Beim Brexit geht es für die EU um die Wurst
Die Europäische Union in der Multikrise: Migranten, Brexit, Euroskepsis vieler Bürger. Dazu kommt die Schuldenkrise im Euroraum, die noch lange nicht ausgestanden ist. Die EU brauche grundlegende Reformen, rät in München ein europäisch besetzter Kongress der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.
Bayern und Europa

Beim Brexit geht es für die EU um die Wurst

Die Europäische Union in der Multikrise: Migranten, Brexit, Euroskepsis vieler Bürger. Dazu kommt die Schuldenkrise im Euroraum, die noch lange nicht ausgestanden ist. Die EU brauche grundlegende Reformen, rät in München ein europäisch besetzter Kongress der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.

Wer wissen will, wie die Europäische Union funktioniert und wie alle Mitgliedsländer vom Binnenmarkt und vom freien EU-Handel profitieren, der braucht nur die bayerischen Zahlen: Im vergangenen Jahr gingen 55 Prozent aller bayerischen Exporte in die EU; sieben der zehn größten Exportmärkte des Freistaats sind EU-Staaten; 60 Prozent der bayerischen Importe kommen aus der EU. Aber nicht nur von Bayerns Importen, sondern auch von den Exporten profitieren die EU-Nachbarn, erläuterte jetzt  in München Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), auf einem spannenden Europa-Kongress seines Hauses: „Allein die Vorleistungsimporte der deutschen Industrie sorgen in anderen EU-Staaten für rund 3,5 Millionen Arbeitsplätze.“ Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner bestätigte das umgehend: „Wir in Bayern sind große Profiteure des Binnenmarkts und des europäischen Freihandels.“ Und das sei eben zugleich ein „Gewinn für Europa“.

Bayerns Industrie stärkt Europa. Zugleich braucht Bayern als Industriestandort und Exportland ein Europa, das erfolgreich, kräftig und handlungsfähig ist.

Bertram Brossardt, vbw-Hauptgeschäftsführer

„Starkes Bayern – starkes Europa: Die Lage der EU – wirtschaftliche und politische Entwicklungsperspektiven“, lautete das große Thema zu dem die vbw Vertreter ihrer europäischen Schwesterverbände eingeladen hat. Der Termin muss lange im voraus mit fast seherischer Gabe gewählt worden sein: Der Tag des EU-Sondergipfels in Bratislava, dem ersten ohne die Briten, knapp drei Monate nach dem britischen Brexit-Votum zum Ausstieg aus der EU. Und die Wirtschaftspraktiker in München sprechen so ziemlich über die gleichen Themen wie wohl die 27 Regierungschefs in Bratislava: Migrantenkrise, Schengen, Brexit, TTIP, Wachstumsschwäche, Nullzinspolitik.

Migrantenkrise ist Problem Nummer eins

Die Migrantenkrise ist die Nummer Eins auf Aigners Vier-Punkte-Liste. Es sei „nicht in Ordnung“, dass in der Wertegemeinschaft Europa Deutschland in der Migrantenkrise „die Hauptlast“ trage. Europa müsse nun prioritär seine Außengrenzen schützen und dürfe „unkontrollierte Zuwanderung“ nicht zulassen. Für Deutschland sei eine Obergrenze für Asylbewerber und Migranten unerlässlich. Interessanter Hinweis der bayerischen Ministerin: Der Freistaat hat zehn Mal so viel Asylbewerber untergebracht wie Nordrhein-Westfalen.

Migrantenquoten: Jahrelang bekämpfen, aber jetzt kann es nicht schnell genug gehen – das ist unser Umgang mit Europa.

Manfred Weber

Im Straßburger Europaparlament sei die europäische Solidarität in der Migrantenkrise überhaupt nicht fraglich, betont EVP-Fraktionschef Manfred Weber: Eine Mehrheit der Abgeordneten will die europaweite Verteilung der Migranten nach Quoten. Das Problem sei der Rat der Staats- und Regierungschefs – „die zweite Kammer Europas“, so Weber. Der langjährige CSU-Europapolitiker erinnert zugleich daran, dass auch deutsche Politiker, die jetzt europäische Umverteilungsquoten forderten, vor Jahren Migrantenquoten massiv abgelehnt hätten: „Jahrelang bekämpfen, aber jetzt kann es nicht schnell genug gehen – das ist unser Umgang mit Europa.“

