorische Frage, ob Europa dadurch sicherer geworden sei, dass der Dialog mit Russland jetzt einige Jahre gefehlt habe. Man muss Macron entgegnen: Nein, natürlich nicht, aber das lag ja nicht an der NATO. Denn nicht die NATO hat Massenvernichtungswaffen in europäischen Hauptstädten zur Ermordung unliebsamer Oppositioneller eingesetzt, europäische Wahlen beeinflusst, Rechtspopulisten finanziert, Fake-News über Propagandasender und soziale Medien verbreitet und Cyber-Angriffe gegen EU-Länder und deren Institutionen ausgeführt.
Den Dialog habe er, so der eitle Franzose weiter, „ohne naiv zu sein“, deshalb begonnen. Ende Oktober hatte er einen Brief an Putin geschrieben – ohne die von ihm selbst geforderte Absprache mit der NATO, die er nur über Kopien informierte –, wonach dessen Vorschlag für ein Moratorium für Mittelstreckenwaffen in Europa es verdiene, „eingehend geprüft zu werden“. Dabei bezeichnen viele europäische Diplomaten Putins Offerte als „vergiftet“ und „hinterlistig“. Denn alle anderen 28 Nato-Mitglieder teilen die amerikanischen Erkenntnisse, dass Russland den INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen seit Jahren bricht und bereits Dutzende Abschussrampen und Marschflugkörper vom Typ SSC-8 stationiert hat, die jedes europäische Land außer Portugal erreichen können. Ein Moratorium würde diesen russischen Vorteil also nur zementieren.
Bewusste Ignoranz
Einerseits ignorieren Macrons Alleingänge nach eigenen Angaben sogar bewusst die Sorgen der Osteuropäer und Skandinavier vor russischen Aggressionen ähnlich des Kreml-Krieges gegen die Ukraine. Für sie ist die NATO die Lebensversicherung vor dem kriegslüsternen russischen Diktator mit seinen Alpträumen vom großsowjetischen Reich. Ende Juni hatte Putin in einem wenig beachteten Interview mit US-Regisseur Oliver Stone, das die Zeitung Die Welt wiedergab, offenbar gesagt: „Ich bin der Meinung, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind … genau genommen eine Nation.“ Und weiter: Angesichts dieser historischen Verbindung solle man versuchen, „irgendeine Art von Eingliederung“ voranzutreiben. Was das bedeutet, hat die Krim-Besetzung deutlich gemacht. Auch in NATO-Staaten wie den drei baltischen Ländern ließen sich solche „Verbindungen“ finden, dazu größere russische Minderheiten, die man dann „beschützen“ kann.
Die Einheit der NATO wird also immer wichtiger angesichts der sich häufenden Warnungen, dass es Russland künftig nicht bei zivilen Attacken und militärischen Einschüchterungen und Nötigungen belassen könnte.
Das Wesentliche: Alle für einen und einer für alle.
Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär
Andererseits hat Putin nun sein Ziel erreicht, einen Keil in die Europäer zu treiben, um sie zu schwächen. Auch wenn Macron jetzt betonte, er habe „keine Sympathie“ für Putins Moratorium, sondern wolle nur eine Gesprächsbasis aufbauen, wird Osteuropa den Franzosen künftig misstrauen.
Die NATO ist der Eckpfeiler europäischer Sicherheitsarchitektur, daran ändern französische Eitelkeiten nichts. Die Zusammenarbeit und die Freundschaft mit den Amerikanern ist unabdingbar. Eine rein europäische Verteidigung ist ein überaus gefährliches Abenteuer, solange in Russland ein Diktator herrscht. Es ist und bleibt so, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte: Eine starke EU und eine starke NATO sind zwei Seiten derselben Medaille. „Die Stärke der NATO ist es ja gerade, dass es uns immer gelungen ist, sich auf das Wesentliche zu einigen und das ist der gegenseitige militärische Beistand: Alle für einen und einer für alle.“ Ein Motto aus dem Roman „Die drei Musketiere“, allesamt Franzosen.