Alles geht schief (v.l.): Manuela Schwesig, Thomas Oppermann und Katarina Barley beim Versuch, das SPD-Programm vorzustellen. (Bild: Imago/Metodi Popow)
SPD

Programm jenseits der Realität

Ziemlich chaotisch lief die Präsentation des SPD-Programmentwurfs für die Bundestagswahl. Inhaltlich gab es keine Überraschungen außer der Wiederentdeckung der Inneren Sicherheit durch die Genossen. Eine Analyse des Leitantrags.

Nichts lief für die SPD, wie es sollte: Nach drei verlorenen Landtagswahlen und der vergeblichen Suche nach dem entgleisten Schulz-Zug sollte nun ein Entwurf des SPD-Wahlprogramms zur Bundestagswahl am 24. September her, um endlich Ideen, Entschlossenheit und Tatkraft zu demonstrieren. Um 14 Uhr am Montag sollte ursprünglich das Pressegespräch zum Programm stattfinden, doch schon am Sonntagabend wurde es kurzfristig abgesagt. Montag morgen verlautete dann: Findet doch statt. Der Grund sei ein Irrtum über die Äußerung eines Mitarbeiters zur Uhrzeit gewesen.

Bombenalarm und verwirrte Genossen

Dann, am Montag, gab es Bombenalarm, kurz bevor die Beratungen zum Wahlprogramm beginnen sollten. In der Poststelle des Willy-Brandt-Hauses lag ein merkwürdiger Gegenstand. Die Polizei kam, Sirenen heulten im Gebäude. Minister, Spitzenbeamte und ihre Mitarbeiter mussten fast eineinhalb Stunden auf dem Bürgersteig ausharren. Später stellte sich heraus, es war zum Glück keine Bombe, sondern ein selbst gebauter Spendenkasten, den vermutlich ein „Spaßvogel“ an die SPD geschickt hatte.

Ich finde, wir haben ein starkes Programm vorgelegt, vielleicht das beste seit Willy Brandt.

Thomas Oppermann, SPD

Gut vier Stunden nach dem Bombenalarm hatten dann endlich die Leiter der Programmkommission, SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, Fraktionschef Thomas Oppermann und Familienministerin Manuela Schwesig, die Presse zusammengerufen und 71 Seiten mitgebracht – das vom Vorstand einstimmig beschlossene Ergebnis von angeblich zwei Jahren Beratung. Ein paar Minuten später war die Vorstellung des Leitantrages schon beendet. Auf dem Deckblatt des laut Oppermann „wahrscheinlich besten Programms seit Willy Brandt“ hatte sich ein erster winziger Fehler eingeschlichen: Anstelle des Schulz-Slogans „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ stand da: „Mehr Zeit für Gerechtigkeit“. Gut, das ist Wortklauberei.

Im Frühjahr hätte allein das Thema Gerechtigkeit unter den vielen Schulz-Jüngern noch Begeisterung ausgelöst. Doch nun war die Partei sichtbar bemüht, ihr Angebot an die Wähler zu verbreitern. Die NRW-Wahl hatte gezeigt, dass die Angst vor Verbrechen, vor Terroristen, der Ärger über kaputte Schulen und Straßen die Menschen im Alltag weit mehr bewegt als das Jahrhunderte alte Kampfthema der Genossen. Doch weiter ging es mit den Pannen: Ein Interview von Thomas Oppermann wurde gnadenlos von einer Blaskapelle unterbrochen, als er gerade zum Loblied auf das Programm ansetzte.

Das gerade frisch fertiggestellte Wahlprogramm ist heute Morgen von Partei-Hund Willy zerfetzt und teilweise gefressen worden.

Der Postillon, Satirebeitrag zum SPD-Chaos

Und wo war eigentlich Kanzlerkandidat Martin Schulz? Bei der Vorstellung des Programms, das dem Kandidaten doch auf den Leib geschneidert sein soll, ließ er sich erst am späten Nachmittag im Willy-Brandt-Haus blicken. Der Herausforderer der Kanzlerin ließ erneut eine Gelegenheit zur Eigenwerbung ungenutzt. Die versammelte Presse wunderte sich.

Die Inhalte

Die Vorschläge seien ein „klares Kontrastprogramm“ zu den Ideen von CDU und CSU, behauptete Oppermann. In ländlichen Räumen brauche es schnelles Internet, Daseinsvorsorge und Gesundheitsversorgung. All diese SPD-Ziele setzt die CSU in Bayern zwar schon seit vielen Jahren um, aber das spielte hier in Berlin keine Rolle.

Entweder hat Martin Schulz keine Ahnung vom Föderalismus in Deutschland oder er will den Ländern die Bildungskompetenz wegnehmen.

Thomas Kreuzer, CSU

Der Bund soll beim Thema Bildung gestärkt werden, das war dann wieder der übliche Zentralismus der SPD. „Entweder hat Martin Schulz keine Ahnung vom Föderalismus in Deutschland oder er will den Ländern die Bildungskompetenz wegnehmen. Da werden wir sehr entschieden entgegentreten“, hatte vor ein paar Tagen CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer zu diesen Plänen gesagt. Dass vor allem rot regierte Länder schwächer in der Bildungspolitik seien, liege „an der SPD und nicht am Föderalismus“. Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Uni ist ein weiteres, wenn auch teures Ziel der Genossen. In allen Bundesländern soll das so sein – erneut ein Eingriff in die Länderhoheit.

