Ein Mädchen posiert während einer Hochzeitszeremonie in Gaza Stadt. (Bild: Imago/Zuma Press)
Bundesjustizministerium

Kinderehen auf dem Prüfstand

Sie ist 15, er über 20 Jahre alt, seit einem Jahr sind sie verheiratet. So etwas ist in Deutschland verboten. Aber nicht, wenn die Ehe im Ausland legal geschlossen wurde. Das soll sich ändern. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe will dazu konkrete Vorschläge erarbeiten. In der Türkei hingegen wurde der Schutz vor Kindesmissbrauch per Gesetz gelockert.

Mit der Asylkrise wird das Problem der Kinderehen auch in Bayern akut. Immer mehr Fälle unter Flüchtlingen werden bekannt, wie viele genau, das ist aber unklar. Die Behörden in Bayern nannten der Welt 161 bekannte Fälle von verheirateten Asylbewerbern unter 16 Jahren und 550 Fälle unter 18 Jahren bereits Ende April. In Nordrhein-Westfalen waren es zur Jahresmitte 188 Fälle, in Baden-Württemberg war die Rede von 177 minderjährigen Flüchtlingsehefrauen.

Doch in jedem Bundesland werden die Eheschließungen unterschiedlich erfasst, nach Schätzungen sind es in Deutschland aber wohl über 1000 Kinderehen. Plus eine vermutlich viel höhere Dunkelziffer. Einen Hinweis darauf bietet eine fünf Jahre alte Erhebung. Damals fragten Mitarbeiter des Bundesfamilienministeriums bei Beratungsstellen ab, wie viele Menschen Hilfe suchten, weil ihnen eine Zwangsheirat drohe oder sie bereits verheiratet wurden. Unter 3443 Personen war ein Drittel noch nicht volljährig, wie die Welt aus der Erhebung zitiert.

14- und 15-jährige Mädchen gehören in die Schule und nicht vor den Traualtar.

Winfried Bausback, Bayerischer Justizminister

Um dagegen rechtlich vorgehen zu können, kündigt Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) gegenüber der Welt am Sonntag die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe an. Das schlug Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) bereits Mitte Juni in einem Brief nach Berlin vor. Dazu schickte er einen ausformulierten Vorschlag, wie das entsprechende Gesetz seiner Ansicht nach geändert werden sollte. Die Initiative schob der Minister gemeinsam mit seinem nordrhein-westfälischen Kollegen Thomas Kutschaty (SPD) an. An deren Ende soll ein klares Nein der deutschen Rechtsordnung zu Kinderehen mit unter 16-jährigen Mädchen stehen. Auch die Organisation Terre des Femmes plädiert dafür. Über 100.000 Unterschriften hat sie dazu gesammelt und dem Bundesjustizminister überreicht. Sollten nach ausländischem Recht geschlossene Kinderehen die Anerkennung versagt werden, würde das außerdem für Flüchtlinge den Nachzug im Rahmen der Familienzusammenführung erschweren.

Auch wenn Kinderehen im Herkunftsland nach dort geltendem Recht zustande gekommen sind, darf es hier keine automatische Anerkennung geben.

Michael Frieser

Auch der Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Innenausschuss des Bundestages, Armin Schuster, sagte der Welt: Der Missbrauch von Minderjährigen und Kindern könne nur unterbunden werden, „wenn sich die Ehemündigkeit ausschließlich nach deutschem Recht richtet. Eine diesbezügliche Gesetzesänderung halte ich für dringend erforderlich.“ Der CSU-Innenexperte im Bundestag, Michael Frieser, kritisierte, dass manche Behörden solche Kinderehen einfach „stillschweigend“ anerkennen würden. Er fordert eine Gesetzesänderung, die sicherstellen solle, dass das Kindeswohl immer Vorrang habe. „Auch wenn Kinderehen im Herkunftsland nach dort geltendem Recht zustande gekommen sind, darf es hier keine automatische Anerkennung geben“, fordert Frieser.

Kinderehen sind in Deutschland erlaubt – bei Ausländern

Bisher werden Ehen nach dem Recht des Staates anerkannt, aus dem der Ehegatte stammt. So ist es etwa in Syrien oder der Türkei legal, Ehen unter Minderjährigen zu schließen. Und in der Türkei werde etwa jede vierte Ehe unter Minderjährigen geschlossen. Das führt dazu, dass Ehen – die Eltern dort für ihre Kinder unter Scharia-Recht besiegelt haben – in Deutschland anerkannt werden. Und das, obwohl diese Ehen gegen deutsches Recht verstoßen würden, wenn es sich um Deutsche handeln würde.

