Erdogans Kampf gegen Andersdenkende
Etappensieg für den türkischen Präsidenten, Niederlage für die Demokratie: Das türkische Parlament hat für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt - zumindest vorerst. Ganz scheint der Plan Erdogans allerdings nicht aufzugehen: Trotz der Aktion hat seine Partei keine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Allmacht des Präsidenten noch weiter auszubauen.
Türkei

Erdogans Kampf gegen Andersdenkende

Etappensieg für den türkischen Präsidenten, Niederlage für die Demokratie: Das türkische Parlament hat für die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten gestimmt - zumindest vorerst. Ganz scheint der Plan Erdogans allerdings nicht aufzugehen: Trotz der Aktion hat seine Partei keine Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Allmacht des Präsidenten noch weiter auszubauen.

Die islamisch-konservative AKP des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan hat mit der Mehrheit ihrer Stimmen die Immunität zahlreicher Parlamentsabgeordneter aufgehoben, dabei aber die erhoffte Zweidrittelmehrheit verpasst. Allerdings ist das Wahlergebnis noch nicht endgültig. Die entscheidende Abstimmung folgt am Freitag. Stimmen dann zwei Drittel – also 367 Abgeordnete – für die Änderung, wird die Immunität von 138 Abgeordneten einmalig aufgehoben. Wird diese Marke nicht erreicht, ist bei mindestens 330 Stimmen noch der Umweg über ein Referendum möglich.

Hauptziel: Die prokurdische HDP

Der von der AKP eingebrachte Antrag richtet sich vor allem gegen Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben. Er wirft ihnen vor, der „verlängerte Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein.

Mit einer vorübergehenden Verfassungsänderung will die AKP nun einmalig die Immunität von 138 Abgeordneten aufheben, gegen die entsprechende Anträge vorliegen. Zwar waren von der Aufhebung der Immunität alle vier im Parlament vertretenen Parteien betroffen, also CHP, MHP, HDP und AKP. Besonders schwer aber traf die Maßnahme die HDP: 50 ihrer 59 Abgeordneten soll vor allem wegen Terrorvorwürfen die Immunität entzogen werden. Damit wäre der Weg für eine Strafverfolgung frei.

Viele Anschuldigungen gegen die HDP gehen auf Reden von Abgeordneten zurück, bei denen sie etwa für kurdische Autonomie eintraten. Sollte ihre Immunität aufgehoben werden, könnten sie gemäß den umstrittenen Anti-Terror-Gesetzen der Türkei angeklagt werden.

Einführung des Präsidialsystems?

Dabei verfolgt Erdogans AKP – neben der offenkundigen Einschüchterung prokurdischer Kräfte in der Türkei – eigentlich ein anderes Hauptziel: Durch die Aufhebung der Immunität vieler Abgeordneter könnte die AKP künftig über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament verfügen, weil frei werdende Parlamentssitze in der Türkei nicht nachbesetzt werden. Damit wäre der Weg für die von Erdogan geplante Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem – und damit die Alleinherrschaft für Erdogan selbst – frei.

Im vergangenen Jahr war die Verfassungsnovelle noch am Widerstand der HDP, anderer Parteien und nicht zuletzt auch einigen AKP-Mitgliedern gescheitert. Da ist es wenig überraschend, dass sich mehrere AKP-Politiker, die damals gegen den Machtausbau des Präsidenten stemmten, jetzt auf der Liste der betroffenen Abgeordneten befinden.

Die wahrscheinliche Aufhebung der Immunität ist ein weiteres Kapitel im höchst umstrittenen Vorgehen Recep Tayip Erdogans gegen politische Gegner. In den vergangenen Monaten hatte der Autokrat schon mit zweifelhaften Aktionen, etwa mit tausenden Strafanträgen gegen oppositionelle Medien im In- und Ausland, für Aufsehen gesorgt. Für jene, die den Deal der EU mit der Türkei in der Flüchtlingskrise ohnehin kritisieren, sind derartige Entwicklungen Wasser auf die Mühlen.

Türkei lehnt EU-Forderungen weiter ab

Unterdessen lehnt die Türkei die von der Europäischen Union geforderte Änderung der Anti-Terror-Gesetze weiter kategorisch ab. Ein solcher Schritt wäre eine Ermutigung für terroristische Organisationen, sagte der Sprecher von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Pressekonferenz. Die Türkei werde aber alles ihr Mögliche tun, um die Vereinbarung mit der EU zu erfüllen. In dieser Frage gebe es keine Änderung in der türkischen Politik. Die EU hat der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsabkommens eine Abschaffung der Visumspflicht zugesagt, dafür aber einige Vorbedingungen gestellt. So verlangt sie Einschränkungen des Terrorismusbegriffs, weil sie befürchtet, dass auch Regierungskritiker in der Türkei darunter fallen könnten – wie dies auch aktuell immer wieder tatsächlich geschieht.

(dos/dpa)