„Brexit beißt Brexit: Ihr wollt raus!“

Nach dem britischen Brexit-Schock gehe es nun für die Europäer darum, kühlen Kopf zu bewahren, warnt vbw-Hauptgeschäftsführer Brossardt: Die Phase der Brexit-Ungewissheit müsse so kurz wie möglich bleiben und am Schluss dürfe es keine neuen Handelshürden in Europa geben. Das Brexit-Votum werde große Auswirkungen haben – „für uns und für Großbritannien“ – sieht auch Ministerin Aigner. Mit Großbritannien verlasse einer der entscheidenden wirtschaftlichen Player und ein großer Handelspartner die EU. „Das ist nicht in unserem Interesse. Hilft aber nichts, wir müssen das jetzt stemmen.“ Vielleicht winkt in der Brexit-Krise dem Freistaat immerhin ein kleiner Trost: Aigner will für Firmen und Investoren, die über Großbritannien nachdachten oder sich dort schon niedergelassen haben, „Wegweiser nach Bayern aufstellen – einen der schönsten Wirtschaftsstandorte im Herzen Europas“.

Wie könnte künftig der Umgang der Europäer mit den Briten aussehen? Die Umrisse eines „Brexit light“ stellt Guntram B. Wolff, Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituts Bruegel in Brüssel vor: Für Europa bliebe es bei der engen wirtschaftlichen Integration mit den Briten – bei Einschränkungen, was den britischen Arbeitsmarkt angehe. Dafür hätte London dann weniger Einfluss in Brüssel und verlöre Kommissar und Stimmrecht. Im Rat soll es noch mitreden dürfen: Ein Konsultationsrecht müsse man einem so großen Land zugestehen. Wolff: „Wir sollten jetzt als Europäer die Briten nicht in einen harten Brexit treiben.“

Die Brexit-Verhandlungen werden sehr brutal zu führen sein.

Manfred Weber

„Brexit heißt Brexit: Ihr wollt raus“, meinte deutlich weniger nachsichtig EVP-Fraktionschef Manfred Weber. Die vier EU-Grundfreiheiten – freier Personenverkehr, freier Warenverkehr, freier Kapitalverkehr, freier Dienstleistungsverkehr – will er sich nicht abhandeln lassen. Was bleibt von Europa, wenn man die Freizügigkeit herausnimmt? Soll Europa nur ein Binnenmarkt ein sein? Für Tschechen, Litauer, Polen und andere sei der freie Personenverkehr und der Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten existentiell, so Weber. Warum sollten diese den übrigen Europäern erlauben, in ihren Ländern etwa Grund und Boden zu erwerben, wenn nicht im Gegenzug ihre Bürger sich im übrigen Europa niederlassen dürften? Alles oder nichts. Weber: „Darum haben wir die vier Grundfreiheiten formuliert – es geht jetzt um die Wurst.“ Für Weber ist die Zeit der „Rosinenpickerei“ vorbei: „Die Brexit-Verhandlungen werden sehr brutal zu führen sein.“ Weber spricht von „roten Linien“, die Europa ziehen müsse.

Was wir in Großbritannien jetzt erleben, steht anderen Ländern vielleicht noch bevor.

Bertram Brossardt

Die Briten hatten nach der großen EU-Osterweiterung 2004 – und 2007: Bulgarien und Rumänien – den Neumitgliedern sofort die volle Freizügigkeit eingeräumt, erinnerte Brossardt. Deutschland hatte sich jahrelangen Aufschub ausbedungen. Ergebnis: Die Briten seien mit Arbeitsmigranten aus den Beitrittsländern zugelaufen. Brossardt: „Was wir in Großbritannien jetzt erleben, steht anderen Ländern vielleicht noch bevor.“

Es muss möglich sein, zu Ländern außerhalb der EU eine Beziehung zu haben – ohne Personenfreizügigkeit.

