Noch eine Million Migranten – im günstigsten Fall
Berlin vor dem Zusammenprall mit der Realität: Kein Nachlassen des Migrantenstroms über die Balkanroute. Sehr hohe Migrantenzahl trotz Winterwetter. Immer mehr Afghanen, Maghrebiner und Kinder. Neues Risiko für Europa: Fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten. Wien plädiert für den Einsatz von Militär an den Grenzen. Die Balkanländer bereiten die Abriegelung vor.
Balkanroute

Noch eine Million Migranten – im günstigsten Fall

Berlin vor dem Zusammenprall mit der Realität: Kein Nachlassen des Migrantenstroms über die Balkanroute. Sehr hohe Migrantenzahl trotz Winterwetter. Immer mehr Afghanen, Maghrebiner und Kinder. Neues Risiko für Europa: Fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten. Wien plädiert für den Einsatz von Militär an den Grenzen. Die Balkanländer bereiten die Abriegelung vor.

„Es kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine große Flut von Menschen auf uns zu.“ Die Warnung kam nach Beginn der neuen Kämpfe um Aleppo vom luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn. Er ist nicht alleine. Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex erwartet für 2016 keine Verlangsamung des Migrantenstroms nach Europa. „Trotz schlechten Wetters kommen immer noch täglich 2000 bis 3000 Leute in Griechenland an“, so Frontex-Chef Fabrice Leggeri Ende Januar. Leggeri weiter: „Es wäre schon viel erreicht, wenn wir ihre Zahl stabil halten können. Das sind immer noch eine Million Flüchtlinge im Jahr, ich kenne die Mathematik.“ Leggeris schwache Hoffnung ist tatsächlich eine düstere Prognose: noch eine Million – im günstigsten Fall.

Eine nachhaltige und deutliche Entspannung des Zustroms in das Bundesgebiet ist derzeit nicht absehbar.

Sprecherin des Bundesinnenministeriums

In Österreich wird Leggeris Schreckensprognose geteilt. Weil Wien wieder 120.000 Asylbewerber auf sich zukommen sieht, hat es die Notbremse gezogen und für 2016 eine absolute Obergrenze formuliert: 37.500 Asylbewerber. In Stockholm rechnet die schwedische Migrationsbehörde damit, dass dieses Jahr zwischen 70.000 und 140.000 Migranten ankommen. Einwanderungsminister Morgan Johansson: „Wir kommen  nicht mit so hohen Zahlen zurecht. Wir müssen handeln, lange bevor derartige Zahlen erreicht sind.“ Schweden hat darum vorläufig seine Grenzen praktisch abgeriegelt.

Es wäre schon viel erreicht, wenn wir ihre Zahl stabil halten können. Das sind immer noch eine Million Flüchtlinge im Jahr, ich kenne die Mathematik.

Frontex-Chef Fabrice Leggeri

In Berlin will man zwar von einer Obergrenze nichts wissen, ist aber im Grunde genauso pessimistisch – oder realistisch – wie Österreicher und Schweden. „Eine nachhaltige und deutliche Entspannung des Zustroms in das Bundesgebiet ist derzeit nicht absehbar“, so eine Sprecherin des Innenministeriums Ende Januar. Kein Wunder: Die Bundespolizei registrierte allein im Wintermonat Januar im deutschen Grenzgebiet fast 65.000 Migranten. 63.800 von ihnen kamen in Bayern an. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) registrierte im Januar gar fast 92.000 „Zugänge von Asylsuchenden“. Zum Vergleich: Im Januar vergangenen Jahres waren es „nur“ 32.200, was am Jahresende 2015 zur Rekordzahl von 1,1 Millionen Migranten führte. Auch die Bundesregierung rechnet also mit der nächsten Million Migranten. Anders als Wien oder Stockholm unternimmt sie wenig.

Im Januar 2016 kamen auf den griechischen Ägäis-Inseln 61.746 Migranten an – 36 Mal so viele wie im Januar 2015.

Mindestens eine Million. Denn alle Januar-Zahlen und die der ersten Februar-Tage deuten auf eine massive, wenn nicht dramatische Steigerung der Völkerwanderung auf der Balkanroute hin. In 31 Januartagen kamen insgesamt 61.746 Migranten auf den griechischen Ägäis-Inseln an, gegenüber 1694 Migranten im Januar vor einem Jahr – eine Steigerung um den Faktor 36. In den ersten sechs Februartagen kamen etwa 8000 weitere Flüchtlinge in Griechenland an – im ganzen Februar 2015 waren es 2873 gewesen. An der griechischen-mazedonischen Grenze warteten am vergangenen Samstag (6. Februar) schon wieder 7000 Migranten auf ihren Weitertransport, nach Norden, nach Deutschland. Am, Dienstag darauf (9. Februar) registrierten die Mazedonier 2500 Migranten Richtung Österreich und Deutschland. Einen Tag später nahm man in Piräus schon wieder die nächsten 1700 Migranten von den Ägäis-Inseln kommend in Empfang.

