Der Flüchtlingsstrom wird auch in den kommenden Monaten und Jahren nicht abreißen. (Foto: Fotolia/cevahir87)
Asylkrise

3,6 Millionen Flüchtlinge bis 2020?

Die Bundesregierung rechnet einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zufolge mit einer Gesamtzahl von 3,6 Millionen Flüchtlingen bis 2020. Das ist etwa die Bevölkerung von Berlin, die neu zu uns kommen würde. Doch dies ist nur eine sehr vorsichtige Schätzung. In Europa gärt es: Griechenland will jetzt politische Beschlüsse der EU blockieren und der Balkan schließt die Grenzen.

Das gehe aus internen Prognosen des Wirtschaftsministeriums hervor, die innerhalb der Bundesregierung abgestimmt seien, so die SZ. Demnach wird damit gerechnet, dass zwischen 2016 und 2020 jährlich durchschnittlich eine halbe Million Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden, wobei die jährliche Zahl schwanken könne, schreibt die Zeitung in ihrer Donnerstagausgabe. Das wären 2,5 Millionen weitere Flüchtlinge – zusammen mit den 1,1 Millionen aus dem Jahr 2015 ergibt sich daraus die Zahl von 3,6 Millionen. Das Bundeswirtschaftsministerium bestätigte der Zeitung, dass es zur Projektion der wirtschaftlichen Entwicklung „intern eine rein technische Annahme für die Zuwanderung getroffen und innerhalb der Bundesregierung ressortabgestimmt“ habe. Da es gegenwärtig nicht möglich sei, den Flüchtlingszustrom seriös vorherzusagen, wolle die Bundesregierung keine offizielle Prognose zur Flüchtlingsmigration abgeben.

Düstere Prognosen von Frontex

Ein anderes Bild zeichneten allerdings die Prognosen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die davon ausgingen, dass in diesem Jahr mindestens genauso viele Flüchtlinge nach Europa kämen wie im vergangenen. Das würde bedeuten, dass die aktuelle Vorhersage des Bundeswirtschaftsministeriums von 3,6 Millionen Flüchtlingen bis 2020 zu kurz gegriffen ist. Dann wären es nämlich – sollten diese Zahlen bis 2020 weder sinken noch steigen – insgesamt für die Zeit 2015-2020 etwa 6,6 Millionen Flüchtlinge für Deutschland. Das wären dann etwa acht Prozent der derzeitigen deutschen Bevölkerung.

Das griechische Boot läuft voll

Dass die „rein technische Annahme“ nicht zu halten, ist, zeigen auch andere Daten. Kein Ende des Flüchtlingszustroms ist in Griechenland erkennbar, obwohl nach wie vor schlechtes Winterwetter die Überfahrten gefährlich machen: In der Hafenstadt Piräus sind am Morgen mehr als 1350 Flüchtlinge und Migranten angekommen, teilte die Hafenverwaltung mit. Weitere 1000 Migranten würden noch erwartet. Nur Flüchtlingen aus Syrien und Irak wird die Weiterreise nach Mazedonien erlaubt. Mazedonien gestattet nur Flüchtlingen aus diesen beiden Ländern die Weiterfahrt nach Mitteleuropa. Zahlreiche Afghanen verbrachten die Nacht auf einem Platz im Zentrum Athens. Dort werden Kontakte mit Schleusern geknüpft, die den verzweifelten Menschen Fahrten nach Mitteleuropa über neue Routen versprächen, berichteten griechische Medien übereinstimmend.

Athen blockiert

Griechenland will jetzt politische Beschlüsse der EU blockieren, bis die Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten in die Tat umgesetzt wird. Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras hatte dies am Mittwochabend angekündigt. Griechenland werde nicht akzeptieren, dass es Staaten gebe, die einerseits keinen einzigen Migranten aufnehmen, aber andererseits Zäune bauten. Tsipras nannte es zudem eine „Schande“, dass Österreich und weitere Länder der Westbalkan-Konferenz am Mittwoch in Wien eine Konferenz zur Asylpolitik abhielten – außerhalb des EU-Rahmens und ohne griechische Beteiligung. Seine Regierung werde deshalb „keinem Abkommen mehr zustimmen, wenn die Last und die Verantwortung nicht im richtigen Verhältnis geteilt“ würden, so der Ministerpräsident im Parlament.

Wir werden nicht akzeptieren, dass sich unser Land in ein Lager für menschliche Wesen verwandelt.

Alexis Tsipras, griechischer Regierungschef

Er will vor dem EU-Türkei-Gipfel am 7. März die Vorsitzenden aller griechischen Parteien einberufen, um ein gemeinsames Vorgehen zu vereinbaren. „Wir werden nicht akzeptieren, dass sich unser Land in ein Lager für menschliche Wesen verwandelt“, so Tsipras. Zuvor hatte er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert und sich beschwert, dass die erst kürzlich auf dem EU-Gipfel getroffene Vereinbarung zur Flüchtlingskrise nicht eingehalten worden sei. Zudem müsse die Nato-Mission zum Kampf gegen Schlepper und zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms sofort beginnen.

Die Nato-Staaten haben sich unterdessen auf Richtlinien für den umstritten Bündniseinsatz in der Flüchtlingskrise geeinigt. Schiffe der Allianz könnten nun auch nahe der türkischen und griechischen Küste eingesetzt werden, um die Aktivitäten der Schleuserbanden zu beobachten, hieß es im Hauptquartier in Brüssel. Geplant ist zum Beispiel, dass die Nato-Schiffe ablegende Flüchtlingsboote unverzüglich türkischen Sicherheitsbehörden melden. Diese könnten dann von der Polizei oder der Küstenwache gestoppt werden. Die Besatzungen der Nato-Schiffe haben kein Mandat, Boote zu stoppen.

