Gesucht: Solidarität in Europa
Mehr als 600 Milliarden Euro an Investitionen, ein gemeinsamer Grenzschutz, freies WLAN an öffentlichen Plätzen: Mit einem Bündel konkreter Vorschläge stemmt sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gegen die Krise der Europäischen Union. Wie groß die Solidarität der EU-Staaten aktuell ist, wird sich beim Treffen der 27 Regierungschefs am 16. September in Bratislava zeigen.
Brüssel

Gesucht: Solidarität in Europa

Mehr als 600 Milliarden Euro an Investitionen, ein gemeinsamer Grenzschutz, freies WLAN an öffentlichen Plätzen: Mit einem Bündel konkreter Vorschläge stemmt sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gegen die Krise der Europäischen Union. Wie groß die Solidarität der EU-Staaten aktuell ist, wird sich beim Treffen der 27 Regierungschefs am 16. September in Bratislava zeigen.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sieht die Europäische Union in einer existenziellen Krise. Die 28 Mitgliedstaaten sprächen zu oft nur von ihren eigenen nationalen Interessen, sagte Juncker in seiner Rede zur Lage der Union im Europaparlament in Straßburg. Hintergrund ist das Votum der Briten im Juni für ein Ausscheiden aus der EU.

Die Zahl der Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein.

Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident

Wie recht Juncker hat, zeigen die jüngsten Entwicklungen: Während er zu Solidarität aufruft, verkündet EU-Beitrittskandidat Serbien, das Land wolle Grenzzäune zu Mazedonien und Bulgarien errichten, um Tausende neue Migranten von seinem Territorium fernzuhalten. Serbien ist zwar nur ein Beitrittskandidat der EU. Die Reaktion ist dennoch ein Indiz dafür, dass eine gemeinsame Strategie in der Flüchtlingskrise fehlt. Hier sei mehr Solidarität nötig, sagt Juncker. Er appellierte an die derzeitige slowakische EU-Ratspräsidentschaft, die Verschiedenheiten zwischen denen zu überbrücken, „die widerstrebend sind, Flüchtlinge in ihren Gesellschaften zu integrieren“, und denen, die überzeugt seien, dass Flüchtlinge fair auf die EU-Länder verteilt werden müssten.

Private Investitionen gegen Wirtschaftsflaute

Um die Wirtschaftsflaute in Europa zu überwinden, will Juncker sein 2014 gestartetes Investitionsprogramm verdoppeln: Statt 315 Milliarden Euro binnen drei Jahren sollen nun 630 Milliarden bis 2020 erreicht werden. Der sogenannte Juncker-Plan soll mit einem kleinen Anteil öffentlicher Gelder vor allem private Investitionen anstoßen. Der Grundstock waren 21 Milliarden Euro im „Europäischen Fonds für strategische Investitionen“ (EFSI). Seit seinem Beginn sind damit nach Angaben der EU-Kommission bereits Projekte für 116 Milliarden Euro gestartet worden. Die Finanzierung der Verdoppelung des Förderprogramms in Volumen und Dauer ist allerdings noch nicht geklärt. Als gesichert gilt nach Junckers Worten nur ein Gesamtvolumen von 500 Milliarden Euro bis 2020. Nötig sind darüber hinaus weitere Mittel aus dem EU-Haushalt wie auch von den Mitgliedstaaten.

Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der EVP-Fraktion, unterstützt den Plan des EU-Kommissars, der nicht nur neue Investitionen möglich mache, sondern auch Forschung fördere.

Die EVP-Fraktion steht für Solidarität und eine faire Lastenteilung bei den Flüchtlingen. Und wir stehen für ökonomische Stärke. Deshalb unterstützen wir den Juncker-Plan, der neue Investitionen möglich macht und Innovation und Forschung fördert.

Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der EVP-Fraktion

Mehr Megabyte, mehr Handel, mehr Jobs

Die Digitalisierung Europas will Juncker unter anderem mit dem raschen Ausbau des superschnellen mobilen Internets 5G vorantreiben, bis 2025 soll es überall in der EU verfügbar sein. Davon verspricht er sich bis zu zwei Millionen zusätzliche Jobs. Außerdem gab er als Ziel aus, bis 2020 an öffentlichen Plätzen in Stadtzentren in der EU freies WLAN anzubieten.

