Der türkische Präsident Recep Erdogan. (Foto: Zuma-Press/imago)
Türkei

Erdogans Kniefall

Fast ein Viertel der Touristen blieb der Türkei fern. Deshalb musste Präsident Recep Erdogan einlenken und sich nun bei der Familie des russischen Piloten entschuldigen, dessen Jet das türkische Militär abgeschossen hatte. Auch mit Israel spielt der türkische Autokrat nun den Versöhner. Der Wermutstropfen: Wegen Kriegsverbrechen in den Kurdengebieten wurde Erdogan nun in Deutschland angezeigt.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist nicht als großer Versöhner bekannt, auch öffentliche Entschuldigungen gehören nicht zu seinem Standard-Repertoire. Er wettert gegen die EU und gegen Deutschland, Konflikte gibt es mit den USA und mit Russland. Stress hat Ankara auch mit Israel und Ägypten – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Erdogans Türkei hat deutlich weniger Freunde als noch vor wenigen Jahren. Umso bemerkenswerter die Entwicklung vom Montag, als die türkischen Nachrichten plötzlich nicht mehr von Spannungen, sondern von Aussöhnung dominiert wurden.

Der von Erdogan installierte Ministerpräsident Binali Yildirim verkündete erst vor wenigen Tagen, außenpolitisches Ziel Ankaras sei es, „die Zahl der Freunde zu mehren, die der Feinde zu verringern“. Dass sich der Mangel an Freunden inzwischen auch wirtschaftlich niederschlägt, zeigt ein Blick auf die leeren Urlaubsstrände. Gleich mit zwei wichtigen Ländern, mit denen sich die Türkei scheinbar hoffnungslos überworfen hatte, soll nun ein neues Kapitel aufgeschlagen werden: Mit Israel und Russland.

Israel, Freund oder Feind?

Mit Israel waren die Beziehungen gut sechs Jahre lang im Keller, nun schlossen beide Seiten ein Abkommen zur Versöhnung. Die am Montag verkündete Vereinbarung beendet sechs Jahre Eiszeit zwischen den ehemaligen Bündnispartnern. Sie sieht die Rückkehr der Botschafter und eine umfassende Normalisierung der Beziehungen vor.

Brutale Attacken der ‚Friedensaktivisten‘ auf das Enterkommando.

Sinnbild der schweren Krise wurde die „Mavi Marmara“, das Schiff liegt heute wie ein Mahnmal im Bosporus auf der asiatischen Seite Istanbuls. Israelische Soldaten enterten das Schiff, das 2010 als Teil der „Solidaritätsflotte“ Israels Seeblockade des Gazastreifens durchbrechen sollte – zehn Türken starben. Allerdings waren die Türken von der Gruppierung IHH geschickt worden, die Verbindungen zu diversen islamistischen Organisationen unterhalten soll. Etwa neunzig Seemeilen vor der Küste seilten sich Spezialeinheiten der israelischen Armee von Helikoptern auf die Schiffsdecks ab. Auf israelischen Videobildern ist zu sehen, wie die Passagiere die israelischen Soldaten brutal mit Eisenstangen, Stühlen, Schlagstöcken und Messern attackieren. Auch wird ein Soldat von einem Deck auf ein darunterliegendes geworfen. Zudem sei laut Israel versucht worden, den Soldaten ihre Waffen zu entreißen, teilweise erfolgreich. Auch Schüsse seien auf die Israelis abgegeben worden, die nur mit „Friedensaktivisten“ gerechnet hatten. Sieben israelische Soldaten wurden verletzt. Die Schüsse der Israelis hätten daher nur der Selbstverteidigung gedient. Dennoch: Nach dem Abkommen sollen die Hinterbliebenen der getöteten Türken nun 20 Millionen Dollar von Israel erhalten.

Auch elf Deutsche nahmen an der Fahrt teil, darunter die Linken-Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger und ihr ehemaliger Parteikollege Norman Paech. Kurz nach Bekanntwerden des Vorfalls versammelten sich vor dem israelischen Generalkonsulat in Istanbul rund hundert wütende Demonstranten, um gegen den israelischen „Angriff“ zu protestieren. Einige hätten versucht, das Gelände zu stürmen, berichteten türkische Fernsehsender. Erdogan warf Israel „Staatsterrorismus“ vor.

Jetzt hat der terroristische Staat Israel mit seinen Gräueltaten in Gaza Hitler übertroffen.

