Der nächste Migranten-Zug hat Budapest verlassen. Nach anderthalbtägiger Sperre hat sich die ungarische Polizei am Donnerstag Morgen vom durch Tausende Migranten belagerten Budapester Ostbahnhof zurückgezogen und die Bahnsteige wieder frei gegeben. Dem Live-Blog der britischen Tageszeitung The Daily Telegraph zufolge muss es zu chaotischen Szenen gekommen sein. Ein erster Zug fuhr ab, angeblich Richtung Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze. Aber schon etwa 37 Kilometer westlich der Hauptstadt wurde er jedoch in Bicske angehalten. 20 wartende Busse sollten die Flüchtlinge in ein Asylbewerberzentrum nahe dem etwa 11.000 Einwohner großen Ort bringen. Presseberichten zufolge sind einige Flüchtlinge aus dem Zug geholt worden, andere wehrten sich massiv oder sammelten sich später wieder am Bahnsteig. Auch aus Bicske berichtet The Daily Telegraph wieder von dramatischen Szenen. „Wir sterben hier oder wir gehen”, zitiert ein Telegraph-Reporter einen 23-jährigen Migranten aus Pakistan.
Wir sterben hier oder wir gehen.
Pakistanischer Migrant im ungarischen Bicske
Der Fortgang der Ereignisse in Bicske und das Schicksal des zweiten Zuges aus Budapest sind zur Stunde unklar. Es scheint allerdings, dass die Situation in Ungarn und am Ostbahnhof in Budapest allmählich außer Kontrolle gerät. Man darf davon ausgehen, dass die nächste Migrantenwelle eher früher als später die österreichische Grenze erreicht.
Bei einem Besuch an der serbisch-ungarischen Grenze hat Bayerns Europaministerin Beate Merk Budapest aufgefordert, seinen Schengen-Pflichten nachzukommen und alle Migranten zu registrieren. Doch das ist wohl nicht einfach, weil die Migranten eben nicht in Ungarn bleiben und sich darum dort auch nicht registrieren lassen wollen. Die allermeisten wollen nach Deutschland und werden es wohl auch erreichen.
Österreich winkt durch − und beruft sich auf Schengen
Denn auch Österreich hält an seiner Interpretation des Schengen-Vertrages fest. Weil es keine Schengen-Außengrenze hat, kontrolliert es eben nicht und lässt alle Migranten weiterreisen – es sei denn, sie stellen in Österreich einen Asylantrag. Wien halte am Dubliner Abkommen, demzufolge Asylanträge im Erstaufnahmeland bearbeitet werden müssen, fest und winke Flüchtlinge nicht einfach durch, erklärte zwar Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Und ergänzte dann: Es gebe Stichproben, aber keine Grenzkontrollen.
Was wir sicherlich nicht tun können ist, all diese Leute, die hier durchkommen, zu kontrollieren, ihre Identitäten festzustellen oder sie gar festzunehmen – das können wir nicht, und wir haben auch keine Pläne, das zu tun.
Gerhard Pürstl, Polizeipräsident in Wien
Noch klarer formulierte Wiens Polizeipräsident Gerhard Pürstl Österreichs Haltung (zitiert nach The Daily Telegraph): „Was wir sicherlich nicht tun können ist, all diese Leute, die hier durchkommen, zu kontrollieren, ihre Identitäten festzustellen oder sie gar festzunehmen – das können wir nicht, und wir haben auch keine Pläne, das zu tun.“ Österreich winkt eben doch durch, und beruft sich dafür auf den Vertrag von Schengen.
Flüchtlingskorridor nach Deutschland
Die Österreicher sind damit nicht allein. Auch die Tschechen lassen ab sofort syrische Flüchtlinge, die aus Ungarn einreisen, ungehindert nach Deutschland weiterreisen. Einer Polizeisprecherin zufolge werden allenfalls noch die Personalien festgestellt: „Wir lassen sie mit der Maßgabe frei, innerhalb von sieben Tagen das Land zu verlassen, und begleiten sie zum Bahnhof.“ Weil Ungarn Flüchtlinge nicht mehr zurücknimmt – das verlangt eigentlich das Dublin-Abkommen – hält die Regierung in Prag es für „ineffektiv und zwecklos“, Migranten festzuhalten oder festzunehmen.
