Warnung vor dem kleinen, unheimlichen und unheimlich mächtigen Mann vom Bosporus: Recep Erdogan. (Bild: Imago/Depo Photos)
Verfolgung

Die türkische Diktatur breitet sich aus

Die Berichte häufen sich, dass in der Türkei nicht nur Gülen-Angehörige verfolgt werden, sondern alle Kritiker Erdogans. Falls die Gründe für eine Haft nicht reichen, wird man eben einfach zum Gülen-Angehörigen erklärt.

Jetzt hat das ARD-Magazin „Monitor“ über verschiedene Fälle berichtet, in denen offenbar Menschen inhaftiert wurden, die mit der Gülen-Bewegung, die für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird, nichts zu tun haben. ARD-Journalist Stephan Stuchlik war mit seinem Team zehn Tage in der Türkei unterwegs und hat sich mit Vertretern einer Zivilgesellschaft getroffen, die sich kaum noch in die Öffentlichkeit trauen. Lehrer wurden gekündigt allein wegen ihrer Sympathien zur Opposition. „Am Sonntag kam ich von einer Auslandsreise nach Istanbul zurück, da hat die Polizei am Flughafen einfach meinen Pass eingehalten. Dann kam ich in die Schule, dort sagte man mir, ich sei entlassen. Ich bin völlig fertig“, so ein Lehrer. „Ich war mit meinen Kollegen immer sehr aktiv, habe mich in den sozialen Netzwerken kritisch zur Haltung des Staates und der Politik geäußert. Das könnte ein Grund für meine Entlassung sein. Offiziell gehe ich davon aus, dass man mir mein Konto bei einer Gülen-nahen Bank vorwirft. Ich finde sogar das Warten auf eine Begründung zermürbend“, sagte eine weitere Lehrerin einer Berufsschule.

Ich glaube, dass man gerade versucht, unser Leben massiv einzuschränken.

Kurdin und Schwester eines Inhaftierten

Die Erdogan-Anhänger halten laut Monitor mittlerweile alle öffentlichen Plätze mit täglichen Jubelorgien besetzt, sogar den Taksim-Platz, der eigentlich für die Erdogan-Opposition zum Symbol wurde. Überall türkische Flaggen, die Menge skandierte „Allah ist der Größte“. Das Magazin berichtete weiter über einen für drei Tage inhaftierten Universitätsdozenten, ein linksorientierte Kurde, was beides nicht zu Gülen passt. Kein Prozess, nur der Haftrichter hat über ihn entschieden. „Ein Irrtum“, heißt es dann bei seiner Freilassung. Einen Effekt hat die Haft dennoch: Der Dozent schweigt vor dem Monitor-Team, er hat Angst um seinen Job. Wieder einer mundtot gemacht. Seine Schwester befürchtet: „Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft (…) Ich glaube, dass man gerade versucht, unser Leben massiv einzuschränken, es werden irgendwelche Anschuldigungen gegen unbequeme Leute erfunden, die man dann verurteilt und einsperrt – und ich weiß, morgen könnte das ich sein.“

Der investigative Journalismus ist tot

Die Medien stehen vor der totalen Gleichschaltung. Eine Welle von Verhaftungen rollt, echte Gülen-Anhänger sind kaum darunter und das Alter spielt keine Rolle. Die 72-jährige Journalistin Nazli Ilicak wurde an einem Checkpoint in Bodrum verhaftet. Inhaftiert wurde auch der 80-jährige Autor Hilmi Yavuz und der in Handschellen abgeführte 72-jährige Professor Şahin Alpay. Alpay gilt als eine der wichtigsten liberalen Stimmen der Türkei und hat ernste gesundheitliche Probleme. Dennoch wurde ein Antrag auf Haftentlassung abgelehnt. Die auf Rechtsthemen spezialisierte Reporterin Büşra Erdal lieferte sich selbst aus.

Yavuz Baydar, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul, berichtet in der SZ über die wenige Stunden nach dem Putsch offiziell gesuchten 42 Journalisten:

Die meisten der Gesuchten sind mutige Reporter, von der Rechten wie von der Linken, sie alle haben über Korruption, Machtmissbrauch und den Niedergang der Demokratie recherchiert. (…) Es werden nicht so sehr die Kolumnisten gejagt, sondern die mutigen Reporter, die Geschichten aufdecken.