Die Balkan-Konferenz

Diejenigen, die für offene Grenzen eingetreten sind, haben die Flüchtlingskrise nicht ausgelöst, aber sie haben sie definitiv verstärkt.

Sebastian Kurz, österreichischer Außenminister

Österreichs konservativer Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat nach der Balkan-Konferenz Deutschland zur Einführung einer Flüchtlingsobergrenze nach Vorbild seines Landes aufgerufen. „Wir können diese Zahl nicht einseitig festlegen“, sagte der 29-Jährige am Mittwoch in den ARD-„Tagesthemen“. Aber er plädiere dafür, „dass wir uns vom Ziel der unbegrenzten Aufnahme verabschieden“. Erneut die deutliche Ansage an Merkel, dass eine Obergrenze erforderlich ist. Österreich hatte am Mittwoch neun Balkan-Staaten nach Wien eingeladen, um über neue Maßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsbewegung aus der Türkei durch Griechenland Richtung Nordeuropa zu beraten. Sein Land sei überfordert, und „diejenigen, die für offene Grenzen eingetreten sind, haben die Flüchtlingskrise nicht ausgelöst, aber sie haben sie definitiv verstärkt“, sagte er wieder an die Adresse der deutschen Bundeskanzlerin. Die Botschaft der Balkan-Konferenz, zu der Berlin und Athen ausdrücklich nicht eingeladen waren, sei: „Den Weg von der Türkei nach Mitteleuropa in wenigen Tagen gibt es nicht mehr.“ Eine europäische Lösung könne nicht darin bestehen, „dass wir die Menschen möglichst schnell nach Österreich, Deutschland oder Schweden bringen“. Und so lange die europäische Lösung nicht da sei, „müssen wir auf nationale Lösungen setzen“.

Tschechien erklärte, bis zu 300 Polizisten für Grenzschutz-Einsätze auf der sogenannten Balkanroute von Flüchtlingen abzustellen. „Ich gehe davon aus, dass wir insbesondere nach Mazedonien weitere unserer Polizisten entsenden werden“, sagte Innenminister Milan Chovanec am Mittwoch. Für einen solchen Auslandseinsatz geeignete Polizisten würden derzeit in einer Datenbank erfasst.

EU-Bettler bei Erdogan

Die Vereinbarungen zwischen der Türkei und EU zur Flüchtlingspolitik bedrohen aus Sicht des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban die Sicherheit Europas. Diese Politik mache „Europas Zukunft und Sicherheit abhängig vom Wohlwollen der Türkei.“ Mit Blick auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sagte Orban der „Bild“-Zeitung: „Wir betteln bei Herrn Erdogan – im Gegenzug für Geld und Versprechungen – demütig um Sicherheit für unsere Grenzen, weil wir uns nicht schützen können.“ Die Türkei ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU. Ein Aktionsplan mit der EU sieht unter anderem vor, dass die Türkei drei Milliarden Euro zur Versorgung syrischer Flüchtlinge erhält und dafür den Kampf gegen Schleuser in der Ägäis verstärkt.

Die deutsche Flüchtlingspolitik ist nicht alternativlos.

Viktor Orban, ungarischer Regierungschef

Als „Illusion“ bezeichnete Orban das Vorhaben, mit Ankara eine Auf- und Rücknahme von Flüchtlingen zu vereinbaren. „Kein EU-Land will und kann das wirklich umsetzen“, sagte er. Orban hatte bereits erklärt, die Bürger seines Landes über die von der EU beschlossenen Quoten zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen abstimmen zu lassen. Ein Nein zur Aufnahme von Flüchtlingen gilt in Budapest als sicher. Der rechtskonservative Regierungschef kritisierte, in der Führung der EU habe sich eine „Kultur des Vertragsbruchs“ eingeschlichen: „Die Maastricht-Kriterien, Schengen, Dublin – nichts gilt mehr“, sagte er der Zeitung. Bei der Debatte über die Flüchtlingskrise sei zudem „der Ton aus Deutschland heute schroff, grob und aggressiv“. Ungarn sei den Deutschen aber nichts schuldig und werde ihnen „nicht alles nachmachen. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist nicht alternativlos.“

Keine Konkurrenz durch Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt?

Die Konkurrenz auf dem deutschen Arbeitsmarkt wird aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit durch Flüchtlinge nicht grundlegend verschärft: „Von den Menschen, die 2015 zu uns gekommen sind, erwarten wir 350 000 als zusätzliche Erwerbsfähige“, sagte Agentur-Vorstand Detlef Scheele der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post„.  „Bei 43 Millionen Beschäftigten ist das weniger als ein Prozent.“ Da sehen man keine generelle Konkurrenz durch die Flüchtlinge am deutschen Arbeitsmarkt. Zwar könne sich die Lage in Einzelfällen anders darstellen, etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe, räumte Scheele ein. „Aber mir ist gerade vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten in Sachsen wichtig zu sagen: Wer auf die Straße geht und ruft ‚Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg‘, hat schlicht Unrecht.“ Die Bundesagentur rechnet laut Scheele damit, dass zehn Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge innerhalb eines Jahres in den Arbeitsmarkt integriert sein werden. In weiteren fünf Jahren könne eine Beschäftigungsquote von 50 Prozent erreicht werden. Bei Einheimischen liege die Quote oberhalb von 70 Prozent.