Der Auszug Großbritanniens aus der EU könnte drohen, wenn die Volksabstimmung, die David Cameron versprochen hat, entsprechend ausgeht. (Bild: Ralph Peters/imago)
Brexit-Debatte

Großbritanniens Zerreißprobe

Die Befürworter eines EU-Austritts Großbritanniens betonen in ihrer Argumentation immer wieder Eigenheit und Einheit der Insel. Doch genau um diese könnte es im Fall des Brexits schlecht bestellt sein. Denn in Schottland mehren sich die Stimmen, die bei einem EU-Austritt eine neue Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit fordern. Und auch in Wales könnte sich dann der Wind drehen.

„We are British, we are not European“ – Wir sind Briten, keine Europäer. Es ist nur ein kurzer Satz, den Boris Johnson mitten in seiner Rede auf einer Veranstaltung der „Vote Leave“-Kampagne sagt. Und doch fasst der Ausdruck zusammen, worum es Befürwortern eines EU-Austritts Großbritanniens im Wesentlichen geht. Der früheren Londoner Bürgermeister – und im Falle eines Brexits möglichen nächsten Premierminister – möchte ein „Wir gegen den Rest“-Gefühl vermitteln. Beide Seiten, sowohl die Austrittsgegner als auch die Befürworter, führen eine Art „Gefühlswahlkampf“ gegeneinander.

Die Komplexität des Themas führt zu einem „Gefühlswahlkampf“

Dass sie das tun, ist wenig verwunderlich: Zu komplex ist die Faktenlage rund um einen möglichen Austritt, zu unvorhersehbar sind die Folgen eines Brexits. Klar ist nur: Ende Juni entscheiden die Briten darüber, ob sie Teil der Europäischen Union bleiben wollen. Dabei ist der Stimmenfang auch ein Kampf innerhalb der konservativen Partei. Während Boris Johnson die Austrittsbefürworter anführt, ist sein Parteifreund und Premier David Cameron das Gesicht der Pro-EU-Fraktion.

Bei einem Brexit müsste Cameron zurücktreten

Klar ist: Sollte die Abstimmung am 26. Juni einen Austritt Großbritanniens zum Ergebnis haben, wären die Tage von Premier Cameron im Amt gezählt. Zu eng hat er sein eigenes politisches Schicksal mit dem Ausgang des Votums verbunden. Boris Johnson wäre dann sein wahrscheinlicher Nachfolger in einem Vereinigten Königreich auf dem Weg „raus aus der EU“. Zu vermuten ist, dass Johnson genau deshalb zum Befürworter des Brexits wurde, auch wenn er Ambitionen auf das Amt des Premierministers immer deutlich verneinte.

England sagt „Nein“, die anderen sagen „Ja“

Wie vereint dieses Königreich in dieser Frage ist, ist aber höchst fraglich. Denn der absolut überwiegende Teil der Brexit-Fans lebt in England. In Schottland, Wales und Nordirland zeigen jüngste Umfragen klare Mehrheiten für einen Verbleib des Landes in der Union. In Schottland ergab eine Umfrage der BBC eine Zustimmung von 78 Prozent pro EU, in Wales waren es 70 Prozent. Im kleinen Nordirland sprachen sich sogar fast 90 Prozent der Befragten für die EU aus.

In Schottland, Wales und Nordirland zeichnen sich klare Mehrheiten für einen EU-Verbleib ab.

In England dagegen zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Hier haben die Brexit-Fans eine reelle Chance, sich durchzusetzen. Das ist kein Wunder: Von den vier Kronländern profitiert England am wenigsten von der EU. In Schottland freut man sich über die Unterstützung in der Öl-Industrie, die meisten walisischen Landwirte könnten ohne EU-Subventionen nicht mehr überleben. In England, und hier besonders in London, ärgert man sich dagegen eher über Einmischungen Brüssels in Finanzgeschäfte und sinkende Verkaufszahlen britischer Autobauer zugunsten anderer Anbieter – allen voran der Konkurrenz aus der EU.

Schottland, Wales und Nordirland droht der ungewollte Brexit

Da England mehr Einwohner hat als Schottland, Wales und Nordirland zusammen, droht den drei kleineren Ländern also auch der Brexit, wenn sie selbst mehrheitlich für einen Verbleib stimmen. Dann aber droht Großbritannien eine echte Zerreißprobe. Denn nach dem knapp gescheiterten Unabhängigkeitsvotum der Schotten aus dem Jahr 2014 könnte ein Brexit den Separationsbestrebungen in Glasgow, Edinburgh und Aberdeen neue Nahrung geben. Aus der in Schottland regierenden Scottish National Party (SNP) jedenfalls mehren sich die Stimmen, die im Falle eines EU-Austritts eine erneute Volksbefragung zur Unabhängigkeit der stolzen Nation fordern. Bislang bremst die SNP-Parteiführung derartige Vorstöße zwar – sollte der Brexit aber tatsächlich Realität werden, könnte sich dies ganz schnell ändern.

Ähnlich sieht es auch in Wales aus. Dort fanden erst im Mai Wahlen statt, aus denen die separatistische Partei Plaid Cymru als größter Gewinner hevorging. Zwar rangiert sie in der Wählergunst hinter der Labour Party nach wie vor auf Rang zwei, konnte aber deutliche Zugewinne erzielen und stellt mit Parteichefin Leanne Wood die aktuell beliebteste Politikerin. In Wales stellt die Labour Party eine Minderheitsregierung, die von Plaid Cymru mit gestützt wird – noch. Wood macht aus ihren Wünschen jedenfalls keinen Hehl. Sie wolle, wie die Labour Party auch, dass Wales ein Teil der EU bleibe, sagte sie Anfang der Woche in Cardiff. Das heißt im Umkehrschluss. Ein Brexit könnte angesichts der klaren Vorteile, die das kleine Wales dank seiner EU-Mitgliedschaft genießt, auch hier den Abspaltungsbestrebungen Tür und Tor öffnen.

Womöglich müsste ein künftiger Premier Johnson erst einmal dafür sorgen, dass das Königreich nicht zerfällt.

Die Brexit-Verhandlungen könnten Johnsons kleinstes Problem sein

Boris Johnson und seine Mitstreiter wollen also ein Großbritannien, dass – so formulieren sie es – endlich wieder „Herr seiner eigenen Entscheidungen“ sein soll. Ob das Vereinigte Königreich aber im Falle eines EU-Austritts dann noch so vereinigt ist, wie Johnson das gerne hätte, darf bezweifelt werden. Dann jedenfalls wäre ein möglicher neuer Premier Johnson wohl zunächst nicht mit den Austrittsverhandlungen aus der Europäischen Union beschäftigt – für diese sind 24 Monate angedacht. Stattdessen müsste sich der beliebte Londoner wohl eher darum kümmern, dass ihm sein Land nicht in Kleinteile zerfällt. Was nun die größere „Gefahr“ für Großbritannien ist – der Verbleib in der EU oder innenpolitische Turbulenzen nach einem Austritt – diese Frage müssen die Briten in den nächsten drei Wochen für sich beantworten.