Guntram B. Wolff, Institut Bruegel

Die Personenfreizügigkeit sei Kern des europäischen Projektes, gab auch Wirtschaftswissenschaftler Wolff zu: „Aber es muss möglich sein, zu Ländern außerhalb der EU eine Beziehung zu haben – ohne Personenfreizügigkeit.“ Hier sei die EU übrigens unehrlich gegenüber der Türkei, mit der die vier EU-Grundfreiheiten – auch hier vor allem die Freizügigkeit – unmöglich umsetzbar seien. Bei alledem gehe es sehr sichtbar um die grundlegende Frage der Organisation Europas: Derzeit gebe es Brüssel-offiziell nur ein einheitliches EU-Regelwerk sozusagen von der syrischen Grenze – wenn die Türkei Mitglied würde – bis zum Norden Großbritanniens. Wolff: „Das wird nicht funktionieren, wir brauchen verschiedene Geschwindigkeiten.“

Bei der Suche nach der Antwort auf die Herausforderung des Brexit müsse man zudem die weitverbreitete Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der EU im Auge behalten, so der Experte aus Brüssel: „Vermindern wir diese Unzufriedenheit durch einen schlechten Deal für die Briten?“

Schweiz mit Problemen

Ein ähnliches Problem wie mit den Briten stellt sich für die EU auch in der Schweiz. Im Februar 2014 stimmte dort die Wahlbevölkerung mit 56,6 Prozent für die „eidgenössische Volksinitiative gegen Masseneinwanderung“ – vor allem aus der EU. Die Bundesregierung in Bern muss das Votum bis Jahresende umsetzen und sich mit Brüssel auf eine Begrenzung der Personenfreizügigkeit einigen. Als Folge des Referendums hat Bern etwa die Freizügigkeit für das EU-Neumitglied Kroatien noch nicht umgesetzt. Wenn das bis Jahresende nicht geschehe, werde die Schweiz aus Kooperationen mit der EU herausfallen, warnte Weber.

In der Schweiz beträgt die Ausländerquote 25 Prozent, in Bayern dagegen nur zehn bis elf Prozent.

In der Schweiz betrage die Ausländerquote 25 Prozent, in Bayern dagegen nur zehn bis elf Prozent, entgegnete ihm Monika Rühl, die Vorsitzende der Geschäftsleitung von Economiesuisse, ein Dachverband der Schweizer Wirtschaft mit etwa 100.000 Unternehmen und  zwei Millionen Beschäftigten. Bis Dezember wird das Schweizer Parlament eine Lösung verabschieden, die dann den Kompromiss mit Brüssel möglich machen soll. Rühl: „Die Personenfreizügigkeit ist für viele Länder ein Problem, wir hoffen, dass die EU jetzt nicht auf stur stellt.“ Brüssel müsse lernen, auf die Bürger zu hören, riet die Schweizerin. Genau das sei auch die Lektion des Brexit-Votums: „Großbritannien will austreten, und die EU macht weiter, als ob nichts geschehen sei. Das kann doch nicht sein!“ Aus Schweizer Sicht ist so der Brexit für die EU eine große Chance, jetzt die Weichen für die Zukunft neu und richtig zu stellen.

Großbritannien will austreten, und die EU macht weiter, als ob nichts geschehen sei. Das kann doch nicht sein!

Monika Rühl. Economiesuisse

Interessanter Schweizer Aspekt: Die Schweiz, die per bilateraler Abkommen dem europäischen Binnenmarkt angehört, ist eines der Länder, das die EU-Regeln am besten umsetzt. Wäre die Schweiz ein Euro-Land, dann wäre es eines der wenigen Euro-Länder, das die Maastricht-Kriterien einhält. Was den Schweizer Gast zu der Überlegung führt: „Die Glaubwürdigkeit der EU ist nicht sehr groß, wenn sie sich Regeln gibt, die sie selber nicht einhält.“

CETA und TTIP

Derzeit braucht die EU vor allem Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze – vor allem in Südeuropa. Das für die EU existentielle Anliegen führt denn auch Webers europäische Prioritätenliste an und lenkt seinen Blick auf den Streit über die Freihandelsabkommen Ceta und TTIP mit Kanada und den USA: „Wer im Süden Europas Arbeitsplätze für die junge Generation schaffen will, der muss Freihandel wollen. Eine andere Methode für Wirtschaftswachstum gibt es nicht“, so Weber. Europa und die USA bestritten zusammen über die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes der Welt, ergänzte Josef Negri, Direktor des Unternehmensverbandes Südtirol. Der Südtiroler sieht von Ceta und TTIP vor allem kleine und mittelständische Unternehmen profitieren: „Wachstum wird es künftig vor allem außerhalb Europas geben.“

Wer im Süden Europas Arbeitsplätze für die junge Generation schaffen will, der muss Freihandel wollen. Eine andere Methode für Wirtschaftswachstum gibt es nicht.

