Der türkische Autokrat Recep Erdogan. (Bild: Imago/Xinhua)
Rot-Grün

Die Türkei gehört nicht in die EU

Ungewohnte Töne: Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer (SPD), warnt in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt" davor, die Türkei in die EU aufzunehmen, solange dort Menschenrechte und Pressefreiheit verletzt würden. Deshalb dürfe man auch keinen "Rabatt" bei rechtsstaatlichen Prinzipien gewähren. Sogar bei den Grünen wird die Kritik an der Türkei immer lauter.

Erst kürzlich hatte die EU mit der Türkei vereinbart, dass diese gegen den Flüchtlingsstrom vorgehen solle. Im Gegenzug zahlt die EU rund 3 Milliarden Euro für die Flüchtlingslager dort und eröffnet demnächst weitere Verhandlungskapitel in den EU-Beitrittsgesprächen (der Bayernkurier berichtete). Von vielen Gegnern eines solchen EU-Beitritts wurde das Abkommen als „Kuhhandel“ kritisiert.

Die EU muss an ihren glasklaren, strengen Vorschriften in Bezug auf Menschenrechte und Pressefreiheit festhalten.

Christoph Strässer, Menschenrechtsbeauftragter

Strässer sagte nun in der „Welt“, er sei besorgt, Ankara werde ein „menschenrechtspolitischer Rabatt“ durch Brüssel gewährt. „Wir dürfen gegenüber der Türkei nicht generöser auftreten, nur weil wir jetzt mit ihr verstärkt kooperieren. Die EU muss an ihren glasklaren, strengen Vorschriften in Bezug auf Menschenrechte und Pressefreiheit festhalten“, forderte Strässer. Angesichts des jüngsten Vorgehens des türkischen Autokraten Recep Erdogan gegen die Opposition und die Unabhängigkeit der Justiz, der wiederholten Missachtung von Gesetzen durch seine AKP-Regierung und der Gewalttaten gegen kritische Journalisten und Autoren, die auch schikaniert und unter absurden Gründen inhaftiert werden, ist das auch keine unberechtigte Sorge (der Bayernkurier berichtete). Zudem änderte die AKP Gesetze so, dass sie jeden Kritiker unter schwammigen Vorwürfen anklagen und mundtot machen kann.

Ein Krieg aus wahltaktischen Gründen

Hinzu kommt der von Erdogan vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Kurden, der mit äußerster Härte geführt wird und unter dem auch die Zivilbevölkerung leidet. Letztlich ging es dem Präsidenten wohl nur darum, der kurdischen Partei HDP zu schaden, deren Wahlerfolg am 7. Juni ihm die absolute Mehrheit im Parlament verwehrt hatte. Zudem führte das Vorgehen gegen die kurdische Organisation PKK bei den vielen nationalistisch gestimmten Türken zu Pluspunkten, die Erdogan bei der dann angesetzten Neuwahl am 1. November wieder zur absoluten Mehrheit verholfen haben. „In einigen Städten spitzt sich die Lage dramatisch zu. Seit mehr als drei Wochen greifen die türkischen Streitkräfte die Altstadt von Diyarbakir an, seit Wochen werden andere Städte wie Cizre und Silopi belagert und mit Raketen beschossen“, meldete kürzlich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung„. Der Staat habe die Versorgung mit Strom und Wasser gekappt, Lebensmittel würden knapp, Schulen hätten ihren Betrieb eingestellt. Zudem sei der Krieg gegen die PKK eine Lüge: die PKK-Kämpfer würden sich im Nordirak verstecken, den Kampf gegen die türkische Armee führten dieses Mal „kurdische Jugendliche, die ohne Chance auf eine Arbeit sind und ohne Perspektive“, so die FAZ.

In der Türkei werden Andersdenkende bestraft, und es gibt Attentate gegen Oppositionelle. Solange es so etwas gibt, gehört das Land nicht in die EU.

