Herausforderung Westbalkan
Fast 50 Prozent aller Asylbewerber kommen derzeit aus den Ländern des Westbalkan. Gleichzeitig werden genau diese Länder immer mehr zu Transitländern für Flüchtlinge und illegale Einwanderer aus Syrien, Südasien oder Afrika. Auf ihrer Reise nach Albanien, Serbien und Bosnien-Herzegowina hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Wegen gesucht, den Ländern des Westbalkan beizustehen.
Flüchtlingskrise

Herausforderung Westbalkan

Fast 50 Prozent aller Asylbewerber kommen derzeit aus den Ländern des Westbalkan. Gleichzeitig werden genau diese Länder immer mehr zu Transitländern für Flüchtlinge und illegale Einwanderer aus Syrien, Südasien oder Afrika. Auf ihrer Reise nach Albanien, Serbien und Bosnien-Herzegowina hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Wegen gesucht, den Ländern des Westbalkan beizustehen.

Der Westbalkan wird für die Bundesrepublik Deutschland immer mehr zum Ort eines doppelten Einwanderungsproblems: Zum einen kommen derzeit etwa 50 Prozent aller Asylbewerber aus den Westbalkanländern selbst – Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Albanien und Mazedonien – ohne die geringste Aussicht auf Anerkennung ihrer Asylgesuche. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer weist regelmäßig darauf hin. Zum anderen sind diese Balkanstaaten Transitländer für immer mehr Flüchtlinge und Einwanderer aus Syrien, Südasien oder Afrika, die über die Türkei und Griechenland in nordeuropäische EU-Länder streben. Um diese doppelte Herausforderung ging es auf Bundeskanzlerin Angela Merkels zweitägiger Balkanreise.

Transitland Serbien

„Serbien ist ein Transitland geworden“, betonte Merkel in Belgrad nach einem Gespräch mit Ministerpräsident Aleksandar Vucic. In den vergangenen Wochen sind die Zahlen stark gestiegen: Derzeit kommen jeden Tag etwa 1000 Flüchtlinge in Serbien an, überwiegend aus Syrien. Merkel: Für ein Land von der Größe Serbiens sei das eine große Herausforderung. Und für die nördlich und westlich gelegenen EU-Nachtbarländer, könnte man hinzufügen, denn die Flüchtlinge oder Einwanderer wollen in der Regel nicht in Serbien bleiben. Ungarn will aus dem Grund an seiner Grenze einen Zaun oder eine Mauer errichten.

Serbiens Schuldenwachstum wird weitergehen: Denn 2014 lag das Haushaltsdefizit bei beunruhigenden 6,9 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Merkel hat dagegen in Belgrad Unterstützung zugesagt: „Wir werden auch hier in den Ländern helfen müssen – es nützt nichts, wenn sich jeder gegen den anderen abschottet.“ Der EU-Beitrittskandidat Serbien – mit 77.484 Quadratkilometern ist das Land nur wenig größer als Bayern und hat 7,1 Millionen Einwohner – kann Unterstützung gut brauchen. Die Staatsverschuldung erreichte 2014 etwa 71 Prozent, nach knapp 64 Prozent im Vorjahr. Das Schuldenwachstum wird weitergehen: Denn 2014 lag das Haushaltsdefizit bei beunruhigenden 6,9 Prozent der Wirtschaftsleistung – die im vergangenen Jahr um 1,8 Prozent schrumpfte. Für 2015 wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung von 0,5 Prozent erwartet. Die Arbeitslosenrate ist im vergangenen Jahr von knapp über 20 auf 17,6 Prozent zurückgegangen. Das durchschnittliche Einkommen liegt bei monatlich 380 Euro.

Armutsland Albanien

Eher noch düsterer ist die Lage in Albanien, der ersten Station der Balkanreise der Bundeskanzlerin. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von 3486 Euro zählt Albanien zu den ärmsten Ländern Europas. Nach Wachstumsraten von durchschnittlich sechs Prozent sank das Wirtschaftswachstum des Armutslandes seit Beginn der europäischen Schuldenkrise auf Raten nahe Null. 2014 waren es wieder zwei Prozent, für 2015 werden 2,5 Prozent Wachstum erwartet. Unterdessen ist die Staatsverschuldung auf 72 Prozent gewachsen (2014), bei einem Haushaltsdefizit von 6,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit beträgt 18 Prozent – eine offizielle Zahl, die die von Subsistenzlandwirtschaft lebende Landbevölkerung wohl nicht einschließt. Der Durchschnittslohn soll bei monatlich 377 Euro liegen. Angaben des Auswärtigen Amtes zufolge leben sieben Prozent der Bevölkerung in „absoluter Armut“ von umgerechnet 65 Euro pro Monat – nach Angaben der CIA sind es 14 Prozent. Die Armutszahlen erklären aktuelle Umfragen, denen zufolge 67 Prozent der jungen Albaner ihr Land in Richtung Deutschland, Großbritannien, Schweiz oder USA verlassen wollen.