Recep Erdogan, über Israel 2014

Erdogan – damals noch Ministerpräsident – stand schon vor dem Zwischenfall klar auf der Seite der Palästinenser. Legendär ist in der Türkei bis heute Erdogans Auftritt beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahr 2009, als er dem israelischen Präsidenten Schimon Peres das Töten palästinensischer Kinder vorwarf. Nach der Erstürmung der „Mavi Marmara“ eskalierte Erdogans Kritik an Israel, daran änderte auch eine Entschuldigung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drei Jahre später nichts. „Jetzt hat der terroristische Staat Israel mit seinen Gräueltaten in Gaza Hitler übertroffen“, sagte Erdogan während des Gaza-Krieges im Sommer 2014. Israels damaliger Außenminister Avigdor Lieberman nannte Erdogan noch Anfang vergangenen Jahres einen „antisemitischen Rüpel“.

Die Seeblockade Gazas bleibt.

Benjamin Netanhjahu, israelischer Premier

Die Kernforderung Erdogans, der enge Beziehungen zur radikal-islamischen Hamas pflegt, war ein Ende der Blockade des Gazastreifens. Die nun erzielte Vereinbarung erlaubt zwar türkische Hilfslieferungen über den israelischen Hafen von Aschdod, beendet aber Israels Sperrmaßnahmen nicht, die auch von Ägypten mitgetragen werden. Netanjahu machte am Montag deutlich: Die Seeblockade Gazas bleibt. Das Angebot mit Aschdod hatte Israel schon vor dem „Mavi Marmara“-Zwischenfall gemacht.

Die Embargos (…) gegen (…) Gaza (…) wurden aufgehoben.

Binali Yildirim, türkischer Ministerpräsident

Der türkischen Umdeutung tat das keinen Abbruch. „Die Türkei hat die Gaza-Blockade aufheben lassen“, lautete die Schlagzeile der regierungsnahen Zeitung Sabah am Montag. Und Ministerpräsident Yildirim meinte: „Mit diesem Abkommen haben sich die Beziehungen zu Israel normalisiert. Damit wurden (…) unter der Führung der Türkei die Embargos, die insgesamt gegen Palästina, allen voran Gaza, verhängt wurden, größtenteils aufgehoben.“

Russland, Land der Türkei-Touristen

Alles also eine Frage der Interpretation? Das dürfte auch auf den Streit mit Russland zutreffen, bei der Moskau und Ankara nun eine gewiefte diplomatische Lösung fanden. Ende November schoss die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet im Grenzgebiet zu Syrien ab, angeblich weil es türkischen Luftraum verletzte. Der russische Präsident Wladimir Putin tobte – und verhängte schmerzhafte Sanktionen gegen die bis dahin befreundete Türkei, darunter einen weitgehenden Importstopp auf landwirtschaftliche Produkte aus dem Land.

Wir werden uns bei Russland nicht entschuldigen.

Recep Erdogan, 2015

Putin beharrte auf einer Entschuldigung. Erdogan äußerte zwar sein Bedauern, was für seine Verhältnisse schon entgegenkommend war, betonte aber zugleich: „Wir werden uns bei Russland nicht entschuldigen.“ Eine ausweglose Situation, wie es schien. Die Lösung vom Montag: Erdogan schrieb einen Brief an Putin, in dem er sich entschuldigte – aber nicht bei Russland, sondern bei der Familie des getöteten Piloten. Auf der zwischenstaatlichen Ebene blieb Erdogan ausdrücklich bei seinem „Bedauern“.

Ich möchte der Familie des getöteten russischen Piloten noch einmal mein Mitgefühl und mein tiefes Beileid aussprechen und sage Entschuldigung.

Recep Erdogan, 2016, laut russischer Übersetzung

Nun kann Putin sagen, Erdogan habe sich wie gefordert entschuldigt. Erdogan kann sagen, er habe Russland gegenüber nur sein Bedauern ausgedrückt und sich keineswegs bei Putin entschuldigt. Beide Seiten wahren ihr Gesicht. Und beide wirtschaftlich bedrängte Länder können nun wieder Geschäfte miteinander machen. „Ohne Verzögerung“ würden die nötigen Schritte zur Verbesserung der bilateralen Beziehung unternommen, teilte Erdogans Sprecher mit. Das dürfte besonders für die zahlreichen russischen Türkei-Touristen gelten, die zu sehr großen Teilen nach dem Abschuss nicht mehr dorthin reisten. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges Ende des vergangenen Jahres hatte Russland Sanktionen gegen die Türkei verhängt und unter anderem Charterflüge gestrichen. Dabei hatten sich viele Hotels in der Türkei schon auf die Russen spezialisiert. Russische Reisebüros hoffen, dass mit Erdogans Kniefall nun auch die Charterverbindungen in die Türkei wieder aufgenommen werden.

Und Deutschland?

Gilt der neue Versöhnungskurs auch im Konflikt mit Deutschland, der seit der Völkermordresolution eskaliert? Immerhin kündigte Yildirim am Rande bei der Pressekonferenz zur Abmachung mit Israel großzügig an, Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen dürfe die Bundeswehr-Soldaten auf der Luftwaffenbasis Incirlik besuchen. „Die Türkei wird es erlauben.“ Ob das aber ein Zeichen der Entspannung ist, oder ob sich Ankara nur dem Druck des Nato-Partners Deutschland beugt – dazu gab es am Montag keine Antworten.

