Die Türkei auf dem Weg in die Diktatur. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Abstimmung

Die Türkei auf dem Weg in Richtung Diktatur

Das türkische Parlament hat mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt. Für den Vorstoß der islamisch-konservativen AKP votierten in Ankara 373 der 550 Abgeordneten, berichtete das Parlamentsfernsehen. Damit ist für den Autokraten Erdogan der Weg in die erhoffte Präsidialdiktatur frei.

Der Schritt richtet sich vor allem gegen die Fraktion der pro-kurdischen HDP. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirft den HDP-Abgeordneten vor, der „verlängerte Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Erdogan hatte dazu aufgerufen, ihre Immunität aufzuheben.

Das eigentliche Ziel aber ist: Scheiden die 138 Abgeordneten aus dem Parlament aus, hat die AKP die erhoffte Zweidrittelmehrheit in Greifweite. Damit kann Erdogan die Verfassung nach seinen Wünschen ändern, also in die Präsidialdiktatur verwandeln, die er seit Monaten anstrebt. Damit endet das Zeitalter einer halbwegs funktionierenden Demokratie in der Türkei.

Wir sollten jetzt dazu kommen, die Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei auf eine neue Grundlage zu stellen, die Beitrittsverhandlungen jetzt zu beenden.

Manfred Weber

Die EU-Beitrittsgespräche sollten deshalb sofort abgebrochen werden. Der Fraktionschef der europäischen Konservativen, Manfred Weber (CSU), hat die EU bereits dazu aufgerufen, die Gespräche mit der Türkei über eine Mitgliedschaft zu beenden. „Wir sollten jetzt dazu kommen, die Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei auf eine neue Grundlage zu stellen, die Beitrittsverhandlungen jetzt zu beenden und pragmatisch zusammenzuarbeiten bei Themen, wo wir gemeinsame Aufgaben auf dem Tisch haben“, sagte Weber am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Das Parlament stimmt für die eigene Entmachtung

Die Aufhebung der Immunität der 128 Abgeordneten geschieht über eine befristete Verfassungsänderung. Konkret stimmten die 373 Abgeordneten am Freitag dafür, einen Satz aus Artikel 83 für jene 138 Mitglieder der Nationalversammlung auszusetzen, denen Straftaten vorgeworfen werden. Der Satz besagt: „Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet.“ Exakt 138 Abgeordnete stimmten dagegen. Damit ist der Weg für eine Strafverfolgung frei.

Die HDP befürchtet nun die Festnahme von Abgeordneten ihrer Fraktion, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden. Die „Welt“ hat sich diese Vorwürfe näher angeschaut und kommt zu dem Schluss, dass die meisten davon hastig zusammengeschustert („fabrikmäßig produziert“), viel zu allgemein und haarsträubend fadenscheinig konstruiert wurden. So werde dem Rechtsprofessor Mithat Sancar seine Unterschrift unter den Antrag auf Gründung einer kurdischen Sprachschule vorgehalten. Die Unterrichtsräume seien nach verstorbenen Terroristen benannt, so der Vorwurf nach Angaben der „Welt„, die weiter ausführt: „ein 1982 im Hungerstreik im Gefängnis verstorbenes PKK-Mitglied, ein im Kampf gegen den Islamischen Staat getöteter syrisch-kurdischer Kämpfer und Ahmed Xani – ein kurdischer Dichter aus dem 17. Jahrhundert.“

Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch oder Präsidentenbeleidigung ausgesetzt. Wie Erdogan es geschafft hat, auch die Abgeordneten der anderen Parteien auf seine Seite zu ziehen, obwohl sie sich damit selbst entmachten, ist unklar. Korruption ist in der Türkei aber ein weit verbreitetes Phänomen und auch handfeste Drohungen sind der AKP keineswegs fremd. Hinzu kommen türkische Besonderheiten, weil sich beispielsweise die Atatürk-Partei CHP öffentlich als großer Kämpfer gegen die Korruption profiliert hat und jetzt keinen Rückzieher machen wollte. Gegen den CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu laufen 38 Verfahren, meist wegen Beleidigung des Präsidenten. Rekordhalter mit 71 Verfahren ist allerdings HDP-Parteichef Selahattin Demirtas. Etlichen der Abgeordneten außerhalb der HDP, denen die Immunität entzogen wurde, stehen unter Korruptionsverdacht.