Wir begleiten die Migranten zum Bahnhof.
Tschechische Polizeisprecherin
Zumal Deutschland erklärt habe, syrische Migranten nicht mehr gemäß Dubliner Abkommen in die Erstaufnahmeländer zurückschicken zu wollen. Auch die tschechische Regierung versteht Berlins Aussetzung der Dublin-Regel für syrische Migranten, als eine Entscheidung dafür, alle syrischen Migranten aufnehmen zu wollen. Innenminister Milan Chovanec hat sogar schon von der Einrichtung eines „Flüchtlingskorridors“ nach Deutschland gesprochen.
Trotz Bitte aus Bayern − Italien führt keine Grenzkontrollen durch
Auch Italien, das eine Schengen-Außengrenze zu schützen hat, hält sich schon lange nicht mehr an seine Schengen- und Dublin-Pflichten und kontrolliert und registriert praktisch niemanden. Dabei wird es bleiben. Trotz der ausdrücklichen Bitte der Bayerischen Staatsregierung führt Italien an seiner Grenze zu Österreich eben keine Grenzkontrollen ein und will den Schengen-Vertrag explizit eben nicht außer Kraft setzen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher zufolge sollen italienische Polizeikräfte „die Durchreisenden nur intensiver auffordern und davon überzeugen, dass es zur Zeit besser wäre, einen Zwischenstopp einzulegen“.
Die Migranten sollen verstehen, dass wir ihre Weiterreise nur hinausschieben wollen.
Arno Kompatscher, Landeshauptmann von Südtirol
Dabei soll den Migranten verständlich gemacht – und versprochen – werden, „dass wir ihre Weiterreise nur hinausschieben wollen und derweilen gut für sie sorgen können“, so Kompatscher. Für einige Tage sollen die Migranten auf dem Weg nach Deutschland in Brenner-Nähe untergebracht werden. Kompatscher: „In dieser bedrängten Lage für Bayern wollen wir uns solidarisch zeigen.“
Aber nach Bayern weiterreisen sollen alle Migranten in jedem Fall. Bei weiter steigenden Zahlen. Pressemeldungen sprechen etwa von chaotischen Verhältnissen auf den griechischen Ägäis-Inseln Kos und Lesbos. Allein auf Lesbos sollen in den vergangenen Monaten über 85.000 Migranten angekommen sein. An diesem Donnerstagabend werden wieder etwa 4000 Migranten per Fähre in Piräus erwartet.
Trennlinie zwischen dem Osten und dem Westen in der EU
Die EU müsse sich „grundsätzlich damit auseinandersetzen, wie sie mit den Millionen Menschen umgehen will, die in ein gelobtes Land gelangen wollen“, warnt etwa die links gerichtete Madrider Tageszeitung El Pais. Davon aber ist die Europäische Union derzeit weit entfernt. Die Krise habe Europa gespalten, erklärte in Brüssel EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Es gibt eine Trennlinie zwischen dem Osten und dem Westen in der EU. Einige Mitgliedstaaten überlegen, wie sie die Migrationswelle eindämmen können. Dafür steht symbolisch der ungarische Grenzzaun.“ Tusk weiter: „Andere wollen Solidarität und befürworten sogenannte Zwangsquoten (für Migranten).“
Das Problem ist kein europäisches Problem. Das Problem ist ein deutsches Problem.
Viktor Orban, ungarischer Premierminister
Ungarns Premierminister Viktor Orban bezeichnete nach einem Gespräch mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und vor einer Unterredung mit Tusk die Migrantenkrise als rein deutsches Problem: „Das Problem ist kein europäisches Problem. Das Problem ist ein deutsches Problem.“ Die Migranten, so Orban, wollten nicht nach Ungarn, Polen oder Estland, sondern alle nach Deutschland. Orbans Vorhaltung ist in Berlin auf Empörung gestoßen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wies den Vorwurf scharf zurück: „Deutschland tut das, was moralisch und was rechtlich geboten ist. Und nicht mehr und nicht weniger.”
