Sonnenuntergang in Istanbul: Die Türkei ist gespalten. (Bild: Fotolia/Dario Bajurin)
Ausnahmezustand

Die Türkei wird gleichgeschaltet

Die türkische Führung will nach Tausenden Suspendierungen und Festnahmen wegen des Putschversuchs den Kampf gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen noch einmal verschärfen. Der Nationale Sicherheitsrat beriet mit Vertretern des Kabinetts und des Militärs in einer Sondersitzung unter Vorsitz von Präsident Recep Erdogan und verhängte den Ausnahmezustand. Der hat Folgen.

Der Nationale Sicherheitsrat kam erstmals seit der Niederschlagung des Putschversuchs in der Türkei zusammen. Im Nationalen Sicherheitsrat sind neben Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim auch mehrere Kabinettsmitglieder und Militärführer vertreten, darunter Armeechef Hulusi Akar. Die Sondersitzung wurde von Staatspräsident Erdogan geleitet, der formell Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Vor der Sitzung hatte Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu noch gesagt, die neuen Maßnahmen sollten dazu dienen, dass der Staat noch effektiver von Anhängern der Gülen-Bewegung „gesäubert“ wird. Es werde aber „keinen Ausnahmezustand“ oder dergleichen geben. Canikli versicherte, alle Maßnahmen würden sich im Rahmen des Rechtssystems bewegen.

Dann kam alles anders: Erdogan verkündete den Ausnahmezustand, der noch in der Nacht in Kraft trat. Noch am Donnerstag soll sich das Parlament mit der Maßnahme befassen. Das Parlament kann die dreimonatige Dauer des Ausnahmezustands verändern oder ihn aufheben, womit angesichts der klaren Mehrheit von Erdogan AKP in der Nationalversammlung nicht zu rechnen ist.

Im Ausnahmezustand

Unter dem Ausnahmezustand kann der Staatspräsident weitgehend per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Pressefreiheit können nach dem Gesetz zum Ausnahmezustand ausgesetzt oder eingeschränkt werden. So können die Behörden beispielsweise Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medien-Berichterstattung kontrollieren oder verbieten. Jahrelangen Ausnahmezustand gab es früher in mehrheitlich kurdischen Provinzen im Südosten des Landes. Dieser war zuletzt Ende 2002 in den Provinzen Diyarbakir und Sirnak aufgehoben worden.

Der Ausnahmezustand wird nur dazu genutzt, die Parallelstruktur zu bekämpfen.

Numan Kurtulmus, AKP-Regierungssprecher

Vize-Ministerpräsident und Regierungssprecher Numan Kurtulmus erklärte in der Nacht laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, vor allem die Befugnis zur Erlassung von Dekreten solle genutzt werden. Er bezog sich auf eine „Parallelstruktur“, einen Begriff, den die Regierung für die Gülen-Bewegung benutzt. „Der Ausnahmezustand wird nur dazu genutzt, die Parallelstruktur zu bekämpfen“, sagte Kurtulmus weiter. Der Ausnahmezustand betreffe nicht das Volk, sondern den Staat. Das alltägliche Leben der Bürger werde nicht beeinflusst. Auch die Arbeit des Parlaments bleibe unberührt.

Beruhigungspillen

Auch andere türkische AKP-Spitzenpolitiker versuchten zu beruhigen: Ministerpräsident Binali Yildirim teilte über Twitter mit, der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand sei nicht gegen das alltägliche Leben der Menschen gerichtet. Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek teilte ebenso via Twitter mit, der Ausnahmezustand werde weder die Pressefreiheit noch die Versammlungs- oder die Bewegungsfreiheit einschränken. Es handele sich nicht um die Ausrufung des Kriegsrechts wie unter der Militärdiktatur 1980. Das Leben gewöhnlicher Menschen werde nicht beeinträchtigt. Geschäfte würden normal weiterlaufen. „Wir sind der Marktwirtschaft verpflichtet.“ Die türkische Lira stürzte nach der Verhängung des Ausnahmezustands weiter ab.

Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen.

