Gestörte Beziehung: Seit Recep Erdogan die Türkei in eine Diktatur verwandelt hat, ist die Partnerschaft mit der EU praktisch zu Ende. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Türkei

Seehofer fordert Abbruch der Beitrittsverhandlungen

CSU-Chef Horst Seehofer fordert angesichts der jüngsten Entwicklung in der Türkei den sofortigen Abbruch der Verhandlungen über einen Beitritt des Landes zur EU. Laut Johannes Singhammer sollten auch die EU-Beihilfen gestoppt werden. Der Ausnahmezustand, der dem Autokraten Recep Erdogan praktisch die Alleinherrschaft sichert, sorgt international für große Sorgen.

„Wenn man sieht, wie die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch den Rechtsstaat abbaut, müssen diese Verhandlungen sofort gestoppt werden“, sagte der bayerische Ministerpräsident der Funke Mediengruppe nach Vorabbericht vom Freitag. Mit Blick auf rund 60.000 Staatsbedienstete, Dozenten oder Militärs, die suspendiert, verhaftet oder versetzt wurden, sagte er: „So handelt kein demokratischer Rechtsstaat.“ Seehofer sprach sich zudem dafür aus, den Türken keine Reisefreiheit zu gewähren: „Es darf keine vollständige Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU geben.“ Dies würde dem Import innertürkischer Probleme nach Deutschland gleichkommen. Der CSU-Chef nimmt damit in Kauf, dass das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei scheitert: „Wir können nicht die Zuwanderungsfrage um den Preis lösen, dass wir massive neue Probleme bei uns in Deutschland heraufbeschwören.“

So handelt kein demokratischer Rechtsstaat.

Horst Seehofer, über die Türkei

In dem Abkommen mit der EU hat sich die Türkei bereiterklärt, von ihrem Territorium aus illegal in die EU eingereiste Flüchtlinge zurückzunehmen. Im Gegenzug hat die EU neben finanziellen Hilfen beschleunigte Beitrittsverhandlungen sowie die Befreiung des Visa-Zwangs für Türken bei Reisen in EU-Länder zugesagt.

Drei Viertel der Deutschen sind laut eine Emnid-Umfrage angesichts der umfangreichen Festnahmen und Entlassungen nach dem Putschversuch in der Türkei für ein Ende der Verhandlungen über einen EU-Beitritt des Landes.

Weber: Beziehungen neu ordnen

Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), äußerte gegenüber der Rheinischen Post, „der Flüchtlingspakt funktioniert derzeit. Das Schlepperunwesen in der Ägäis etwa hat ein Ende. Es gibt keinen Grund, das Abkommen infrage zu stellen“. Es sei wichtig, dass sich die Türkei wieder beruhige. Danach aber gelte: „Nach dieser akuten Phase müssen wir das Verhältnis zur Türkei neu ordnen.“ Engere Handelsbeziehungen seien etwa denkbar. „Die EU-Vollmitgliedschaft wird aber nicht funktionieren. Mittelfristig sollten wir die Beitrittsgespräche beenden.“

Seehofer und Weber vertreten dabei die Meinung des Volkes: Ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union stieß im jüngsten ZDF-Politbarometer noch nie auf so viel Ablehnung wie zurzeit: 87 Prozent der Befragten und klare Mehrheiten in allen Parteianhängergruppen sind dagegen, dass die Türkei in einigen Jahren EU-Mitglied wird. Nach dem gescheiterten Putschversuch in der letzten Woche zeichnet eine große Mehrheit der Befragten ein düsteres Bild: 87 Prozent sind der Meinung, dass die Demokratie in der Türkei sehr stark oder stark gefährdet ist, lediglich 8 Prozent sehen das nicht so.

Keine neuen Beitrittskapitel eröffnen

Die Bundesregierung hält es angesichts des Vorgehens der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch für undenkbar, in den EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara neue Kapitel zu eröffnen. Regierungssprecher Steffen Seibert wollte sich aber am Freitag nicht zur Frage eines möglichen Abbruchs der Verhandlungen äußern. „Das ist ja auch keine deutsche Entscheidung“, sagte er. Seibert rief die türkische Regierung erneut dazu auf, sich an rechtsstaatliche Grundsätze zu halten. „Es wirft auch beunruhigende Fragen auf, wenn im Fernsehen oder auf Fotos Beschuldigte zu sehen sind, die deutliche Spuren von körperlicher Gewalt tragen, wenn Einzelne vor laufender Kamera gedemütigt oder erniedrigt werden“, sagte er.

Bundestagspräsident Norbert Lammert erklärte in der Schwäbischen Zeitung: „Die Türkei entfernt sich immer weiter von den europäischen Mindeststandards, auf die sie sich als Mitglied des Europarats ausdrücklich verpflichtet hat.“ Besorgniserregend seien vor allem die Massenverhaftungen und Amtserhebungen, „die erkennbar lange vorbereitet gewesen sein müssen“.