Ob man es religiös oder kulturell begründet, ist einerlei. Es verbirgt sich der schlichte Sachverhalt dahinter, dass sich ältere perverse Männer über junge Mädchen hermachen und sie missbrauchen.

Rainer Wendt, Deutsche Polizeigewerkschaft

Zudem würde der Geschlechtsverkehr der „Ehepartner“ unter Umständen eine Straftat nach §174 ff Strafgesetzbuch darstellen, nämlich einen sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen. Dort ist unter anderem auch die Rede davon, dass bestraft wird, wer diese Tat „unter Ausnutzung einer Zwangslage“ begeht oder dabei die „fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung“ ausnutzt. Oft werden die Mädchen von ihren Eltern gegen ihren Willen verheiratet oder sogar an den Ehemann verkauft. Daher liegt eigentlich auch schon heute eine solche Straftat vor – sofern sie bewiesen werden kann, was naturgemäß schwierig wird. Damit würden sich aber unter Umständen auch die Eltern strafbar machen, weil sie das Kind dazu „bestimmt“ haben.

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sieht jedenfalls den Straftatbestand des Missbrauchs erfüllt: „Ob man es religiös oder kulturell begründet, ist einerlei. Es verbirgt sich der schlichte Sachverhalt dahinter, dass sich ältere perverse Männer über junge Mädchen hermachen und sie missbrauchen.“ In seinem neuen Buch „Deutschland in Gefahr“ schreibt er weiter: „Die Kinder müssen in staatliche Obhut und die Täter hinter Gitter und anschließend abgeschoben werden. Das wäre die richtige Reaktion eines funktionierenden Rechtsstaates.“ Wendt ist auch über die Langsamkeit von Maas empört. „Tausendfacher Kindesmissbrauch vor unseren Augen − und Justizminister prüfen, ob sie tätig werden sollen. Das ist die Realität, die viele Menschen zu Recht empört. Banken können fast über Nacht gerettet werden, bei Kindern lässt man sich Zeit, das ist die Botschaft.“

Auch für den bayerischen Justizminister Bausback ist dieser Zustand schon seit Monaten untragbar. Gegenüber dem Bayernkurier betonte der Minister:

Für mich ist klar: Ehen von unter 16-jährigen Mädchen, die nach einer anderen Rechtsordnung geschlossen wurden, dürfen durch unsere deutsche Rechtsordnung nicht anerkannt werden. Das ist keine Frage von Toleranz und Weltoffenheit, sondern eine Frage des Schutzes von Kindern und Minderjährigen. Wir brauchen deshalb eine klare Regelung: Für die Beurteilung der Ehemündigkeit einer Person – also der Frage, ab welchem Alter die Ehe geschlossen werden kann – soll künftig stets deutsches Recht gelten.

Winfried Bausback, Bayerischer Justizminister

Die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) mahnte: „Wenn Sie als Minderjähriger mit guter Begründung noch nicht einmal ein Bier kaufen dürfen, warum sollte der Gesetzgeber dann zulassen, dass Kinder an solch weitgehende Entscheidung wie der Ehe gebunden sind?“

Schärferes Strafrecht

Der Deutsche Kinderschutzbund geht noch einen Schritt weiter. Er fordert nicht nur ein striktes Mindestheiratsalter von 18 Jahren. Präsident Heinz Hilgers plädiert auch dafür, das Strafrecht zu ändern.

Zudem muss das Strafrecht so geändert werden, dass auch Ehen, die durch eine religiöse oder soziale Zeremonie und nicht vor einem Standesamt geschlossen werden, als Zwangsverheiratung und damit als Straftatbestand erfasst werden können, der mit bis zu fünf Jahren Haft belegt ist.

Heinz Hilgers, Präsident Deutscher Kinderschutzbund

Paragraf 237 Strafgesetzbuch greift nur bei Zwangsehen und stellt keine religiösen Heiraten unter Strafe. Imam- oder Sinti-Ehen sind laut deutschem Recht allerdings keine wirklich existenten Verbindungen und können damit auch nicht bestraft werden. Daher forderte auch der Deutsche Juristinnenbund eine Ausweitung auf solche Ehen. Das hätte allerdings zur Folge, dass von einer Imam-Ehe eine Rechtswirkung auf das deutsche Strafrecht ausginge. Was vom Gesetzgeber wiederum abgelehnt wird.