Der Weg in die Präsidialdiktatur ist frei

Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen wird, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur islamisch-konservativen AKP (317 Sitze), 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (133 Sitze), 50 zur pro-kurdischen HDP (59 Sitze) und neun zur ultrarechten MHP (40 Sitze). Außerdem soll der einzigen parteilosen Abgeordneten die Immunität entzogen werden. Die Opposition verliert also bald 111 Abgeordnete, die AKP – um den Schein zu wahren – nur 27. Da die Sitze zunächst nicht nachbesetzt werden, verblieben vorübergehend, sofern die AKP überhaupt ihre 27 Abgeordneten wirklich opfert, noch 412 Abgeordnete im Parlament. Davon wären dann 290 der AKP zugehörig. Bisher lag die Zweidrittelmehrheit bei 367, jetzt bei 275. Die AKP könnte relativ kurzfristig also die Verfassung nach Belieben ändern und Erdogans Machtbefugnisse diktatorisch ausbauen. Oder es läuft so: Sollten die kurdischen Abgeordneten ihre Immunität verlieren, könnten in ihren Wahlkreisen Nachwahlen angesetzt werden. Die AKP würde diese 50 Mandate mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen, da bis dahin vermutlich auch die HDP verboten werden würde.

Die Rechtslage

Ein Abgeordneter, der rechtskräftig zu einer Haftstrafe ab einem Jahr verurteilt wird, verliert sein Mandat und darf nie mehr kandidieren. Wenn 28 oder mehr Abgeordnete ihr Mandat verlieren, muss für sie eine Nachwahl stattfinden.

Das Ziel ist so oder so erreicht, die türkische Demokratie zerstört, so wie es Erdogan immer angestrebt hat. Bereits 1998 zitierte Erdogan bei einer Konferenz ein religiöses Gedicht, das seinen Weg und sein Ziel ziemlich klar offenbarte:

Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.

Für dieses Gedicht wurde er wegen „Missbrauchs der Grundrechte und -Freiheiten“ sowie wegen „Aufstachelung zur Feindschaft auf Grund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden“ eigentlich zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Nach vier Monaten Haft wurde er jedoch wieder aus der Haft entlassen und ging mit der neu gegründeten AKP seinen erhofften Weg.

Lahmer Protest der CHP

Vor der geplanten Abstimmung über den Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten kam es im türkischen Parlament noch zu einem Eklat. Parlamentarier der größten Oppositionspartei CHP verließen während der Debatte am Freitagvormittag unter Protest den Saal, wie der Sender CNN Türk berichtete. Die Abgeordneten skandierten dabei: „Die Türkei ist laizistisch und wird laizistisch bleiben.“ Das war vermutlich ein Irrtum.

Eine Marionette soll neuer Ministerpräsident werden

Nach dem Rückzug des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu vor ein paar Tagen wurde der bisherige Verkehrsminister Binali Yildirim zum neuen Chef der islamisch-konservativen AKP und der Regierung auserkoren. Der AKP-Vorstand nominierte den 60 Jahre alten Gefolgsmann des Staatspräsidenten Erdogan als einzigen Kandidaten für den bevorstehenden Sonderparteitag in Ankara. Dort soll Yildirim am Sonntag als Parteichef bestätigt werden. Anschließend wird er auch das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Yildirim, der überall nur als Erdogans „Marionette“ gilt, kündigte auch gleich an, seine Regierung werde in „vollkommener Harmonie“ mit der AKP und besonders mit Erdogan zusammenarbeiten, „unserem Anführer“. Die Kurden dürfen sich auf steigenden Staatsterror gefasst machen: Yildirim versprach einen entschlossenen Kampf gegen den „Terrorismus“. „Die Nation soll beruhigt sein“, sagte er. „Wir werden die Geißel des Terrors von der Tagesordnung der Türkei entfernen.“

Erdogan-Anhänger hatten Davutoglu mangelnde Loyalität vorgeworfen. Sie hatten ihn außerdem beschuldigt, die von Erdogan angestrebte Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei nicht engagiert genug voranzutreiben. Nach einem Treffen mit Erdogan hatte Davutoglu am Donnerstag vor zwei Wochen seinen Rückzug angekündigt. Davutoglu war Erdogan im August 2014 an der Spitze der AKP und der Regierung nachgefolgt. Erdogan war damals vom Volk zum Staatspräsidenten gewählt worden.

Der Türkei-Deal wird unterlaufen

Wie die „Welt“ berichtet, gehen die Rückführungen von Flüchtlingen in die Türkei schleppender voran als erwartet. Die Asylrichter erlaubten den Flüchtlingen oft, in Griechenland zu bleiben. Vor allem aus einem Grund, der sich künftig noch verstärken dürfte: Die Türkei ist kein sicheres Drittland und die zugesicherten Asyl-Schnellverfahren müssen darum eingehender geprüft werden. Der EU-Türkei-Flüchtlingspakt sieht vor, dass grundsätzlich alle Flüchtlinge zurück in die Türkei geschickt werden können. Auf Lesbos wurden laut „Welt“ bislang 174 Asylanträge in erster Instanz geprüft. 100 Syrer bekamen die Erlaubnis, in Griechenland zu bleiben. Sie seien bereits zum Festland gereist, berichtete die griechische Zeitung „Kathimerini„. Allein auf Lesbos warten mehr als 4000 Migranten auf die Beschlüsse der Asylrichter.