Ungarn fordert unbedingten Schutz der EU-Außengrenzen
In einem prominent plazierten Namensartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Ungarns Premier unterdessen seine strikte Ablehnung von verpflichtenden Migranten-Quoten für alle EU-Mitgliedstaaten begründet und eine Warnung ausgesprochen: „Der europäische Kontinent wird von einer immer mehr anschwellenden neuzeitlichen Völkerwanderungswelle bedroht. Es findet eine ungeheuer große Bewegung von Menschen statt, mit aus europäischer Sicht uneingeschränktem Nachschub.“ Nachdrücklich fordert Orban den unbedingten Schutz der EU-Außengrenzen „als unerlässliche Bedingung der Gewährleistung der freien Bewegung innerhalb Europas“.
Der europäische Kontinent wird von einer immer mehr anschwellenden neuzeitlichen Völkerwanderungswelle bedroht. Es findet eine ungeheuer große Bewegung von Menschen statt, mit aus europäischer Sicht uneingeschränktem Nachschub.
Viktor Orban
„Deshalb ist der Zaun, den wir Ungarn bauen, wichtig.“ Orban fügt eine Warnung für Brüssel hinzu: „Wenn wir unsere Grenzen nicht schützen, kann Schengen in Gefahr geraten.“ Es sei „ziemlich deprimierend“, so der Premier, „dass außer uns Ungarn – oder den Spaniern – niemand die Grenzen Europas beschützen will.“ Orban weiter: „Die Menschen wollen, dass wir Herr der Lage sind und unsere Grenzen beschützen. Der Schutz der Grenzen ist die erste und wichtigste Frage. Über jede andere Frage lohnt es sich nur dann zu sprechen, wenn die Flut aufgehalten ist.“ Denn: „Wer überrannt wird, kann niemanden aufnehmen.“
Der ungarische Premier erinnert außerdem daran, dass die allermeisten der Migranten, um die es jetzt geht, „in einer anderen Religion erzogen wurden und Vertreter einer grundlegend anderen Kultur sind. Sie sind meistens keine Christen, sondern Muslime. Das ist eine wichtige Frage, denn Europa und das Europäertum haben christliche Wurzeln.“
Thomas de Maizière: arabische Muslime
Ebenso nachdenklich über die Integration der womöglich eine Million Migranten, die dieses Jahr Deutschland erreichen könnten, wird in Berlin offenbar auch Innenminister Thomas de Maizière . In der Wochenzeitung Die Zeit warnt de Maizière, dass es mit den neuen Migranten große Integrationsschwierigkeiten geben könnte: „Jetzt werden wir Hunderttausende arabisch geprägte Muslime bekommen, und das ist, nach allem, was mir mein französischer Kollege sagt, ein erheblicher Unterschied in Sachen Integration.“
Die Verantwortlichen vor Ort sagen mir, sie rechnen mit einem Anteil von 15 bis 20 Prozent erwachsenen Analphabeten.
Innenminister Thomas de Maizière
Außerdem steige der Anteil von Analphabeten unter den Flüchtlingen, so der Innenminister. Zwar gebe es Flüchtlinge mit sehr hohem Bildungsniveau. „Aber die Verantwortlichen vor Ort sagen mir, sie rechnen mit einem Anteil von 15 bis 20 Prozent erwachsenen Analphabeten.“
Das ist womöglich eine optimistische Annahme. Einer Untersuchung der UN-Agentur Unesco aus dem Jahr 2009 zufolge, erreicht die Zahl der Analphabeten unter Arabern, die älter als 15 Jahre sind, bis zu 40 Prozent – für die Frauen liegt die Zahl noch höher. Der marokkanische Universitätsprofessor Abderrahim Youssi betonte in der Pariser Tageszeitung Le Monde, dass „die Hälfte der arabischen Bevölkerung“ aus Analphabeten bestehe. Auf Deutschland kommen ungeahnte Probleme zu.