Manfred Weber

Weber setzt sich in Brüssel und Straßburg im Interesse Europas für TTIP ein, „aber ich weiß nicht, ob es klappt“. Der Test sei jetzt das perfekt ausgehandelte Ceta-Abkommen mit Kanada, die „Mega-Blaupause für die Zukunft“. Weber: „Wenn Ceta nicht klappt, dann können wir zumachen. Dann ist mit der EU kein Handelsabkommen mehr möglich.“

War es dann klug, die Abstimmung über Ceta an die nationalen Parlamente zu übertragen? „Gute Frage“, meinte Weber, aber die Mitgliedsländer wollten mehr Mitentscheidung. Die war ihnen schlecht zu verwehren. Es sei auch im Rat kein einziger Regierungschef aufgetreten mit der Forderung, die Ceta-Entscheidung Europa zu überlassen. Was vernünftig gewesen wäre. Denn im Europaparlament gibt es längst eine solide Mehrheit für Ceta. Die EVP steht geschlossen hinter dem Abkommen, die Sozialisten zur Hälfte. Weber: „Wir haben eine Mehrheit! Jetzt soll (Sigmar) Gabriel  beweisen, dass er auch eine hat.“ TTIP jedenfalls hat der deutsche Wirtschaftsminister bekanntlich schon aufgegeben. Wozu vbw-Hauptgeschäftsführer Brossardt nur den Kopf schüttelte: „Dann kann er eigentlich nicht mehr deutscher Wirtschaftsminister sein.“

Sorgen über Nullzinspolitik

„Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand für ihre Mitglieder” − so beschrieb Brossardt „die wichtigsten Aufgaben” der EU. Migrantenkrise, Brexit oder der Streit um TTIP können denn auch nicht vergessen machen, dass weiterhin die Schuldenkrise im Euroraum eben diese „wichtigsten Aufgaben der EU” bedroht. Die Währungsunion sei nicht vollständig stabilisiert, warnte Victor Campdelacreu, der Präsident des Verbandes der kleinen und mittelständischen Unternehmen Kataloniens PIMEC. Dazu kommen wirtschaftliche Ungleichgewichte innerhalb der EU, zwischen Norden und Süden. Etwa bei der Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland auf der einen und Frankreich und Italien auf der anderen Seite: Der Unterschied beträgt inzwischen 20 Prozent. Eine Folge: Vollbeschäftigung in Deutschland, 25 Prozent Arbeitslosigkeit in Italien.

Wenn Sparen zum Witz wird, hat das psychologische Folgen – und wirtschaftliche.

Ilse Aigner

Ist die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die richtige Antwort auf solche fundamentalen Spannungen, die sich in der EU aufgestaut haben? Offenbar nicht, denn während Deutschland ein Ende der Nullzinspolitik fordert, wollen die Italiener immer mehr davon und verlangen, mit der Politik des billigen Geldes endlich richtig anzufangen. Doch das könne auf Dauer nicht die Lösung ein, warnte Wirtschaftsministerin Aigner. „Wenn Sparen zum Witz wird, hat das psychologische Folgen – und wirtschaftliche“: Die Altersvorsorge sei gefährdet, in den Unternehmen greife Ungewissheit um sich.

Paris muss sich darauf vorbereiten, seine Schulden viel teurer zu bezahlen.

Le Figaro

Tatsächlich führt die Nullzinspolitik nicht zum gewünschten Ziel: Wachstum, Schuldenabbau, Reformen. Im Gegenteil, mittelfristig – oder auch schon eher – könnte sie dazu führen, dass die Krise sich verschärft, warnte kürzlich Bundesbank-Chef Jens Weidmann in der französischen Tageszeitung Le Monde: „Die niedrigen Zinsraten gefährden die Haushaltsdisziplin.“ Die billigen Zinsen führen eben nicht zu Reformen, sondern verführen die Regierungen zum Schuldenmachen – etwa in Frankreich. Was nicht für alle Zeiten gut gehen kann, wie jetzt die Pariser Tageszeitung Le Figaro titelt: „Paris muss sich darauf vorbereiten, seine Schulden viel teurer zu bezahlen.“ Denn die Phase der Negativzinsen, die viele für unnatürlich hielten, könne nicht ewig währen. Problem: Frankreichs Staatsverschuldung ist schon auf 100 Prozent der Wirtschaftskraft gestiegen. Wenn Paris dafür eines Tages wieder richtige Zinsen zahlen muss, wird es hart. Wer weiß, vielleicht ist hier schon ein Thema für den nächsten vbw-Europa-Kongress im September 2017.