Sagen Sie den jungen Leuten: Das ist ein Irrweg, das wird nicht funktionieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel in Tirana

Die anhaltende Auswanderungswelle aus Albanien war darum in Tirana wichtiges Gesprächsthema für Bundeskanzlerin Merkel. „Wir sind uns einig, dass Albanien kein Land ist, aus dem Asylanträge anerkennt werden“, betonte Merkel nach Gesprächen mit Ministerpräsident Edi Rama. Auf einer deutsch-albanischen Wirtschaftskonferenz wendete sie sich sozusagen direkt an die auswanderungswütige albanische Jugend: „Ich muss Sie alle bitten, sagen Sie den jungen Leuten: Das ist ein Irrweg, das wird nicht funktionieren.“ Albanien ist EU-Beitrittskandidat und damit automatisch ein sicheres Herkunftsland. Allerdings, so Merkel weiter, könne Albanien durchaus ein Land sein, aus dem Menschen völlig legal zum Arbeiten nach Deutschland kämen, wo es in einigen Branchen an Fachkräften mangele.

Ministerpräsident Rama warb um Hilfe bei dem Bemühen, den Menschen in seinem Land eine Perspektive zu geben – ein Wink mit dem Zaunpfahl um Unterstützung bei Albaniens EU-Hoffnungen. Merkel: „Wir versuchen, Albanien auf diesem Weg zu unterstützen.“ Die EU-Beitrittsperspektive für die Balkanländer sei wichtig für Frieden und Stabilität in der Region. Außerdem könne die deutsch-albanische Wirtschaftskooperation ausgebaut werden, so die Bundeskanzlerin. Von besonderer Bedeutung seien dafür die Anstrengungen der albanischen Regierung bei der Herstellung von Rechtssicherheit. Albanien leidet unter „endemischer Korruption“ (CIA World Factbook) und starker organisierter Kriminalität.

Politisch instabil: Bosnien-Herzegowina

In Bosnien-Herzegowina, der letzten Station ihrer Balkanreise, traf Merkel zur wirtschaftlich desolaten Situation außerdem auf wachsende politische Instabilität. Am Tag vor Ihrer Ankunft in Sarajewo hatte das Parlament im serbischen Landesteil angekündigt, für Anfang September ein Referendum in die Wege leiten zu wollen, das zur Abspaltung der bosnischen „Serbenrepublik“ und zu deren Anschluss an Serbien führen könnte. Das Land ist in zwei fast selbständige Landeshälften geteilt: Die eine  wird von Serben kontrolliert, die andere von Bosniern und Kroaten. Interessant: Bosnische Kroaten können von Kroatien jederzeit und unkompliziert kroatische Pässe erhalten. Damit sind sie eigentlich schon EU-Bürger, was sich in Brüssel kaum jemand klar gemacht hat, als es seinerzeit um den EU-Beitritt Kroatiens ging.

Bosnische Kroaten können in Kroatien jederzeit  kroatische Pässe erhalten – und sind damit eigentlich schon EU-Bürger.

Auch aus Bosnien – 51.000 Quadratkilometer, 3,8 Millionen Einwohner – erreichen viele illegale Einwanderer Deutschland: Knapp 50 Prozent der jungen Leute wollen Bosnien-Herzegowina verlassen. Ursache ist auch hier eine schwierige wirtschaftliche Lage: Die Arbeitslosenrate liegt bei über 40 Prozent – oder bei knapp 30 Prozent, wenn man umfangreiche Schattenwirtschaft einbezieht. Mit 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit hält Bosnien-Herzegowina einen traurigen regionalen Rekord. Der monatliche Durchschnittslohn liegt bei etwa 423 Euro – 17 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutslinie (2011).

Auch die Bosnier bekamen Merkels Balkan-Botschaft zuhören: Deutschland wird Bosniens EU-Beitrittsprozess unterstützen, und legale Zuwanderung ist möglich. Bosnische Behörden könnten dafür Kontakte zum deutschen Arbeitsministerium und zur Bundesagentur für Arbeit herstellen, denn in Deutschland würden Fachkräfte gesucht. Merkel: „Dies könnte eine Win-win-Situation zwischen unseren Ländern sein.“

Derweil nähert sich in Bosnien-Herzegowina ein düsterer 20. Gedenktag: Am 11. Juli 1995 kam es im bosnischen Srebrenica zum schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg:  Bosnische Serben massakrierten 8000 Bosniaken. In Sarajewo nahm sich Merkel Zeit für ein Gespräch mit Hinterbliebenen. Merkel:

Wir brauchen alle gemeinsam den Mut, die Zukunft zu gestalten, damit sich solche schrecklichen Ereignisse nicht wiederholen und die Jugend dieses Landes eine Zukunft hat, die friedlich sein kann.

Bundeskanzlerin Angela Merkel in Sarajewo