Recep Erdogan, türkischer Autokrat, der mehr als 2000 Journalisten wegen Beleidigung angezeigt hat

Erdogan wies Kritik aus der EU an seinem Kurs zurück. Mit Blick auf Frankreich sagte er, auch europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen den Ausnahmezustand verhängt. „Sie haben definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren.“ Erdogan versuchte nach der Verkündung des Ausnahmezustands gleich in mehreren nächtlichen Ansprachen ans Volk, mögliche Bedenken zu zerstreuen. „Habt keine Sorge“, sagte Erdogan. „Es wird im Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren wir.“ Der Ausnahmezustand sei zum Schutz der Bevölkerung und „definitiv nicht gegen Rechte und Freiheiten“ gerichtet. Ziel sei es, die Demokratie und den Rechtsstaat wiederherzustellen. „Wir werden von der Demokratie keinen Schritt abweichen“, versprach der Mann, der längst den Pfad der Demokratie verlassen hat und Journalisten, Minderheiten und Andersdenkende verfolgen lässt. Erdogan begründete den Ausnahmezustand mit Artikel 120 der Verfassung. Dieser erlaubt den Schritt bei „weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung“ oder bei einem „gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung“.

Todesstrafe soll wieder eingeführt werden

Der Umsturzversuch vom Freitagabend hatte auch Forderungen nach der Todesstrafe ausgelöst. Erdogan hat angekündigt, einer Wiedereinführung zuzustimmen, sollte das Parlament eine entsprechende Verfassungsänderung beschließen. Die EU drohte, in einem solchen Fall die Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu beenden. Nach der EU warnten auch die Vereinten Nationen die Türkei vor diesem Schritt.

Die ultrarechte Oppositionspartei MHP kündigte am Dienstag aber an, eine Initiative dafür zu unterstützen, sollte die Regierung sie auf den Weg bringen. Ihr geht es dabei vermutlich besonders um die unter ihren Mitgliedern extrem verhassten Kurden, insbesondere die der PKK-Guerilla. Mit der MHP hätte die AKP ausreichend Stimmen, um ein Referendum für eine entsprechende Verfassungsänderung zu beschließen. Dann würde eine einfache Mehrheit im Volk reichen, um die 2004 abgeschaffte Todesstrafe wieder einzuführen.

Kurdenpolitiker fürchten um ihr Leben

In der angespannten Lage fürchten nun Anhänger der pro-kurdischen HDP nach den Worten des deutsch-türkischen Abgeordneten Ziya Pir um ihr Leben. „Sie haben Angst, gelyncht zu werden. Die Stimmung gegen Oppositionelle ist zu aufgeheizt.“ Ein Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, sagte dagegen: „Es gibt keinen einzigen Fall, wo die Opposition beschuldigt oder sogar angegriffen wurde.“ Pir begrüßte die Niederschlagung des Putsches, „der Gott sei Dank abgewendet wurde. Jetzt erleben wir jedoch leider einen zivilen Gegenputsch. Die Maßnahmen und Säuberungen waren sehr gut vorbereitet“. Er warnte: „Diese Situation wird jetzt ausgenutzt, um unter dem Deckmantel der Komplizenschaft gegen alle Oppositionellen vorzugehen.“ Die Regierung weist diesen Vorwurf scharf zurück.

Die Gleichschaltung weitet sich aus

Seit dem Putschversuch mit mehr als 260 Toten geht die Regierung mit harter Hand gegen mutmaßliche Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vor. Knapp 30.000 Staatsbedienstete wurden suspendiert, mehr als 8500 Menschen wurden festgenommen. Die regierungsnahe Zeitung Sabah spricht sogar von 49.000 entlassenen Staatsbediensteten, darunter tausende Lehrer, Professoren und Hochschulrektoren, 7900 Polizisten, 3000 Richter und Staatsanwälte, 100 Geheimdienstmitarbeiter, 30 Provinzgouverneure und 47 Regionalpräfekten.

Ebenfalls wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entzog die Telekommunikationsbehörde RTÜK 24 Radio- und Fernsehstationen die Sendelizenz – sie müssen deshalb sofort ihren Betrieb einstellen. Schon bisher galten mehr als 80 Prozent der türkischen Medien „auf Linie gebracht“, also als AKP-hörig. In der „Reporter ohne Grenzen“-Rangliste der Pressefreiheit stürzte die Türkei in Erdogans Regierungszeit von Platz 99 auf Platz 151 ab.

In der Türkei wurde am Mittwochabend ein mutmaßlicher Rädelsführer des Putsches festgenommen. Oberst Muharrem Kose, juristischer Berater des Generalstabs, gelte als einer der Drahtzieher und Planer des Umsturzversuchs, berichtete die Agentur Anadolu. Die staatliche Religionsbehörde wies zudem ihre 75.000 Imame an, den getöteten Putschisten kein religiöses Begräbnis und keine Gebete zu gewähren, eine große Schmach für die Angehörigen. Selbst im Tod lässt ihnen der türkische Diktator keine Ruhe.

