Als „absolut falsch“ hat Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer für Bayern, die CSU und für seine Person den Vorwurf von Bundeskanzlerin Angela Merkel zurückgewiesen, es gebe „fast so etwas wie eine Freude am Scheitern“ des Migranten-Abkommens mit der Türkei. In der Presse war Merkels Vorwurf auf die CSU und deren Parteivorsitzenden Horst Seehofer bezogen worden. In der ARD-Sendung Bericht aus Berlin bestätigte Seehofer, dass er den Merkel-Vorwurf indirekt auf sich beziehe: „Ich habe mich ja oft genug kritisch zu diesem Türkei-Deal geäußert, sage aber trotzdem, dass dies jedenfalls bezüglich Bayern, meiner Partei und meiner Person eine Fehleinschätzung ist“. Die CSU habe keine Freude am Misslingen, betonte Seehofer. Sie teile allerdings die Strategie nicht, so „wie sie mit der Türkei vereinbart wurde“.
Mahnung aus München für Bundeskanzlerin Angela Merkel
Unmittelbar vor der fünften Türkeireise von Bundeskanzlerin Merkel in nur sieben Monaten erneuerte Seehofer seine Kritik an dem vor allem von Merkel angestoßenen und ausgehandelten Abkommen mit der Türkei zur Rückführung von illegal nach Griechenland eingereisten Migranten. Es sei nun „objektiv schwierig, das Abkommen zum Erfolg zu führen, so Seehofer, „weil man Dinge vermengt hat bei diesem Deal, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben.“ Man habe sich nicht nur auf die Frage der Flüchtlinge konzentriert, sondern diese mit dem EU-Beitritt der Türkei und der vollen Visafreiheit für türkische Staatsbürger verbunden. Damit sei man „in eine Abhängigkeit von der türkischen Regierung und vom türkischen Staat geraten“.
Man darf sich nie abhängig machen oder sich erpressen lassen. Das darf unter keinen Umständen geschehen, und da ist für mich eine Grenze, von der ich hoffe, dass die Kanzlerin diese Grenze auch klar sieht.
Ministerpräsident Horst Seehofer
Aus der Türkei kämen „im wöchentlichen Rhythmus betrübliche Nachrichten“ bezüglich Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Religionsfreiheit, erinnerte Seehofer. Zuletzt sei durch Parlamentsbeschluss in Ankara das Grundrecht der Abgeordneten auf Immunität abgeschafft worden. All diese Dinge würden nun von europäischer Seite nur noch mit sehr leiser Kritik bedacht, „weil man den Deal an sich nicht gefährden will“, so Seehofer: „Aber da sage ich, der Zweck heiligt nicht die Mittel.“
Seehofer plädierte dafür, realpolitisch „mit allen Staaten und Mächten auf dieser Erde“ zu reden – „aber man darf sich nie abhängig machen von solchen Systemen oder sich erpressen lassen.“ An Bundeskanzlerin Merkel gerichtet fuhr Seehofer fort: „Das darf unter keinen Umständen geschehen, und da ist für mich eine Grenze, wo ich hoffe, dass die Kanzlerin diese Grenze auch klar sieht. Wir können nicht im wöchentlichen Rhythmus von Herrn Erdogan erfahren, wie wir uns zu verhalten haben.“
Die Flüchtlingszahlen sind drastisch zurückgegangen, nicht wegen einer deutschen Entscheidung, sondern weil andere für uns die Arbeit gemacht haben.
Horst Seehofer
Seehofer wies außerdem darauf hin, dass der aktuelle Rückgang der Migrantenzahlen eben nicht auf das Abkommen mit der Türkei zurückginge, sondern vor allem auf die Schließung der Balkanroute: „Die Flüchtlingszahlen sind drastisch zurückgegangen, nicht wegen einer deutschen Entscheidung, sondern weil andere für uns die Arbeit gemacht haben.“ Wirkungsvoll seien außerdem deutlich beschleunigte Verfahren im Asylbereich und Kontrollen an den deutschen Grenzen – letzteres ebenfalls eine Maßnahme, welche Berlin erst lange kritisiert, nun aber vernünftigerweise doch bei der EU beantragt habe.
Doch noch keine Visafreiheit für die Türkei
Die Mahnungen des Bayerischen Ministerpräsidenten haben ihre Wirkung offenbar nicht verfehlt. Anders als von der Türkei gefordert und im Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei vom 18. März avisiert, werden türkische Bürger nun doch nicht schon bis zum 1. Juli volle Visafreiheit für Reisen in die EU erhalten. Das sagte Bundeskanzlerin Merkel nach ihrem Gespräch mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan in Istanbul. Die EU hatte die Visafreiheit schon vor zweieinhalb Jahren an die Erfüllung von 72 Bedingungen geknüpft. Dazu gehört die Rücknahme oder Reform der repressiven türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung, was Ankara allerdings verweigert. Erdogan, so Merkel in Istanbul, habe ihr gesagt, dass eine solche Gesetzesänderung für ihn im Augenblick nicht zur Debatte stehe.
Dann kann niemand von der Türkei erwarten, dass sie sich an ihre Zusagen hält.
Premierminister Ahmet Davutoglu (am vergangenen Sonntag zurückgetreten)
Tatsächlich betreibt Erdogan derzeit die Verschärfung des Anti-Terrorkrieges gegen die kurdische Terrororganisation PKK – und gegen die gesamte kurdische Minderheit im Lande. Dazu gehört die am vergangenen Freitag vom Parlament in Ankara mit Zweidrittelmehrheit beschlossene automatische Aufhebung der Immunität für Abgeordnete, gegen die staatsanwaltliche Ermittlungen aufgenommen wurden. Die Maßnahme, im Grunde die vollständige Abschaffung des Immunitätsrechts, richtet sich vor allem gegen Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP – und bedeutet faktisch den Ausschluss der kurdischen Abgeordneten und eben ihrer Wähler aus der türkischen Politik. Zwangsläufige Folge: Der Kurdenkonflikt in der Türkei wird sich zuspitzen.
Die Europäische Union braucht die Türkei mehr, als die Türkei die Europäische Union braucht.
Staatspräsident Recep Erdogan
Was das alles für das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei bedeutet, muss sich zeigen. Neben einer Überweisung von sechs Milliarden Euro war die volle Visafreiheit für 78 Millionen Türken Ankaras wichtigster Preis für die Eindämmung der Migrantenflut schon an der türkischen Ägäis-Küste. Ende April hatte Ankara offen gedroht, den Migranten wieder freie Bahn zu lassen, sollte Brüssel keine Visafreiheit gewähren. Denn in dem Fall, so damals der inzwischen zurückgetretene Premierminister Ahmet Davutoglu, „kann niemand von der Türkei erwarten, dass sie sich an ihre Zusagen hält“. Staatspräsident Erdogan ergänzte: „Die Europäische Union braucht die Türkei mehr, als die Türkei die Europäische Union braucht.“
Und schon droht der nächste Konflikt mit Ankara: Im Juni will der Bundestag die unstrittig belegten Massaker an womöglich über einer Millionen Armenier im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 und 1916 per Resolution als Genozid und Völkermord einstufen. Gegen solche historische Sicht wehrt sich Ankara stets mit besonderer Wut. Die Migrantenkrise in der Ägäis, das ist zu befürchten, ist noch lange nicht zuende.