Kein eindeutiges Richterurteil

Dabei gehen die Diskussionen immer wieder um die Frage, was wichtiger ist: Religiöse Freiheit oder Kinderschutz? In Bayern haben sich bereits das Familiengericht beim Amtsgericht Aschaffenburg und dann das Oberlandesgericht Bamberg mit einem Paar befasst, das obendrein noch aus Cousin und Cousine besteht. Der Fall liegt nun beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, denn die Gerichte kamen zu verschiedenen Einschätzungen. Lesen Sie hier mehr zu dem Fall: Sind Kinderehen jetzt auch in Deutschland erlaubt? Die Uneinigkeit der Gerichte macht deutlich, dass es in solchen Fragen noch keine Rechtssicherheit gibt.

Schulen fehlt Sanktionsmöglichkeit

Aber nicht nur Gerichte und Behörden sind hilflos, auch in Schulen stehen die Lehrer vor der Herausforderungen, wie sie dem Problem der Kinderehe begegnen. Schülerinnen verzichten teilweise auf ihre Ausbildung, wenn sie aufgrund der Verheiratung und Schwangerschaft nicht mehr in die Schule kommen. Das bestätigt die Chefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marlis Tepe, gegenüber der Welt. Mehrere Pädagogen berichten von Fällen, in denen Kinder plötzlich nicht mehr erscheinen. Von Mitschülern erfahren sie dann den Grund: das Mädchen hat geheiratet. Schulleiter beklagen, dass sie keinerlei Sanktionsmöglichkeiten haben. Möglich sind zwar Bußgelder von bis zu 300 Euro. Über das Ordnungsamt können Schüler zwangsweise abgeholt und in die Schule gebracht werden – was allerdings bei den Roma nicht erfolgsversprechend sei. Sie zeigen wenig Respekt vor staatlichen Autoritäten, was Lehrer verschiedener Bundesländer mit Jahrzehnte langer Berufserfahrung bestätigen.

Türkei weicht Schutz gegen Kindesmissbrauch auf

Während Deutschland seine Gesetze zum Schutz von Kindesmissbrauch verschärfen will, urteilt die Justiz in der Türkei anders. Im Juli wurde im türkischen Strafgesetzbuch eine Klausel gestrichen, nach der Geschlechtsverkehr mit einem Kind unter 15 Jahren als „sexueller Missbrauch“ betrachtet werden müsse. Doch erst jetzt wird die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtes sowohl in Schweden als auch in Österreich in den Medien öffentlich diskutiert. Woraufhin die Türkei die Botschafter der beiden Länder einbestellte. Das Bild der Türkei werde durch die Berichterstattung verzerrt, lautet der Vorwurf aus Ankara.

Die Richter argumentieren, es wurde bisher kein Unterschied zwischen Sex mit einem Kleinkind und einer 14-Jährigen gemacht. Schließlich sei Jugendlichen ab zwölf Jahren die Bedeutung von Geschlechtsverkehr bewusst. Also könnten sie sich bewusst dafür oder dagegen entscheiden. Nach der scharfen Kritik an dieser Entscheidung sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, das Justizministerium arbeite an einem neuen Gesetz. Mit dem Wegfall der Klausel zum Kindesmissbrauch müsste ein Ehemann ab nächstem Jahr, wenn die Änderung in Kraft tritt, keine strafrechtliche Verfolgung mehr wegen Missbrauchs befürchten.

Bundestag erleichterte Ehe durch Imam

Seit 2009 dürfen Brautpaare heiraten, ohne vorher beim Standesamt gewesen zu sein. Rechts- und Innenpolitiker des Bundestages äußerten sich damals distanziert zu der Neuregelung. „Es ist mir ein Rätsel, warum man das gemacht hat“, sagte der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, Jürgen Gehb, dem Kölner Stadt-Anzeiger. Experten vermuteten, dass dadurch Rechtsstreite mit muslimischen Minderheiten Einhalt geboten werden sollte. Denn durch die Gesetzesänderung liegt keine Ordnungswidrigkeit mehr vor, wenn kirchliche Trauungen, und damit auch Imam-Eheschließungen, ohne standesamtliche Trauung stattfinden. Was auch bedeutet, dass das gesetzliche Heiratsmindestalter nur noch auf dem Papier steht – ein Einfallstor für Zwangsehen von Minderjährigen.

(dpa/Welt/AS/avd)