Die Neuentdeckung der Inneren Sicherheit

Oppermann war zuständig für die Behauptung, Innere Sicherheit sei nicht die Achillesferse der SPD. Die Union plustere sich auf, dabei habe CDU-Innenminister Thomas de Maizière den Skandal um den mutmaßlich rechten Bundeswehr-Terroristen Franco A. zu verantworten. Dass sich aber das Thema Sicherheit nicht um einen einzelnen Behördenfehler dreht, sondern um die schlechte Sicherheitslage insbesondere in SPD-geführten Bundesländern, blendete Oppermann aus. Dabei hatte die SPD in NRW besonders wegen der zahlreichen Fehler des dortigen SPD-Innenministers die Wahl verloren, darunter der Kölner Silvesterabend 2015, der Terrorist Anis Amri, die No-Go-Areas, das hohe Kriminalitätsrisiko, eine der niedrigsten Aufklärungsquoten und die rekordverdächtige Zahl an Wohnungseinbrüchen an Rhein und Ruhr. Zum Schutz vor Alltagskriminalität müsse der Staat im Alltag präsenter sein, so Oppermanns neue Erkenntnis.

15.000 neue Polizisten in Bund und Ländern fordert die SPD. Dabei waren es insbesondere die SPD-geführten Bundesländer, die ihre Polizisten in den letzten Jahren abgebaut hatten. Der Staat müsse wehrhaft gegen Terroristen, Rechtsextreme und Kriminelle vorgehen, so Oppermann. Linksextreme fehlten in seiner Aufzählung. „Wir wollen, dass Straftäter in Deutschland die ganze Härte des Gesetzes spüren.“ Doch gerade bei diesem Thema hatte sich die SPD immer wieder quergestellt, etwa bei den von der CSU geforderten höheren Strafen für Einbrecher, stärkerer Videoüberwachung oder schnelleren Abschiebungen straffälliger Migranten. Die Zeit stellte der SPD die Frage: „Und wie will sie mehr Videokameras installieren, wenn sie das selbst in Berlin an zentralen Stellen wie dem Alexanderplatz in der dortigen rot-rot-grünen Koalition nicht durchbekommt?“

Widersprüche von Programm und Realität

In der Flüchtlingspolitik bekennen sich die Sozialdemokraten zum Asylrecht. Es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig, solange es im Grundgesetz steht. Es müsse aber eine konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber geben, forderte Oppermann. Auch hier liegen die rot regierten Länder, zuständig für Abschiebungen, auf den hinteren Plätzen. Von konsequenter Haltung kann dort keine Rede sein, insbesondere, wenn Grüne oder Linke mitregieren. Und es ist nach wie vor die SPD, die im Bund eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten etwa um Marokko, Algerien und Tunesien verweigert.

Die EU soll mehr Geld und mehr Macht erhalten, das ist auch Programm. Die Schulz-Idee einer Schuldenunion – der deutsche Steuerzahler bezahlt die Misswirtschaft einiger südeuropäischer Schulden-Länder – ist ebenfalls drin.

Etwas fehlt

Am Schluss noch eine weitere Panne: Die Themen Finanzen/Steuern sowie Renten, beide von großer Bedeutung, fehlten im Programm. Diskutiert wird ein Rentenniveau um die 48 Prozent, bei den Beiträgen 22 bis 23 Prozent.

Beim Thema Finanzen werde noch gerechnet, auch das bot Anlass zur Heiterkeit bei der anwesenden Presse. „Das Programm wächst organisch“, versuchte Barley zu erklären, weil man den Steuerteil „genau ausarbeiten“ wolle. Kosten und Gegenfinanzierung bleiben damit vorerst unbekannt. Reiche sollen aber auf alle Fälle mehr zum Allgemeinwohl beitragen. „Was wir jetzt schon sagen können ist, dass wir bei kleineren und mittleren Einkommen Entlastungen vornehmen werden. Diese werden auch, aber nicht nur über Steuern stattfinden“, so SPD-Generalsekretärin Barley. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent setze derzeit zu tief an, sodass er auch Familien und Facharbeiter treffe. Hier gebe es „Änderungsbedarf“. Lange hat es gedauert, bis die SPD diesen Systemfehler anerkannt hat. Auch soll das Ehegattensplitting zu einem „Familientarif mit Kinderbonus“ umgebaut werden, damit Eltern ohne Trauschein auch etwas davon haben. Immerhin: Von einer Vermögensteuer hat die SPD inzwischen Abstand genommen. Beim Vererben von Firmenvermögen soll der Fiskus dafür mehr kassieren, was ein Risiko für Arbeitsplätze bedeutet.

Das Fazit

Der von Parteichef Schulz geforderte „große Wurf“ blieb aus. Von seinem anfangs geäußerten Ziel, die Agenda 2010 zu reformieren, war nichts zu hören – vermutlich wegen der Wählerklatsche für diese Annäherung an die Linkspartei. Ein tragfähiges Konzept, wie das Land „anders“ regiert werden soll, ist der SPD-Leitantrag nicht. Das Thema Sicherheit wurde noch schnell auf den Schild gehoben, vieles andere bleibt unbestimmt. Das alles verstärkte den Eindruck einer völlig überhasteten Verzweiflungsaktion, obwohl doch der Wahltermin hinlänglich bekannt sein dürfte.

Damit zementiert die SPD ihren Ruf als zerstrittener, unfähiger Haufen.

Die Zeit

Mehr für Facharbeiter, Familien, Rente, Bildung, Verkehr und Forschung: Alle jetzt bekannten Ziele zusammen dürften viele Milliarden kosten. Wie und woher die kommen sollen, bleibt nebulös. Möglich ist sogar, dass die SPD ihr durchgerechnetes Steuerkonzept erst nach dem Parteitag in Dortmund vorlegen wird. Dieser Sonderparteitag am 25. Juni soll das Wahlprogramm beschließen, ein Programm, dessen Ausgaben und Einnahmen dann nicht mit Zahlen unterlegt wären. Nur drei Monate vor der Bundestagswahl.