Sichtbar erschüttert: SPD-Chef Schulz und Noch-Ministerpräsidentin Kraft. Die SPD holte in NRW das schlechteste Ergebnis seit Gründung des Landes. (Foto: Imago/photothek)
NRW

Historisches SPD-Desaster

Die CDU jubelt über ihr zweitschlechtestes Ergebnis, die SPD ist am Boden zerstört. Die FDP triumphiert, die Grünen stürzen ab. Doch trotz drei Landtagswahlsiegen der CDU steht es bei der Bundestagswahl immer noch 0:0. Eine Analyse von Wolfram Göll.

Darauf musste die CDU Nordrhein-Westfalen lange warten: Mit minutenlangem Jubel und Applaus sowie überschwänglichen „Armin, Armin“-Sprechchören feierten die Anhänger den Wahlsieger, ihren Spitzenkandidaten Armin Laschet. „Heute ist ein guter Tag für Nordrhein-Westfalen. Wir haben gekämpft, und wir haben gewonnen“, rief Laschet, als er endlich zu Wort kam.

Bei genauerer Betrachtung brachte diese Wahl eher eine historische Niederlage der SPD als einen historischen Sieg der CDU: Nie seit Gründung des Landes im Jahr 1946 schnitten die Sozialdemokraten bei einer Landtagswahl so schlecht ab wie diesmal mit 31,2 Prozent. Sogar beim Machtverlust 2005 erzielte der damalige SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück 37,1 Prozent.

Die CDU gewann jetzt zwar 6,7 Punkte und wurde stärkste Partei, die 33,0 Prozent sind aber trotzdem das zweitschlechteste CDU-Ergebnis aller Zeiten. CDU-Spitzenmann Jürgen Rüttgers hatte vor zwölf Jahren noch 44,8 Prozent geholt.

CDU mobilisiert viele Nichtwähler

Die CDU – das beweist ein Blick auf die Wählerwanderung – hat vor allem ihr schlafendes Potenzial bei den Nichtwählern mobilisiert. Aus dem Lager der resignierten und enttäuschten CDU-Sympathisanten gewann man volle 440.000 Stimmen, dazu noch 310.000 ehemalige SPD-Wähler und 90.000 ehemalige Wähler der Grünen (Infratest-dimap/ARD). In Sachen Mobilisierung zahlt sich aus, dass Laschet das Ruhrgebiet weitgehend der SPD überließ und seinen Wahlkampf ganz auf die ländlichen Gegenden von NRW konzentrierte – Sauer-, Sieger- und Münsterland, Niederrhein, die Eifel und den Teutoburger Wald.

Die SPD wurde vom Wähler vor allem bestraft für die miserable Bilanz der Landesregierung: Die Kölner Silvesternacht und die unzureichende Polizeiausstattung, der traurige Spitzenplatz des Landes bei der Kriminalität, vor allem bei Wohnungseinbrüchen, das lasche Vorgehen gegen den späteren Berlin-Attentäter Anis Amri, das wiederholte tagelange Abtauchen von Ministerpräsidentin Kraft bei Krisen, dazu Rekordverschuldung, kaputte Straßen, viele Staus, Unterrichtsausfall, schlechte Schulen, überbordende Bürokratie – all das führte dazu, dass laut Infratest-dimap (ARD) nur noch 45 Prozent der Bevölkerung mit der Arbeit der Regierung zufrieden waren.

„Soziale Gerechtigkeit“ interessiert nicht

Die SPD-Führung in Berlin war – wie bereits nach der Schleswig-Holstein-Wahl – eifrig bemüht, die Verantwortung für die neue Niederlage allein auf die NRW-Genossen abzuladen und damit möglichst weit weg vom ehemaligen Hoffnungsträger Schulz. Daher musste auch Hannelore Kraft sofort nach den ersten Hochrechnungen die alleinige Verantwortung übernehmen und von allen Parteiämtern zurücktreten – ein letzter Dienst für Schulz. Sie erklärte zudem, dass sich Schulz auf ihren Wunsch extra aus dem Wahlkampf herausgehalten und keine eigenen Themen gesetzt habe – auch das sollte den Mann aus Würselen entschuldigen.