Der Hochschulrat untersagte Dienstreisen des gesamten Lehrpersonals ins Ausland. Lehrpersonal im Ausland ohne zwingenden Aufenthaltsgrund werde aufgefordert, baldmöglichst in die Türkei zurückzukehren, meldete Anadolu. Staatliche und private Universitäten sollten Mitarbeiter aus dem Lehrkörper überprüfen, ob sie Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, und Verdächtige dem Hochschulrat melden. Das gelte auch für ausländisches Lehrpersonal. Aus Regierungskreisen hieß es, es handele sich um eine vorübergehende Maßnahme. Damit solle die Flucht von „mutmaßlichen Komplizen der Umstürzler in Universitäten“ verhindert werden. Anadolu meldete, das Verteidigungsministerium untersuche alle Richter und Staatsanwälte der Militärgerichtsbarkeit auf Verbindungen zur Gülen-Bewegung. 262 dieser Richter und Staatsanwälte seien suspendiert worden.

Ob all diese Menschen, wie von Erdogan behauptet, der Gülen-Sekte zuzurechnen sind, wird allerdings von fast allen Beobachtern in Zweifel gezogen. Sie befürchten wie Pir, dass in einem Rutsch alle Kritiker und Gegner Erdogans ausgebootet werden und der Autokrat die endgültige Kontrolle über den Staat erlangen will.

Gülen ausliefern?

Erdogan macht Gülen für den Umsturzversuch verantwortlich, Gülen weist das zurück. Wegen des Predigers droht jetzt auch ein Streit zwischen der Türkei und den USA. Die Regierung in Ankara verlangt die Auslieferung Gülens, der in Pennsylvania lebt. Sie schickte vier Dossiers über ihn nach Washington. Der Sprecher des amerikanischen Außenministeriums, Mark Toner, bestätigte den Eingang der Dokumente. Man prüfe derzeit noch, ob darin ein offizielles Auslieferungsgesuch enthalten sei, sagte er.

Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaatlichen Vorgehen widersprechen.

Steffen Seibert, deutscher Regierungssprecher

Die Bundesregierung beobachtet das Vorgehen der türkischen Regierung gegen mutmaßliche Sympathisanten der Putschisten mit wachsender Sorge. „Fast täglich kommen neue Maßnahmen hinzu, die einem rechtsstaatlichen Vorgehen widersprechen“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Reaktionen auf den vereitelten Putsch seien unverhältnismäßig. Die Bundesregierung habe ihre Sorge darüber auch gegenüber der türkischen Regierung zum Ausdruck gebracht, betonte Seibert – in einem Gespräch von Kanzlerin Angela Merkel mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am vergangenen Montag „und auch auf anderem Wege“.

WikiLeaks veröffentlicht AKP-Mails

Die Enthüllungsplattform WikiLeaks hat Hunderttausende E-Mails der türkischen Regierungspartei AKP veröffentlicht. Am späten Dienstagabend schaltete die Organisation auf Twitter einen Link, der zu einer Art Suchmaschine auf ihrer Webseite führt. Dort können die E-Mails nach einzelnen Begriffen oder Sätzen durchsucht werden. „WikiLeaks veröffentlicht den ersten Teil der AKP-E-Mails“, war auf der Seite zu lesen. Daher werden offenbar noch weitere Mails folgen.

Die Datenbank bestehe aus 762 Posteingängen und 294.548 E-Mails. Sie seien jeweils von Adressen verschickt worden, die der Homepage der AKP zuzuordnen seien. Der Inhalt solcher Mails beziehe sich aber meist nicht auf Interna der Regierung, sondern auf „Beziehungen mit der Welt“, also vermutlich auf außenpolitische Themen. Die aktuellste Mail sei am 6. Juli verschickt worden, die älteste stamme aus dem Jahr 2010. Das Material sei eine Woche vor dem Putschversuch in der Türkei erlangt worden.

Die Veröffentlichung der Dokumente hatte WikiLeaks bereits am Montag auf Twitter angekündigt. Später teilte die Organisation dann mit, dass es „anhaltende Attacken“ auf ihre Infrastruktur gebe. Kurz vor der Veröffentlichung der Dokumente erklärte sie in einem weiteren Eintrag: „Es scheint, als hätten wir den ganztägigen Cyberkrieg gewonnen. Die AKP-Emails erscheinen in Kürze.“ Kurz nach Freischaltung des Links am späten Dienstagabend war die entsprechende Seite von Wikileaks blockiert.