Christoph Strässer

Für einen SPD-Mann ist die Kritik von Strässer durchaus ungewohnt, schließlich hat die Türkei ihren EU-Beitrittskandidaten-Status nur der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder zu verdanken. Schon damals war absehbar, dass das Land unter Erdogan den Weg in einen islamisches Regime gehen würde. Unionsabgeordnete hatten genau davor in der Beitrittsdebatte im Bundestag und auch zuvor schon gewarnt. „In der Türkei werden Andersdenkende bestraft, und es gibt Attentate gegen Oppositionelle. Solange es so etwas gibt, gehört das Land nicht in die EU. Würden wir darüber hinwegsehen, wäre das ein fatales Signal“, mahnte nun auch Strässer.

Leider hat sich unter Herrn Erdogan die Lage im Land extrem verschlechtert.

Christoph Strässer

Er zitierte allerdings ausgerechnet Schröders Vorgänger Helmut Kohl mit dem Satz: „Die Türkei hat die Perspektive der Mitgliedschaft in der EU.“ Der Menschenrechtsbeauftragte fügte immerhin an, zu Recht sei nie „ein Zweifel an den Anforderungen gelassen worden“ – nämlich den Kopenhagener Beitrittskriterien. „Wenn die Kapitel geschlossen werden, ohne dass es eine verbindliche Einigung mit der Türkei zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gibt, kann sie kein Mitglied der EU werden. Leider hat sich unter Herrn Erdogan die Lage im Land extrem verschlechtert“, äußerte sich Strässer überraschend realistisch in der „Welt“. Der Meinungsumschwung bei Rot-Grün kommt spät, aber immerhin doch noch.

Sogar die Grünen kritisieren die Türkei immer deutlicher

Denn sogar bei den Grünen waren in den letzten Monaten vermehrt Stimmen zu hören, die die Türkei kritisch bewerten. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) sagte der Zeitung „Bild am Sonntag„: „Die Pressefreiheit wird hinter Gitter gesperrt. Zu dieser Entdemokratisierung zu schweigen, wäre auch in unserem Interesse dramatisch gefährlich.“ Und Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte das Abkommen der EU mit der Türkei so: „Das Ziel, Flüchtlinge um jeden Preis aus der EU fernzuhalten, trägt zum Machtzuwachs Erdogans bei. Der Abbau von Freiheiten wird achselzuckend zur Kenntnis genommen. Es darf keinen Persilschein für Erdogan geben. Das wäre ein Verrat europäischer Überzeugungen.“

Sie können verhaften, wen sie wollen, foltern, wen sie wollen, töten, wen sie wollen.

Cem Özdemir, Grünen-Chef, über türkische Spezialkräfte

Er warf außerdem der politischen Führung Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor: „Es wird eine Art Krieg geführt gegen die eigene Bevölkerung.“ Die im Südosten der Türkei eingesetzten türkischen Spezialkräfte könnten frei operieren: „Sie können verhaften, wen sie wollen, foltern, wen sie wollen, töten, wen sie wollen. Da kann man nicht von Menschenrechten oder Rechtstaatlichkeit sprechen.“ Und der türkischstämmige Politiker legte zu den Ausgangssperren und der Kappung von Strom und Wasser nach: „Kollektivstrafen für die Bevölkerung widersprechen grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien und sind verbrecherisch.“ Özdemir kritisierte kürzlich in der Zeitung „taz“ sogar den Einfluss der Türkei auf die islamische Theologie in Deutschland: „Es ist nicht akzeptabel, dass der türkische Staatspräsident darüber entscheidet, welche Interpretation des Islam auch hier in Deutschland die legitime ist.“ Die meisten Moscheen hierzulande stehen unter dem Dach des Verbandes Ditib, der wiederum dem Religionsministerium der Türkei untersteht – also indirekt Erdogan und der regierenden AKP. Ditib entsendet auch die meisten Imame, die in Deutschland predigen. In einem gemeinsamen Positionspapier mit dem grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck sprach sich Özdemir außerdem gegen eine rechtliche Anerkennung der großen deutschen Islamverbände als Religionsgemeinschaften aus. Laut dem Papier geht es bei den Verbänden weniger um Religion als um Herkunftsland, Sprache oder Politik.