Allerdings kann sich SPD-Parteichef Schulz nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen. Erstens stammt er aus Nordrhein-Westfalen. Zweitens hat er sich sehr wohl stark im dortigen Wahlkampf engagiert, sogar mit Haustürbesuchen – alles andere wäre auch sehr merkwürdig gewesen. Drittens hatte er noch im April erklärt: „Wenn Hannelore Kraft in NRW gewinnt, werde ich im Herbst Bundeskanzler.“ Von ersterem musste man damals noch sicher ausgehen – denn es galt ja beinah als Selbstverständlichkeit, dass NRW auf ewig „rot“ ist. Dass aber letzteres eintritt, ist jetzt unwahrscheinlicher denn je.

„Schulz-Effekt“ als veritabler Minusfaktor

Gleichzeitig behauptet Schulz jetzt geradezu trotzig, dass seine Partei im Bund sehr wohl die richtige Programmatik und die richtigen Themen habe, aber noch nicht mit dem eigentlichen Wahlkampf begonnen hätte – nur vier Monate vor der Wahl! Wie die NRW-Nachwahlbefragung zeigt, liegt er zudem bei der Themenwahl falsch, denn sein Hauptthema „Soziale Gerechtigkeit“ lag nicht einmal unter den ersten fünf ausschlaggebenden Faktoren der Wahlentscheidung. Auch kritisierten 74 Prozent am Wahltag, also nach acht Wochen intensiven Wahlkampfs in NRW: „Die SPD sagt nicht genau, was sie für soziale Gerechtigkeit tun will.“ Außerdem habe die SPD „viel versprochen und wenig gehalten“, sagen 60 Prozent (Infratest-dimap/ARD).

Die Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) hat einen vielsagenden Wert zum Einfluss von SPD-Kandidat Schulz ermittelt: Vor der Wahl im Saarland im März hatten 80 Prozent der Befragten erklärt, Schulz sei für das Abschneiden der SPD eher „hilfreich“, nur 2 Prozent sagten „schadet“. Jetzt aber sagten in NRW nur noch 31 Prozent, Schulz sei „hilfreich“, 14 Prozent fanden, er „schadet“, 49 Prozent sagten „egal“. Von 80 Prozent „hilfreich“ auf 31 Prozent binnen zwei Monaten, das ist ein beispielloser Absturz. Der beschworene „Schulz-Effekt“ ist also tatsächlich ein veritabler Minusfaktor für die SPD. Unter Ex-Parteichef Sigmar Gabriel verlor die SPD keinen amtierenden Ministerpräsidenten – der letzte war Peer Steinbrück 2005 in NRW.

FDP wird ein schwieriger Partner für die CDU

Allerdings könnte die FDP für Wahlsieger Laschet ein schwieriger, weil sehr selbstbewusster Verhandlungspartner werden: 12,6 Prozent bedeuten das beste Ergebnis der NRW-FDP seit Gründung des Landes. Bundesparteichef Christian Lindner galt vielen Beobachtern schon lange als heimlicher Oppositionsführer im NRW-Landtag und war mit 60 Prozent Zustimmung eindeutig der beliebteste Politiker im Land (Kraft 55 Prozent, Laschet 41, Innenminister Jäger 29, Bildungsministerin Löhrmann 21 Prozent). Die FDP gewann allein 200.000 Stimmen von Ex-SPD-Wählern, das ist absolut unüblich.

Der rhetorisch brillante Lindner befindet sich bereits im Wahlkampfmodus für die Bundestagswahl am 24. September, wo er selbst als Spitzenkandidat antritt, und beharrt zumindest vorläufig auf seiner Taktik der demonstrativen inhaltlichen Abgrenzung auch gegen die Union. Das bedeutet: Keine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung, keine Ausweitung der Videoüberwachung, keine Einführung der Schleierfahndung.