Nach seinen Angaben ist auch die unabhängige Reporterin und Rechtsexpertin Arzu Yildiz verschwunden und Baydar weiß den Grund: „Die Regierung will die Wahrheit hinter all den Haftbefehlen für Richter und Staatsanwälte vertuschen. Viele von ihnen kennt Arzu Yildiz persönlich und weiß deshalb genau, welche Ansichten sie vertreten.“ Sie könnte also auch hier die Gülen-Vorwürfe leicht entkräften. SZ-Gastautor Baydar schreibt weiter, dass sogar die Ehefrauen von gesuchten Autoren als Druckmittel inhaftiert wurden. Mütter würden von ihren kleinen Kindern getrennt.

Die AKP-treuen Kollegen „überbieten“ sich im Einsatz für die Pressefreiheit: Das Pro-AKP-Blatt Sabah publizierte eine lange Liste mit den Namen kritischer Kommentatoren und beschuldigte sie ohne jeden Beweis, den Putsch provoziert zu haben. Die Ausgabe einer Satirezeitschrift dagegen wurde wegen eines kritischen Titelblattes zum Putsch eingestampft, die Journalisten offen bedroht und die Redaktion von AKP-Treuen belagert.

Jedes Mittel ist recht

Es geht aber auch subtiler: Druckereien weigern sich, kritische Zeitungen zu drucken, Jorurnalisten finden keine Abnehmer mehr für ihre Geschichten. 200 Journalisten wurde der Zugang zum türkischen Parlament verboten. Die Regierung beschränkt offenbar auch massenhaft die Reisefreiheit von Journalisten, nicht nur die von Akademikern. Der bereits wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen – das waren Berichte über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten, die laut Erdogan „humanitäre Hilfsgüter“ waren – zu mehreren Jahren Haft verurteile Journalist Can Dündar klagte die EU in der britischen Zeitung Guardian an:

Gut, wir sind vor einem Militärputsch bewahrt worden, aber wer schützt uns nun vor einem Polizeistaat? Gut, wir haben das Militär zurück in die Kasernen geschickt, aber wie rettet man uns vor einer Politik, die in Moscheen ersonnen wird? Diese Frage dann noch an Europa: Werden Sie immer noch kooperieren, weil Erdogan ‚die Schlüssel zu den Flüchtlingen‘ in der Hand hält? Oder werden Sie sich für seine Unterstützung schämen und zu einer modernen Türkei stehen?

Die Unabhängigkeit der Justiz ist aufgehoben

Zwei Richter, beide noch im Amt, trafen sich heimlich mit dem Monitor-Team. Sie sahen sich trotz der Risiken dazu gezwungen, weil sie ihren Eid „auf eine andere Verfassung“ geschworen hätten. „Vielen Leuten widerfährt Unrecht“, berichtet einer der beiden. „Und die Untersuchungen laufen in einer rechtswidrigen Form ab.“ Der Andere bemängelt die fehlenden Beweise, die eigentlich für all die Entlassungen und Verhaftungen notwendig gewesen wären: „Jetzt werden Journalisten, kritische Akademiker und Menschen mit anderer Meinung ins Gefängnis gesteckt.“

Menschen 30 Tage ohne Anwalt einzusperren, das ist ein Freibrief für Folter, ganz ohne Zweifel.

Orhan Kemal Cengiz, Menschenrechtsanwalt

Auch der bekannteste türkische Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz wurde vier Tage inhaftiert. Er berichtete in der ARD von Folter und schweren Misshandlungen anderer Inhaftierter. Er bemängelte den Ausnahmezustand, der es erlaube, Menschen 30 Tage ohne Anwalt einzusperren, als „Freibrief für Folter“. Der Monitor-Bericht findet auch andernorts Bestätigung: Laut der türkischen Anwaltskammer wurden mindestens 76 Anwälte verhaftet. Anwälte, die angebliche Gülenisten vertreten sollten, weigerten sich, deren Fälle zu übernehmen oder legten ihr Mandat nieder. Und ausgerechnet Irfan Fidan, bisher Anwalt der Antiterroreinheit, wurde jetzt zu Istanbuls Oberstaatsanwalt ernannt. Er war es, der alle Korruptionsermittlungen gegen Erdogans Familie und andere AKP-Größen einstellte sowie Dündar und Erdem Gül von der Zeitung Cumhuriyet festnehmen und zu fünf Jahren Haft verurteilen ließ.