150.000 Afghanen – Fünfzehn Mal so viele  wie vor einem Jahr

Beim näheren Hinsehen fallen überdies beunruhigende Trends auf. Von den 91.671 Asylsuchenden des Januars waren 35.822 Syrer, 18563 Iraker, 18.099 Afghanen, 4203 Iraner und 1623 Marokkaner. Auffällig ist die wachsend hohe Zahl der Afghanen: Auch im Vormonat Dezember verzeichnete die BAMF 26.506 afghanische Asylanträge. Wurden im gesamten Jahr 2014 nur etwa 9700 afghanische Asylbewerber registriert, so waren es im Folgejahr 150.000 – mehr als 15 Mal so viele. Der ungute Trend hält an: Allein in den ersten 18 Januartagen 2016 wurden in Deutschland 12.000 Asylsuchende aus Afghanistan verzeichnet. In Österreich stellen Afghanen schon die größte Migrantengruppe. Der Anteil der Afghanen unter den Migranten, die Griechenland erreichen, habe sich seit vergangenem September von 18 auf 24 Prozent erhöht, berichtet die Grenzschutzagentur Frontex.  Die Afghanen, heißt das alles, haben sich auf den Weg gemacht – zu Hunderttausenden.

Die Zeit läuft davon.

Innenminister Thomas de Maizière

Fast verzweifelt müht sich die Bundesregierung, den Ansturm der Afghanen zu stoppen. Innenminister Lothar de Maizière selber flog kürzlich nach Kabul, um dort über die Rücknahme abgewiesener afghanischer Asylbewerber zu verhandeln. Der Innenminister bot seinen afghanischen Gegenübern sogar deutsche Hilfe für Rückkehrer bei der Suche nach Arbeit und Wohnung an. Die Bundesregierung habe entschieden, mit Soldaten und Polizei-Ausbildern in Afghanistan zu bleiben, „solange es die Sicherheit erfordert“, betonte de Maizière in Masar-i-Sharif: „Wir bleiben hier, solange es nötig ist. Aber wir erwarten dann auch, dass die afghanische Bevölkerung hier bleibt.“ De Maizière weiter: „Wir wollen, dass der Zustrom an Flüchtlingen gestoppt wird.“ Aber de Maiziere sieht auch, dass der Rückgang der Migrantenzahlen im Dezember und Januar „im Wesentlichen“ auf das Winterwetter zurückzuführen ist. Man müsse in jedem Fall verhindern, dass der Zustrom im Frühjahr wieder massiv ansteige, warnt der Maizière: „Die Zeit läuft davon.“

Immer mehr Migranten aus dem Maghreb, immer mehr Kinder

Beunruhigend ist außerdem die starke Zunahme der Asylbewerber aus Algerien und Marokko. Allein im vergangenen Dezember kamen fast 2300 Algerier und 3000 Marokkaner nach Deutschland – gegenüber weniger als 4000 Personen aus beiden Ländern, die im ganzen Jahr 2014 in Deutschland Asylanträge stellten. Im Januar berichtete die griechische Küstenwache von „vielen Migranten aus nordafrikanischen Staaten wie Marokko und Algerien“.

Nun versucht man verstärkt, Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren alleine vorauszuschicken, um dann den Nachzug von Familien und ganzen Clans zu erzwingen.

Dritter unguter Trend: Es kommen jetzt mehr Frauen und Kinder aus der Türkei nach Griechenland. Bis Anfang Februar waren fast 60 Prozent der Migranten, die Griechenland erreichten, Frauen und Kinder. Vorher kamen überwiegend junge Männer, erläutert die österreichische Nashost-Expertin Karin Kneissl. Nun versuche man verstärkt Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren alleine vorauszuschicken. Mit der Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Kindern soll dann der Nachzug von Familien und ganzen Clans erzwungen werden.