Singhammer: Finanzhilfen beenden

Die EU hatte die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vor elf Jahren eröffnet. Von 35 Verhandlungskapiteln sind 15 eröffnet. Ein Kapitel – Wissenschaft und Forschung – wurde vorläufig abgeschlossen. Im Zuge des Beitrittsprozesses erhält die Türkei wie alle EU-Kandidaten Finanzhilfen in Milliardenhöhe, um die Anpassung an EU- Standards zu erleichtern.

Nachweislich völlig wirkungslos.

Johannes Singhammer, MdB, über EU-Beihilfen zur Demokratisierung

Angesichts der aktuellen Entwicklung in der Türkei ist diese sogenannte Heranführungshilfe der EU in Milliardenhöhe aber in die Kritik geraten. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung bekam die Türkei zwischen dem Start der Hilfe 2007 und dem Jahr 2013 von der EU 4,8 Milliarden Euro, der deutsche Anteil daran betrug fast eine Milliarde Euro. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 habe die EU weitere 4,45 Milliarden Euro eingeplant. „Förderschwerpunkte“ sollen dabei laut EU unter anderen „Demokratie, Zivilgesellschaft, Rechtsstaatlichkeit“ sein. Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer bezeichnete das in der Süddeutschen Zeitung als Hohn und forderte das sofortige Einfrieren der Zahlungen. Schließlich beweise die Entwicklung in der Türkei hin zu einem autoritären Regime, dass die Hilfe „nachweislich völlig wirkungslos“ sei. Bei Religionsfreiheit, Pressefreiheit und rechtsstaatlichen Grundsätzen gebe es eher „einen Kontinentaldrift der Türkei“. Nach dem Putsch hatte Singhammer bereits dem Münchner Merkur gesagt:

Spätestens jetzt ist die Zeit gekommen, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu schubladisieren.

Auch Regierungssprecher Seibert sagte, man müsse nun „natürlich sehr genau hinschauen, wie sich die Bedingungen für den Einsatz dieser Mittel entwickeln“.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), hält dagegen eine Diskussion um die Streichung sogenannter Heranführungshilfen für die Türkei für wenig zielführend. „(…) Jetzt alles zu streichen, was irgendwelche Annäherung bringt, ich bin mir nicht sicher, dass das hilft“, sagte die SPD-Politikerin am Freitag im Deutschlandfunk. „Ich habe auch nicht gedacht, dass man mit Russland wirklich sich näherkommt, wenn man quasi überall nur Sanktionen verhängt.“ Diese Äußerungen sind aber nicht verwunderlich, schließlich war es vor allem die rot-grüne Bundesregierung von Gerhard Schröder, die den Fehler machte, die Türkei offiziell zu einem EU-Beitrittskandidaten zu küren.

Als offene Frage bleibt auch, ob die Türkei die Beihilfen zurückzahlen muss, wenn sie nicht der EU beitritt.

Türkei im Ausnahmezustand

Seit Donnerstag gilt in der Türkei ein 90-tägiger Ausnahmezustand, den der Staatspräsident ausgerufen hat. Unter dem Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren, die Behörden können beispielsweise Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medienberichterstattung zensieren oder verbieten. Seine Erlasse haben Gesetzeskraft. Zwar müssen sie noch am selben Tag dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden. Angesichts der AKP-Mehrheit gilt ihre Billigung aber als sicher.

Ziel ist nach Erdogans Worten, gegen Anhänger der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorzugehen, den er für den Putsch verantwortlich sieht. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus kündigte an, dass die Türkei außerdem die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend aussetzen werde. Er verwies auf Artikel 15 der Konvention, der einen solchen Schritt in Kriegs- oder Notstandszeiten mit Einschränkungen erlaubt. Laut der Konvention ist jedoch die Aussetzung bestimmter Grundrechte nicht möglich, etwa das Recht auf Leben. Auch Frankreich hat die Konvention nach den Anschlägen von Paris teilweise ausgesetzt, ebenso wie die Regierung in Kiew wegen der Gewalt in der Ostukraine. Frankreich und auch Belgien hatten nach Terroranschlägen ebenfalls den Ausnahmezustand verhängt, sogar für sechs Monate, was um weitere sechs Monate verlängert wurde.

Die türkische Regierung hat nach dem gescheiterten Putschversuch vor einer Woche tausende Richter, Lehrer, Wissenschaftler und Soldaten entlassen oder festnehmen lassen. Die Zahl der Festnahmen seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei ist nach Angaben von Staatspräsident Erdogan auf 10.410 gestiegen, darunter 7423 Soldaten, 287 Polizisten, 2014 Richter und Staatsanwälte sowie 686 weitere Zivilisten. 4060 von ihnen seien in Untersuchungshaft genommen worden. Mehr als 60.000 Menschen sollen mittlerweile suspendiert oder entlassen worden sein, darunter tausende Richter, Staatsanwälte, Lehrer, Professoren, Soldaten und Polizisten.

Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir.

Recep Erdogan

Erdogan erklärte den 15. Juli, an dem der Putschversuch mit mehr als 260 Toten begann, zum „Gedenktag für Märtyrer“. Er wandte sich ans Volk: „Habt keine Sorge. Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir.“ Er fügte hinzu: „Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen.“ Vize-Ministerpräsident Kurtulmus sicherte zu: „Dass Versammlungen und Demonstrationen verboten werden und Menschen nachts nicht auf die Straße gehen dürfen oder dergleichen, wird es niemals geben. Das kann ich für die gesamte Türkei sagen.“ Die Grundrechte blieben gewahrt.

Das war Illoyalität, Undank und ein ziviler Putsch gegen das Parlament.

Özgür Özel, CHP über den Ausnahmezustand

Die Opposition warnte nach der Ausrufung des Ausnahmezustands vor einer Alleinherrschaft Erdogans. Der Putschversuch biete ihm eine Gelegenheit, alle Gegner der Regierung auszuschalten und die demokratischen Rechte und Freiheiten weiter einzuschränken, kritisierte die pro-kurdische Partei HDP. Auch die größte Oppositionspartei CHP verurteilte den Ausnahmezustand. „Das war Illoyalität, Undank und ein ziviler Putsch gegen das Parlament“, sagte CHP-Fraktionschef Özgür Özel.

Proteste gegen Alleinherrschaft

Die Massenfestnahmen und die Suspendierung von Zehntausenden Staatsbediensteten haben international zu Rufen nach Verhältnismäßigkeit geführt. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn zeigten sich besorgt über die Entwicklung. In einer gemeinsamen Erklärung verlangten sie, dass die türkische Regierung unter allen Umständen die Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten bewahren müsse.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief das Land zur Einhaltung der Menschenrechte auf. Konstitutionelle Ordnung und die internationalen Menschenrechte müssten respektiert werden, forderte Ban. Dazu gehörten unter anderem Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit des Rechts- und Gerichtswesens.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) sieht die europäische Perspektive der Türkei nicht nur durch die etwaige Einführung der Todesstrafe gefährdet. Es gehe auch um die Frage von Willkürherrschaft und den Umgang mit politisch Andersdenkenden, sagte Kurz am Donnerstagabend in der Nachrichtensendung „ZiB2„. „Das sind Bereiche, in denen wir genauso rote Linien festsetzen müssen wie bei der Todesstrafe.“

Sorge über weitere Entwicklung in Deutschland

Die Bundesregierung hat nach eines Sprechers keine Hinweise darauf, dass Demonstrationen oder Übergriffe türkischer Gruppen in Deutschland von der Regierung in Ankara gesteuert werden. Die beteiligten Gruppierungen – wie etwa AKP-nahe Vereine sowie Einrichtungen von kurdischen Organisationen oder der Gülen-Bewegung – erfüllten allesamt nicht die Voraussetzungen, vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Innenministeriums-Sprecher Tobias Plate sprach von einem „erhöhten Demonstrationsaufkommen“, in Einzelfällen auch mit Gewalttätigkeiten und Sachbeschädigungen. Die Regierung beobachte „mit einer gewissen Sorge, wie sich das weiter entwickelt“.

Bei Gewalt hört der Spaß auf.

Thomas de Maizière, Innenminister

Aus Sicht von Innenminister Thomas de Maizière müsse man zwar Verständnis dafür haben, wenn sich Türken von den Ereignissen in ihrer Heimat betroffen fühlten und ihre Meinung dazu hätten, sagte der Sprecher. Die Meinung müsse aber friedlich geäußert werden. De Maizière selbst hatte am Donnerstag gesagt, wenn Konflikte in Deutschland mit Gewalt, Drohungen oder Einschüchterungen ausgetragen würden, höre der Spaß auf.

Der Hintergrund sind Berichte, wonach Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan auch in Deutschland gegen angebliche Gegner von ihm vorgehen. Erdogan-Anhänger hatten unlängst einen Jugendtreff in Gelsenkirchen attackiert, der der Gülen-Bewegung nahestehen soll. Für Freitagabend ist eine Kundgebung von Türken in Berlin angesetzt, am nächsten Wochenende rechnet die Polizei mit Tausenden Erdogan-Anhängern bei einer Demonstration in Köln. Die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) hat für Sonntag (31. Juli) eine Kundgebung angemeldet. Die Veranstalter rechnen mit bis zu 15.000 Teilnehmern. Die UETD mit Hauptsitz in Köln unterstützt die Regierungspartei AKP des umstrittenen türkischen Staatschefs.