Soldaten wussten angeblich nicht, dass ihr Einsatz einem Putsch diente

An einem Gefängnis hörten die ARD-Reporter, dass auch Militärschüler und junge Soldaten als Putschisten inhaftiert wurden, denen beim angeblichen Putsch nur gesagt wurde, es ginge jetzt gegen den IS, oder die schlicht an ihnen unbekannte Einsatzorte abkommandiert wurden. Einer der inhaftierten jungen Männer ist gerade Vater geworden und hat seinen Sohn noch nie gesehen – nicht gerade ein Motiv, sich an einem hochgefährlichen Putsch zu beteiligen.

Ein weiterer Monitor-Beitrag äußerte dann noch starke Zweifel über die Alleinurheberschaft von Fethullah Gülen als Putschistenführer, da es keine Beweise und nur zweifelhafte Belastungszeugen dafür gibt. Zudem gebe es auch viele Nicht-Gülenisten, die an dem angeblichen Putsch beteiligt waren.

Düstere Bilanz

Nach dem Putschversuch hat die Regierung bislang mindestens 80.000 Angehörige von Militär, Justiz, Polizei, Bildungswesen und Verwaltung suspendieren oder festnehmen lassen. Mindestens 15 Universitäten, 35 Krankenhäuser, 104 Stiftungen, 1125 Nichtregierungsorganisationen und 19 Gewerkschaften wurden geschlossen oder verboten. Dazu reichte die Behauptung, sie gehörten zur „Parallelstruktur“, also Gülen. Für einen höchst dilettantischen Putsch waren also ziemlich viele Menschen und Institutionen beteiligt.

Sie werden in zwei Quadratmeter großen Löchern sterben wie Kanalratten.

Nihat Zeybekci, Wirtschaftsminister

Die üblen Drohungen der AKP säen im Land Hass und befördern noch mehr Gewalt: „Wir werden sie so hart bestrafen, dass sie flehen werden: ‚Lasst uns sterben, damit wir erlöst werden!‘ Wir werden sie zwingen, uns anzuflehen. Wir werden sie in so tiefe Löcher werfen, dass sie kein Sonnenlicht mehr sehen, solange sie atmen. ‚Tötet uns‘, werden sie uns anflehen. Selbst wenn wir sie hinrichteten, fände mein Herz keinen Frieden. Sie werden in zwei Quadratmeter großen Löchern sterben wie Kanalratten“, so der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci.

Kurdenpartei wird drangsaliert, das Parlament ausgeschaltet

Razzien gab es in der Istanbuler Parteizentrale und Büros der HDP. Die türkische Führung erneuerte auch den Vorwurf, die pro-kurdische Oppositionspartei HDP sei der verlängerte Arm der verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Die HDP ihrerseits bestritt die Vorwürfe. Auf ihrem Twitter-Account berichtete die Kurdenpartei, dass die Beamten die Tür aufgebrochen und die Räume „illegalerweise“ betreten hätte, da kein Parteifunktionär anwesend war. Es war schon die dritte Durchsuchung der Büros seit Januar. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur Dicle fanden HDP-Mitglieder danach rassistische Parolen an den Wänden, die Bilder an den Wänden und Bücher in den Regalen seien auf den Boden geworfen, Möbel zertrümmert und sämtliche Festplatten der Computer beschlagnahmt worden. „Solche Aktionen kommen immer öfter vor, sie folgen keinen rechtsstaatlichen Regeln mehr, und wir können nichts dagegen tun“, sagte der HDP-Abgeordnete Ziya Pir gegenüber der Frankfurter Rundschau. Politiker der HDP beklagten, dass Mitglieder ihrer Partei seit dem gescheiterten Putsch zunehmend polizeilichen Übergriffen ausgesetzt seien, obwohl sie als einzige Partei keinerlei Verbindungen zu Gülen aufwiesen.