Fünf Millionen afrikanische Migranten in Ägypten

Die stark wachsenden Zahlen der Migranten aus den Maghrebstaaten und aus Afghanistan führen vor, was passiert: Immer mehr Migranten kommen nach Europa, nicht weil sie vor Verfolgung fliehen müssen, sondern einfach nur darum, weil es möglich ist. Europas sperrangelweit offene Schengen-Außengrenze wirkt wie eine gigantische Einladungskarte. Ein ganzes Jahr lang haben potentielle Migranten in Pakistan, Afghanistan und den nahen Maghrebstaaten die Völkerwanderung über die Balkanroute auf ihren kleinen oder großen Bildschirmen beobachtet. Sie haben gesehen, wie offen Europa ist und wie einfach die Reise. Sie haben gesehen, dass niemand sie aufhält. Im Gegenteil: Überall hilft man ihnen mit Fähren, Bussen und Zügen weiter, so schnell wie möglich.

Immer mehr Migranten kommen nach Europa, nicht weil sie vor Verfolgung fliehen müssen, sondern einfach nur darum, weil es möglich ist.

Es dürfte Innenminister de Maiziére in Kabul und Masar-i-Scharif kaum gelungen sein, die Wirkung der Fernsehbilder vom vergangenen Jahr wegzureden. Für das Frühjahr und den Sommer 2016 wird man darum mit ganz neuen Migrantengruppen rechnen müssen, die sich allzu leicht auf den Weg machen können: Im wirtschaftlich eher hoffnungslosen Ägypten etwa sollen bis zu fünf Millionen Migranten aus Schwarzafrika nach einem Auskommen suchen. Und auch sie haben alle die Fernsehbilder von der Balkanroute gesehen. Afrikanische Migration nach Ägypten ist uralt und eingefahren – und der Migrantennachschub aus Afrika scheint unendlich zu sein.

Österreichs radikaler „Plan B“: Grenzschutz mit Truppen

All das ist der Grund dafür, dass überall entlang der Balkanroute die Nervosität wächst. „Serbien werden eine Million Menschen durchqueren“, titelte kürzlich die serbische Regierungszeitung Novosti und schrieb auch schon von Migranten aus Ägypten. Alle Balkanländer bereiten darum Maßnahmen vor, um die Völkerwanderung zu bremsen, zu stoppen. Die radikalste Wende vollzieht dieser Tage aber Österreich. Zur klar formulierten Obergrenze von 37.500 Asylbewerbern kommt jetzt, so Wien, „eines der schärfsten Asylgesetze Europas“: Asyl wird auf drei Jahre befristet, Familiennachzug erschwert. Bei Spielfeld, am Grenzübergang zu Slowenien, steht schon ein vier Kilometer langer Zaun. Weitere Grenzzäune seien möglich, so Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann forderte dieser Tage in der Boulevardzeitung Krone, die EU-Grenzschutzagentur Frontex solle in Griechenland alle Flüchtlinge zunächst aufgreifen und dann in die Türkei zurückschicken. Faymann: „Dann wäre Frontex nicht mehr nur ein Rettungsprogramm, sondern tatsächlich auch ein Grenzschutzprogramm.“ Allerdings müsste bei diesem „Plan A“ die Türkei mitspielen. Sonst, so Faymann, müsse „Plan B“ umgesetzt werden: Die Sicherung der EU-Binnengrenzen.

Wir haben gerade in Mazedonien, aber auch entlang der Route in anderen Staaten eine starke Bereitschaft dazu, den Flüchtlingsstrom zu reduzieren, zu drosseln, vielleicht sogar zu stoppen.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz

Genau darauf bereiten sich weiter südlich offenbar die Balkanländer vor. Dabei könnte dann sogar Militär zum Einsatz kommen. Denn auf einem EU-Ministertreffen bot Österreichs Außenminister Sebastian Kurz an, Soldaten des Bundesheeres in Griechenland, Mazedonien oder Serbien zur Grenzsicherung einzusetzen. Kurz: „Wenn Griechenland Hilfe nicht annehmen möchte – Mazedonien und andere Staaten sind bereit, das zu tun.“ Außenminister Kurz weiter: „Wir haben gerade in Mazedonien, aber auch entlang der Route in anderen Staaten eine starke Bereitschaft dazu, den Flüchtlingsstrom zu reduzieren, zu drosseln, vielleicht sogar zu stoppen.“

Wir müssen realistisch sein: eines Tages wird Deutschland nicht mehr alle Flüchtlinge aufnehmen. Die Großzügigkeit Berlins trifft jetzt auf die Realität.