Der wahre Grund für Erdogans Büßergang

Die Türkei bekommt zunehmend wirtschaftliche Probleme: Zu den Sanktionen Russlands kommen auch noch die ausbleibenden westlichen Touristen – Erdogans Willkürherrschaft und Islamisierung der Gesellschaft schreckt ebenso ab wie mehrere Bombenanschläge. Zum Beginn der Haupt-Urlaubssaison sind die Besucherzahlen in der Türkei weiter eingebrochen. Im Mai seien knapp 22,9 Prozent weniger Ausländer als im Vorjahresmonat eingereist, teilte das Tourismusministerium am Dienstag mit. Es kamen noch knapp 2,5 Millionen Gäste. Auch die Zahl der Deutschen nahm mit einem Minus von 31,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat weiter ab. Sie stellen dennoch nach wie vor die größte Gruppe der Ausländer. Mit einem Rückgang von knapp 91,8 Prozent nahm die Zahl der Russen in der Türkei besonders dramatisch ab. Gerade auf dem wirtschaftlichen Erfolg aber fußt der Erfolg Erdogans und seiner streng islamischen Partei AKP.

Anzeige gegen Erdogan wegen Kriegsverbrechen

Im Namen von mehreren Politikern, Menschenrechtlern, Anwälten und Prominenten haben zwei Hamburger Rechtsanwältinnen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, den ehemaligen Premierminister Ahmet Davutoğlu und zahlreiche weitere Politiker und Militär-, Polizei- und Behördenvertreter angezeigt. Sie werfen ihnen in ihrer Strafanzeige Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Die mehr als 200-seitige Anzeige wurde am Dienstag in Berlin vorgestellt. Es geht vor allem um Einsätze in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, schwerpunktmäßig der Stadt Cizre.

178 Zivilisten mit Benzin bei lebendigem Leibe verbrannt?

So seien während eines Ausnahmezustands im September 2015 21 Zivilisten getötet worden. Ein weiterer Schwerpunkt sei der Tod von mindestens 178 Menschen während einer weiteren Ausgangssperre von Dezember bis März in Cizre. Die mindestens 178 Menschen hätten in drei Kellerräumen Schutz vor den Angriffen des türkischen Militärs gesucht. Trotz Hilferufen seien größtenteils verbrannte Leichen geborgen worden. Aufgrund von Zeugenaussagen und sonstigen Beweisen bestehe der Verdacht, dass Sicherheitskräfte teilweise Benzin in die Keller gegossen und diese dann in Brand gesetzt hätten, beziehungsweise die Menschen zuerst mit schweren Waffen getötet und die Leichen anschließend verbrannt hätten.

Systematische Kriegsverbrechen in der Türkei.

Britta Eder und Petra Dervishaj, Anwältinnen der Anzeigenerstatter

Die Anwältinnen Britta Eder und Petra Dervishaj erklärten, ihre Mandanten fühlten sich ethisch verpflichtet, „die systematischen Kriegsverbrechen in der Türkei hier in der Bundesrepublik zur Anzeige zu bringen“. Das werde durch das Völkerstrafgesetzbuch ermöglicht. Die Anzeige wurde bei der Generalbundesanwaltschaft gestellt. Zu den Erstattern der Anzeige zählen unter anderem auch der Liedermacher Konstantin Wecker und der Schauspieler Rolf Becker. Die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke, die sich ebenfalls dazu zählt, sagte: „Die Gefahr ist weiterhin groß, dass die deutsche Justiz sich wie schon bei einer ähnlichen Strafanzeige gegen Erdogan im Jahr 2011 aus der Verantwortung ziehen will.“ Es wäre aber schon etwas erreicht, wenn Bewusstsein Öffentlichkeit und Bundesregierung so geschärft würde, „dass künftig deutlicher Protest gegen das Vorgehen des NATO-Partners gegenüber den Kurden und der Opposition in der Türkei laut wird“. 2011 wurde ein Verfahren wegen Kriegsverbrechen gegen Erdogan ohne weitere Prüfung von der Generalbundesanwaltschaft eingestellt, da Erdogan als damaliger Premierminister uneingeschränkte politische Immunität genoss.

Menschenrechtsorganisationen hatten die meist wochenlang andauernden Ausgangssperren in mehreren Städten im Südosten der Türkei kritisiert. Kurdische Orte wie Cizre waren nach den Militäroperationen kaum mehr von Städten im von Bürgerkrieg gezeichneten Syrien zu unterscheiden, so verheerend waren die Zerstörungen.

(dpa/avd)