Drei bis vier Leute entscheiden alles allein, und wir sprechen von Entscheidungen, die noch weit über den Ausnahmezustand hinausreichen.

Kemal Kilicdaroglu, CHP-Chef

Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der kemalistischen Oppositionspartei CHP, kritisierte zudem in der Zeitung Hürriyet die Ausschaltung des Parlaments: „Drei bis vier Leute entscheiden alles allein, und wir sprechen von Entscheidungen, die noch weit über den Ausnahmezustand hinausreichen. Das Parlament wäre hierfür eigentlich die Instanz. Was momentan geschieht, ist inakzeptabel. Man kann einen Staat nicht unter der Begründung eines Putschversuchs komplett umgestalten, indem man alle sozialen Gruppen ausschließt, die sich diesem Putsch widersetzt haben.“ Selbst schuld, die CHP hatte diesem Ausnahmezustand zugestimmt.

Teile und herrsche, nach diesem Prinzip regiert Erdogan. Vor Kurzem erklärte der Präsident, dass er seine 2000 Beleidigungsklagen gegen Journalisten und Politiker fallen lassen werde, darunter auch der CHP-Chef. Aber dann teilten seine Anwälte mit, die prokurdische HDP sei davon ausgenommen.

Massenflucht aus der Türkei?

Die Kurdische Gemeinde Deutschland befürchtet eine Fluchtwelle. „Kurzfristig rechne ich mit Zehntausenden, mittelfristig mit einigen Hunderttausend Schutzsuchenden aus der Türkei in Deutschland, wenn das Erdogan-Regime die Minderheiten und die demokratische Opposition weiter bekämpft“, sagte der Verbandsvorsitzende Ali Toprak, der auch CDU-Mitglied ist, der Zeitung Die Welt. Weil die Regierung bereits vor Monaten kurdische Hochburgen mit Strafaktionen überzogen habe, seien bereits 500.000 Kurden innerhalb der Türkei auf der Flucht. Nach dem Putsch kämen noch säkulare und oppositionelle ethnische Türken hinzu. Der Verbandschef beklagte zudem die gezielte Ansiedlung syrischer Araber in kurdischen, aber auch in alevitischen Städten. So wolle Erdogan den Ausreisedruck auf die verbliebenen Minderheiten erhöhen. Mit Blick auf einen EU-Beitritt der Türkei sagte der Verbandsvorsitzende:

Wer hier noch für die Aufrechterhaltung der Beitrittsgespräche plädiert, weil er ,die Demokraten im Land nicht alleinlassen‘ wolle, spielt mit seiner eigenen Glaubwürdigkeit und vor allem mit der Würde aller Demokraten.

Auch SZ-Gastautor Yavuz Bayd schreibt: „Wenn sich dieser bedrückende Trend fortsetzt, wird die Elite aus türkischen Medien, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft sowie eine junge Generation, die sich schikaniert fühlt und angesichts eines ‚Teufelskulturkampfs‘ seit Jahren verzweifelt, gar keine andere Wahl mehr haben, als auszuwandern.“

Schon vor dem Putsch

Schon vor dem Putsch stellten Türken mit 29 Prozent die größte Gruppe der wegen politischer Verfolgung anerkannten Asylberechtigten. Der Putsch hat also nicht alles geändert, nur beschleunigt und verschärft. Schließlich gibt es die Attacken auf alle Andersdenkenden bis hin zu Gewalt und Mord schon spätestens seit den Gezi-Park-Protesten 2013. In den vergangenen Jahren wurden in der Türkei bereits sämtliche demokratischen Grundsätze geschrumpft, Zivilgesellschaft, Justiz und Medien schwer beschädigt. Wie weit das ging, zeigte beispielsweise dieses Urteil: Zwei Ärzte wurden wegen „Verunreinigung einer Gebetsstätte“ verurteilt, weil sie verletzten Gezi-Demonstranten in einer Moschee Erste Hilfe geleistet hatten.

Dazu kam der von Erdogan provozierte Krieg gegen die Kurden, der ohne Grenzen geführt wird. Im August 2015 tauchten Bilder auf, wie die nackten Leichname von PKK-Aktivistinnen und -Aktivisten von Polizeifahrzeugen durch die Straßen geschleift wurden. Die Türkei ist verloren.