Kroatiens Außenminister Miro Kovac

Tatsächlich ist Mazedonien dabei, einen im November errichteten Zaun an der Grenze zu Griechenland zu verstärken. Ein neuer Maschendrahtzaun mit aufgesetztem Stacheldraht soll 37 Kilometer lang werden. Die nördlichen Nachbarn begrüßen die Maßnahme. „Der Vorschlag des slowenischen Regierungschefs Miro Cerar, die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zu sichern, ist vernünftig“, erklärte Kroatiens Außenminister Miro Kovac. Auch Ungarn und Polen möchten die Balkanroute durch Zäune und Wälle abriegeln. „Wir treten weiterhin für eine neue Verteidigungslinie an der bulgarisch-griechischen und mazedonisch-griechischen Grenze ein“, so Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. Seine polnische Amtskollegin Beata Szydlo sieht es ähnlich: „Läge es an uns Mitteleuropäern, hätten wir schon längst die Gegend dort abgeriegelt.“

Zehntausende Ägäis-Migranten könnten in Griechenland festsitzen

Im Grunde haben die Balkanländer Griechenland schon aufgegeben und bereiten sich auf einen großen Schock in der EU-Migrationspolitik vor. „Solange der Transit der Flüchtlinge funktioniert, wird sich nichts ändern“, betonte kürzlich Kroatiens Außenminister Miro Kovac und fügte dann eine Warnung hinzu: „Wir müssen realistisch sein: eines Tages wird Deutschland nicht mehr alle Flüchtlinge aufnehmen. Die Großzügigkeit Berlins trifft jetzt auf die Realität.“ Auf den Moment wollen die Balkanregierungen vorbereitet sein und dann eben keinen zehn- oder hunderttausendfachen Migrantenstau in ihren Ländern erleben. Serbiens Regierungschef Aleksandar Vucic formuliert es deutlich: „Serbien kann nicht 100.000 oder 200.000 Flüchtlinge aufnehmen. Wir werden nicht zum Parkplatz werden.“

Grenzschließungen sind kein Problem, mit dem Griechenland nicht fertig werden könnte.

Griechenlands Vizeminister für Migration Ioannis Mouzalas

Auch die Griechen bereiten sich auf Grenzschließungen im Norden vor. Zehntausende Ägäis-Migranten könnten dann in Griechenland festsitzen. Das sei aber „kein Problem, mit dem Griechenland nicht fertig werden könnte“, meinte kürzlich der griechische Vizeminister für Migration Ioannis Mouzalas. Seine Worte erregten im Lande großes Aufsehen. Presseberichten zufolge bereitet das UN-Flüchtlingswerks UNHCR in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki schon Unterkünfte vor. Auch militärische Einrichtungen könnten für die Unterbringung von Migranten in Frage kommen, heißt es. Bislang wehrt sich die griechische Armee allerdings gegen solche Pläne. Bis zu 60.000 Personen sollen notfalls so untergebracht werden.

EU-Kommission torpediert niederländische Lösung

Dann allerdings muss schnell eine echte Lösung her, die die große Völkerwanderung möglichst beendet. An einer solchen arbeitete kürzlich die niederländische EU-Ratspräsidentschaft. Offenbar zusammen mit mehreren EU-Ländern, darunter auch –Deutschland, bereitete Den Haag einen europäischen Plan vor, nach dem Migranten per Schiff direkt von den Ägäis-Inseln in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Die Niederländer haben darüber offenbar auch schon mit der Türkei verhandelt, hieß es in Pressemeldungen: Die Türkei sei bereit, die Menschen wieder aufzunehmen, wenn sich die EU-Staaten im Gegenzug verpflichten, bis zu 250.000 Flüchtlinge pro Jahr zuzulassen. Schon von März oder April an sollten die ersten Rückführungsschiffe fahren. Auf diese Verhandlungen muss sich wohl Österreichs Bundeskanzler Faymann bezogen haben.

Wir werden niemanden wegschicken. Wir werden immer jeden Asylantrag einzeln prüfen.

Sprecherin der EU-Kommission

Was wie ein guter Plan klang, fand einer Meldung der Deutschen Presseagentur zufolge allerdings nicht den Beifall der EU-Kommission. „Wenn jemand das Gebiet der Europäischen Union betritt oder an die Grenze des Gebiets eines Mitglieds der Europäischen Union kommt und um Asyl bittet, dann werden wir ihn niemals wegschicken“, so eine Kommissionssprecherin. Das entspreche sowohl internationalem als europäischem Recht. Die ungenannte Kommissionssprecherin weiter: „Wir werden immer jeden Asylantrag einzeln prüfen.“ Das allerdings könnte auf der  Balkanroute schon bald sehr schwierig werden.