Sicherheitsrisiko? Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Ralf Jäger, und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. (Bild: Imago/Reichwein)
NRW

Rot-Grün als Sicherheitsrisiko?

Alles passt: Ein Gutachten spricht die NRW-Landesregierung von allen Fehlern im Fall des Terroristen Anis Amri frei. Die CDU hält jedoch eine Befangenheit des Gutachters für möglich, dessen Wechsel in den Landesdienst die Ministerpräsidentin verschwiegen habe. Auch ein Vermerk des LKA gibt Anlass für Zweifel an der Fehlerlosigkeit von Rot-Grün.

Der von der nordrhein-westfälischen Regierung beauftragte Sonderermittler zum Terrorfall Anis Amri hat „keine durchgreifenden Anhaltspunkte für ein relevantes Fehlverhalten oder für relevante Versäumnisse von Stellen und Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen“ festgestellt. „Da ist nichts, womit man ihn strafrechtlich hätte fassen können“, berichtete der Gießener Strafrechtsprofessor Bernhard Kretschmer. Die Behörden hätten es aber versucht. Der Islamist Amri hatte am 19. Dezember 2016 einen Laster in einen Berliner Weihnachtsmarkt gelenkt und zwölf Menschen getötet. Er wurde später von der Polizei in Mailand erschossen.

Es ist ein Treppenwitz, dass Frau Kraft nach Aussage ihres Sprechers jemanden, der offenkundig in den NRW-Landesdienst wechseln will, für unabhängig hält, um etwaige Fehler seines künftigen Dienstherrn zu prüfen.

Daniel Sieveke, CDU-Sprecher im Untersuchungsausschuss

Doch die Zweifel an dieser Version der Geschichte, die es bereits vorher aufgrund der Fakten des Falles vielfach gab, verstummen dadurch keinesfalls.

Gutachter befangen?

Denn der Gutachter der NRW-Landesregierung steht kurz vor einem beruflichen Wechsel in den NRW-Landesdienst. Im Dezember 2016 erhielt Kretschmer den Ruf an die Hochschule Bielefeld (Bewerbungsverfahren seit Januar 2016), im Januar 2017 wurde er als Sonderermittler eingesetzt. „Es ist ein Treppenwitz, dass Frau Kraft nach Aussage ihres Sprechers jemanden, der offenkundig in den NRW-Landesdienst wechseln will, für unabhängig hält, um etwaige Fehler seines künftigen Dienstherrn zu prüfen“, sagte der CDU-Sprecher im Untersuchungsausschuss, Daniel Sieveke. Hier hätte aber alles vermieden werden müssen, was einer unabhängigen Aufklärung widersprechen könnte. „Es steht viel auf dem Spiel. Es geht um nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der regierungsamtlichen Aufklärung dazu, ob der Berliner Attentäter durch Fehler in Nordrhein-Westfalen nicht gestoppt wurde.“

Auf eine Anfrage des BAYERNKURIER an die Landesregierung wurde eine mögliche Befangenheit Kretschmers als „ehrabschneidend und schäbig“ zurückgewiesen. Dies bedeute „nichts anderes, als sämtliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an staatlichen Hochschulen unter einen Generalverdacht zu stellen“. Die „Besorgnis der Befangenheit“ ist allerdings im deutschen Rechtssystem eben noch kein ehrabschneidender Vorwurf oder Fehlerbeweis, wie schon der Wortlaut „Besorgnis“ klar macht. Es reicht beispielsweise bei Richtern die bloße Möglichkeit, dass diese nicht unvoreingenommen und unparteiisch sind. Und Behördenmitarbeiter gelten nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz als befangen, wenn sie bei der betroffenen Behörde angestellt sind. Fragen lassen muss sich die rot-grüne Landesregierung also in jedem Fall, warum sie nicht einen der vielen Strafrechtsprofessoren ausgewählt hat, die in keinerlei Zusammenhang mit Nordrhein-Westfalen stehen.

Selbstverständlich habe ich unabhängig gearbeitet.

Bernhard Kretschmer, Gutachter

Kretschmer selbst sagte bei der Gutachtenvorstellung: „Selbstverständlich habe ich unabhängig gearbeitet.“ Lohn gebe es auch für alle Gutachter, dies stelle die Unabhängigkeit ebenfalls nicht infrage. Zudem würden Universitäten Einmischungen von Parteien in ihre Berufungsverfahren für Professoren eher mit der Nichtanstellung des Betreffenden quittieren. Bei der Besorgnis der Befangenheit ist es aber irrelevant, ob man sich selbst für unbefangen hält.

Viele Fragen, keine Antworten

Doch damit nicht genug: Diese zumindest fragwürdige Konstellation wurde laut CDU-Fraktion dem Landtag von der rot-grünen Landesregierung verschwiegen. Noch im Januar 2017 verkündete Hannelore Kraft in einer Plenarrede, dass für die Einsetzung des „Inhabers des Lehrstuhls Strafrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen“, Bernhard Kretschmer, „ausschlaggebend“ gewesen sei, dass dieser „fachlich kompetent, unabhängig von den Parteien und bisher noch nicht im Auftrag der Landesregierung gearbeitet“ habe. Dann müsste das doch aber auch für die nähere Zukunft gelten?