Auch deshalb ließ sich CDU-Landeschef Laschet nach seinem Wahlsieg nicht auf die FDP als Koalitionspartner festlegen, denn die Innere Sicherheit war einer der drei Kernpunkte seiner Wahlkampagne und eine der tiefsten Wunden der SPD. Zudem versprach Laschet, als Sofortmaßnahme viele zusätzliche Verwaltungsleute für den Polizeibereich einzustellen – damit würden die Polizisten sofort von Bürokratie entlastet und könnten sich auf ihre Schutzaufgabe konzentrieren. Würde Laschet der FDP ihre ablehnende Position in diesen Punkten zugestehen, könnte das seiner Glaubwürdigkeit schaden. Die Koalitionsbildung wird für Laschet nicht einfach werden, zumal die SPD eine große Koalition ausgeschlossen hat: Er ist also auf Schwarz-Gelb angewiesen, denn auch die denkbaren Dreierbündnisse wurden jeweils von einer der kleinen Parteien ausgeschlossen.

Grüne büßen auch für schlechte Schulen

Besonders hart wurden die Grünen abgestraft: Mit nur noch 6,4 Prozent halbierten sie fast ihr Wahlergebnis. Sie wurden vor allem für das Versagen ihrer Vizeministerpräsidentin und Schulministerin Sylvia Löhrmann in der Bildungspolitik abgewatscht – aber natürlich sind sie auch für viele andere ideologische Verirrungen der NRW-Politik verantwortlich. Bei Infratest-dimap (ARD) kam die SPD immer noch auf 48 Prozent Zufriedenheit, während die Grünen auf 25 Prozent Zufriedenheit absanken.

Zwar gestehen laut dimap den Grünen 57 Prozent Kompetenz in Öko-Fragen zu (minus 8), aber nur 8 Prozent in der Familienpolitik (minus 9) und nur noch blamable 4 Prozent in der Bildungspolitik (minus 9). Man kann es auch so formulieren: Der Versuch der Grünen, sich jenseits der Umweltpolitik zu profilieren, ist krachend gescheitert.

Merkel zog Menschen ins Wahllokal

Über den Einfluss der Bundespolitik auf die NRW-Wahl und umgekehrt deren Bedeutung für Kanzlerin Merkel wird viel spekuliert. Einerseits war die Wahl tatsächlich klar vom Versagen der rot-grünen Landesregierung geprägt: 29 Prozent sagten, am wichtigsten für ihre Wahlentscheidung sei, „wie es in unseren Schulen aussieht“. 15 Prozent, „wie Polizei für unsere Sicherheit sorgt“. 13 Prozent, „wer als Ministerpräsident unser Land führt“. Zusammen 57 Prozent landespolitische Themen. Aber: Immerhin 22 Prozent aller Wähler gaben an, für ihre Entscheidung sei am wichtigsten „die politisch unruhige Lage in der Welt“, also ein Bundesthema und damit ein Merkel-Trumpf. Noch stärker dieser Wert: 11 Prozent sagten, ihre Entscheidung sei davon bestimmt, „wer als Kanzler unser Land führt“. Macht also 33 Prozent mit bundespolitischer Motivation.

Dennoch führt es in die Irre, mit Blick auf die Bundestagswahl bereits von einem 3:0 für die Union zu sprechen: Auch wenn frühere Duelle klar gewonnen wurden, beginnt jedes einzelne Spiel bei 0:0. Im Moment ist nichts weiter erreicht, als dass die wiederholten Abstürze der CDU im Jahr 2016 gestoppt wurden. Die CDU ist jetzt stabiler, aber noch weit von früheren Ergebnissen im Bereich von 40 oder 45 Prozent entfernt. Noch liegt keine einzige Bundestags-Stimme in der Urne. „Sehr klug und sehr bescheiden“ müsse die gesamte Union nun den Bundestags-Wahlkampf angehen, mahnt CSU-Parteichef Horst Seehofer. Die CDU täte gut daran, auf ihn zu hören.