Juncker machte sich außerdem für Freihandel als Jobmotor stark. Das umstrittene Abkommen CETA mit Kanada nannte er das „beste und fortschrittlichste“ Handelsabkommen, das die EU je abgeschlossen habe. Nachverhandlungen schloss er aus. Damit ist er auf der Linie der Bayerischen Staatsregierung. Sie betont die Bedeutung der beiden Freihandelsabkommen TTIP und CETA für den Freistaat Bayern – explizit entgegen der Einschätzung von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), der TTIP für „de facto gescheitert“ erklärt hatte. CETA, das zwischen EU und Kanada bereits fertig verhandelt ist, hält der Ministerrat für ein ausgewogenes Regelwerk, das nicht zu Absenkungen von EU-Standards führe, wie manche Kritiker bemängeln. Lesen Sie mehr dazu: „Bavarian Beer“, das nicht aus Bayern stammt.

Keine unkontrollierten Einreisen

Wegen der Verunsicherung vieler Europäer nach der Flüchtlingskrise mahnte Juncker den raschen Aufbau eines gemeinsamen Grenz- und Küstenschutzes an. Konkret sollen bereits ab Oktober 2016 zusätzliche Beamte aus Europa Bulgarien bei der Sicherung der Grenze zur Türkei helfen. Darüber hinaus soll es auch in Europa – ähnlich wie in den USA – ein Registrierungssystem für Einreisende geben, um alle Bewegungen lückenlos zu erfassen und Daten mit Terrordatenbanken abzugleichen. Diese sollen nach Junckers Worten zusammengeführt werden, um den Informationsaustausch zu erleichtern und Terroristen aufzuspüren. Das schlägt die CSU bereits seit Langem vor. So fordert Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, die Sicherheitsbehörden der EU-Staaten müssten einen Zugriff auf das Europäische Fingerabdruckidentifizierungssystem EURODAC, auf die noch zu schaffenden DNA-Datenbanken sowie das Europäische Ein- und Ausreiseregister erhalten. „Es darf keine unkontrollierten Einreisen mehr geben“, so lautet Bayerns Sicherheitskonzept. Lesen Sie mehr dazu: Jetzt muss gehandelt werden.

Thema Terrorgefahr im Fokus

Das Thema Grenzschutz, die innere Sicherheit und den Kampf gegen den Terror will auch EU-Ratspräsident Donald Tusk in den Mittelpunkt des nächsten EU-Treffens am 16. September in Bratislava stellen. Dies geht aus dem Einladungsschreiben des Gipfelchefs hervor, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. „Die Migrationskrise war der Kipppunkt“, schrieb Tusk. Chaotische Szenen und die Bilder von Hunderttausenden unkontrolliert Kommenden hätten bei vielen Europäern ein Gefühl der Bedrohung genährt. „Bratislava muss zum Wendepunkt werden mit Blick auf die Sicherung unserer Grenzen“, hieß es. Tusk wiederholte den Vorschlag, jeder solle bei der Einreise mit Hilfe von Datenbanken überprüft werden, um potenzielle Terroristen abzuhalten.

Fluchtursachen bekämpfen

Die Mitgliedstaaten mahnte Tusk, enger zusammenzuarbeiten und ihre Haltung zur EU zu ändern. „Der Slogan „Weniger Macht für Brüssel“, der in Wahlkämpfen attraktiv klingt, sollte übersetzt werden in „Mehr Verantwortung für die Union in den nationalen Hauptstädten“. Damit ist er auf gleichem Kurs mit dem EU-Kommissionspräsidenten. Die EU sollte aus Junckers Sicht ihre Außenpolitik stärken und als erstes konkret eine Initiative für Syrien starten. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini müsse gestärkt werden, so dass sie zur „echten europäischen Außenministerin“ wird und bei Friedensverhandlungen mit Syrien mit am Tisch sitze.

Die EU-Außenbeauftragte muss an internationalen Verhandlungstischen sitzen, wenn über einen Frieden für Syrien beraten wird.

Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident

Zudem soll ein Investitionsplan für Afrika und andere Herkunftsregionen von Flüchtlingen 44 Milliarden Euro mobilisieren und damit Fluchtursachen bekämpfen. Der Kommissionspräsident stellte sich zudem hinter Pläne für eine engere Verteidigungszusammenarbeit mit einem gemeinsamen EU-Hauptquartier für militärische und zivile Missionen. Abgeordnete der großen Fraktionen – der konservativen Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten – äußerten sich wie Juncker besorgt über den Zustand der Union und begrüßten seine Vorschläge grundsätzlich. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen meinte hingegen, Juncker habe eine Grabrede auf die EU gehalten.

(dpa/AS)