Innenminister Jäger ist ein Sicherheitsrisiko für die Menschen in ganz Deutschland.

Armin Laschet, CDU

Die CDU Nordrhein-Westfalen wunderte sich auch über den Tenor Kretschmers, der „ähnlich der Wortwahl der Landesregierung der letzten Wochen“ gewesen sei: Keine Fehler, wenn überhaupt, dann lagen die bei anderen Behörden (Land Berlin und Generalbundesanwaltschaft). Dabei waren doch gerade erst am Sonntag weitere Zweifel an Innenminister Ralf Jäger (SPD) aufgekommen.

„Ein kaum zu kalkulierendes Risiko“

Das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt hatte nämlich laut Bild am Sonntag schon im März 2016, also neun Monate vor dem Anschlag, intern das Innenministerium davor gewarnt, dass der tunesische Attentäter Anis Amri einen Anschlag planen könnte. Wörtlich heißt es in der vertraulichen Gefährdungseinschätzung an das Ministerium laut BamS, dass „nach den bislang vorliegenden, belastbaren Erkenntnissen zu prognostizieren ist, dass durch Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-)Anschlages ausgeht“. Weiter schrieben die LKA-Ermittler: „Das von ihm geplante Attentat in Form eines Selbstmordanschlages wäre auch durch engste polizeiliche Maßnahmen … schwer zu verhindern und stellt ein kaum zu kalkulierendes Risiko dar.“ Deshalb habe das LKA vorgeschlagen, eine Abschiebung gemäß Paragraf 58a Aufenthaltsgesetz zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik anzuordnen. Die Frage einer solchen Abschiebehaft wurde jedoch nie einem Richter vorgelegt.

Hochzeit oder Anschlag?

Als Beleg für Amris Gefährlichkeit diente den Ermittlern demnach unter anderem ein überwachter Chat mit zwei libyschen IS-Terroristen. Gutachter Kretschmer sah nun keine Chance auf Erfolg von Paragraf 58a, weil die abgehörten Chatverläufe nicht eindeutig gewesen seien. Kretschmer dazu: „Beim LKA arbeiten Polizisten und keine Juristen.“ Nach Ansicht der Polizisten konnte es jedoch kaum eindeutiger sein: Amri kündigte im Chatverlauf an, in Deutsch­land „eine (Glaubens-)Schwes­ter“ hei­ra­ten zu wol­len – für Kretschmer die Möglichkeit einer echten Hochzeit mit einer Facebook-Liebelei Amris, für die Polizei ein verdächtiges Kürzel. Als Amris Chat­part­ner nicht ver­stand, be­nutz­te dieser den Be­griff „Doug­ma“, was so viel wie „Hart zuschlagen“ bedeutet. Die LKA-Be­am­ten kannten laut dem BamS-Papier die wahre Bedeutung unter Dschihadisten: „Der Be­griff ‚Doug­ma‘ wird als Me­ta­pher für einen Selbst­mord­an­schlag ver­wen­det.“ Auch die weiteren Sätze des Chatpartners deuteten auf einen Anschlag hin: Da war von „öfter die Mobiltelefone wechseln“ und „im Paradies vereint“ die Rede, aber eben auch davon, das Wort „Heirat“ nicht mehr zu verwenden. Abgesehen davon hatte Amri zuvor mehrfach Webseiten zum Bombenbau und nicht etwa über Hochzeitsvorbereitungen besucht.

CDU und FDP warfen deshalb NRW-Innenminister Jäger erneut grobe Fahrlässigkeit und Versagen in dem Fall vor. Der Chef der CDU in Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, sagte dem Blatt: „Diese neuen Enthüllungen sind dramatisch.“ Jäger sei „ein Sicherheitsrisiko für die Menschen in ganz Deutschland“.

Wenn Ministerpräsidentin Kraft ihren Innenminister jetzt nicht entlässt, dann wird aus dem Fall Jäger ein Fall Kraft.

Christian Lindner, FDP-Chef

Das Innenministerium wies die Vorwürfe zurück. Aufgrund der Warnungen habe man frühzeitig das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern eingeschaltet und ein Verfahren beim Generalbundesanwalt angeregt. Für eine Abschiebung habe man aber keine Rechtsgrundlage gesehen. Der interne LKA-Vermerk sei nicht neu, sondern in allen Ausschüssen bereits Thema gewesen. Dem widersprach jedoch die CDU. Jäger habe „diese überdeutliche Warnung und Mahnung der LKA-Experten im Landtag und im Bundestag kein einziges Mal erwähnt“. FDP-Chef Christian Lindner sagte den Dortmund Ruhr Nachrichten: „Wenn Ministerpräsidentin Kraft ihren Innenminister jetzt nicht entlässt, dann wird aus dem Fall Jäger ein Fall Kraft.“ Der Minister soll am Mittwoch vor dem Landtags-Untersuchungsausschuss aussagen. Auch Kretschmer ist in dieser Woche dort als Zeuge geladen. Für Spannung ist gesorgt.