Nicht noch eine Million
Der Migrantenstrom über die Ägäis reißt nicht ab: Über 70.000 kamen in den ersten drei Dezemberwochen nach Deutschland. Manfred Weber hält darum ein temporäres Ausscheiden Griechenlands aus dem Schengen-Raum für möglich. Innenminister Joachim Herrmann sagt, wir können nicht wieder eine Million aufnehmen. EU-Kommissar Günther Oettinger hält deutsche Asylleistungen für magnetisch anziehend.
Migrantenkrise

Nicht noch eine Million

Der Migrantenstrom über die Ägäis reißt nicht ab: Über 70.000 kamen in den ersten drei Dezemberwochen nach Deutschland. Manfred Weber hält darum ein temporäres Ausscheiden Griechenlands aus dem Schengen-Raum für möglich. Innenminister Joachim Herrmann sagt, wir können nicht wieder eine Million aufnehmen. EU-Kommissar Günther Oettinger hält deutsche Asylleistungen für magnetisch anziehend.

Die Migrantenkrise macht keine Weihnachtspause. Auch über die Feiertage hielt – und hält – der Migrantenstrom über die Ägäis nach Griechenland, über die Balkanroute nach Österreich und Deutschland an. Weiterhin kommen jeden Tag Tausende Migranten in Deutschland an, die meisten zunächst in Bayern.

Von Heiligabend bis Sonntag, den 27. Dezember, erreichten 12.740 Migranten Deutschland.

Am Dienstag, den 29. Dezember, registrierte die Bundespolizei 3714 ankommende Migranten, am Montag 3910. An Heiligabend wurde mit 2395 eine vergleichsweise geringe Zahl von Asylbewerbern gezählt, am zweiten Weihnachtstag waren es 3610. Insgesamt erreichten von Heiligabend bis Sonntag, den 27. Dezember, 12.740 Migranten Deutschland.

73.500 Migranten-Einreisen nach Deutschland in den ersten drei Dezember-Wochen.

Für Dezember variierten die Zahlen zwischen 2000 und 5000 Einreisen pro Tag. Damit hat sich die Zahl der nach Bayern und Deutschland eingereisten Migranten im Vergleich zum Vormonat immerhin gut halbiert – was vor allem etwas über dramatische November-Zahlen aussagt: Bis Sonntag, den 20. Dezember, zählte die Bundespolizei 73.500 Migranten-Einreisen – gegenüber etwa 170.000 in den ersten drei November-Wochen. Den Zahlen der Bundespolizei zufolge kamen bis Ende November über das ganze Jahr etwa 965.000 Migranten ins Land. Bis zum Jahreswechsel ist damit die Marke von einer Million weit überschritten.

Migrantenandrang aus der Türkei nach Griechenland ungebrochen

Erleichterung ist nicht in Sicht. Eher das Gegenteil. Das zeigt der Blick auf den südlichen Start der Balkanroute in der Ägäis. Der Migrantenandrang aus der Türkei nach Griechenland ist ungebrochen. Auf den griechischen Ägäis-Inseln und in Piräus sind derzeit die Ankunftszahlen eher größer als am Zielpunkt der allermeisten Migranten – Deutschland.

Von Montag, den 21., bis Montag, den 28. Dezember, kamen fast 18.000 Migranten in Griechenlands größtem Hafen an, die sich jetzt vermutlich irgendwo auf der Balkanroute befinden, auf dem Weg nach Deutschland.

Auf zwei Fähren erreichten an diesem Mittwoch etwa 3000 Migranten Piräus. Am Dienstag kamen 2500. Am Montag, den 28. Dezember, landeten 1550 Migranten in Piräus an, am Wochenende zuvor insgesamt etwa 6000. Am ersten Weihnachtsfeiertag waren es 1700 am zweiten Weihnachtsfeiertag etwa 4000. Am Mittwoch vor Weihnachten waren es gut 2700 Migranten, am Dienstag 2000 und am Montag 4000, die zumeist aus Syrien, Irak, Afghanistan und Pakistan stammten. Von Montag, den 21., bis Montag, den 28. Dezember, kamen so insgesamt fast 18.000 Migranten in Griechenlands größtem Hafen an, die sich jetzt vermutlich irgendwo auf der Balkanroute befinden, auf dem Weg nach Deutschland: In Slowenien wurden über das Weihnachtswochenende fast 11.000 Migranten registriert. Pressemeldungen zufolge warteten am 28. Dezember 7000 weitere Migranten auf der Ägäis-Insel Lesbos noch auf ihre Überfahrt zum Festland.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR erreichten in diesem Jahr bis 27. Dezember 840.839 aus der Türkei kommende Migranten auf dem Seeweg Griechenland. Mehr als 490.000 von ihnen kamen allein über die Insel Lesbos.

150.000 Migranten nahmen den Seeweg nach Italien

Weiterhin durchaus aktiv ist neben der Ägäis-Balkanroute auch die Mittelmeer-Route von Libyen über Lampedusa und Sizilien zum italienischen Festland. Nach Angaben der italienischen Küstenwache wurden in der Weihnachtswoche in den Gewässern zwischen Libyen und Sizilien rund 2300 Migranten aufgenommen. Am ersten Weihnachtsfeiertag nahm die italienische Küstenwache 752 Bootsmigranten an Bord. 371 von ihnen wurden in Reggio Calabria an Land gebracht: 312 Männer, 59 Frauen, keine Kinder, berichtet die Presseagentur dpa: „Einige litten an Krätze. Der größte Teil stammte aus Zentralafrika.“ Interessant: Der Migrantenstrom aus Afrika über Lampedusa/Sizilien hat sich im vergangenen Jahr nicht sehr stark verändert: Insgesamt kamen 2015 etwa 150.000 Migranten auf dem Seeweg nach Italien. 2014 waren es mit 170.000 nicht sehr viel mehr.

Griechenland und Türkei in die Pflicht nehmen

Vor allem Griechenlands Ägäis-Grenze ist und bleibt sperrangelweit offen. Auch rund 300 EU-Grenzbeamte, die der Küstenwache in Piräus zufolge mit 15 Boten in die Ägäis entsandt wurden, werden daran nicht viel ändern. „Einen Auftrag, die Migranten zu stoppen haben diese Beamte allerdings nicht“, zitiert die Presseagentur dpa einen Küstenwachen-Offizier: Die Migranten kämen weiter ungehindert in Griechenland an, damit werde das Problem des Flüchtlingsstroms nicht gelöst.

Wenn die Kontrolle der Außengrenze durch Frontex nicht gelingen sollte, müssen wir über ein temporäres Ausscheiden Griechenlands aus dem Schengen-Raum nachdenken.

EVP-Fraktionschef Manfred Weber

Mit Blick auf die griechische Situation fordert jetzt EVP-Fraktionschef Manfred Weber, ein „temporäres Ausscheiden“ Griechenlands aus dem Schengen-Raum in Betracht zu ziehen. „Griechenland sichert seine Grenzen nicht nach den heutigen Schengen-Standards und versagt damit auch in der Umsetzung von Europarecht“, so Weber im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wenn Mitgliedstaaten nicht in der Lage seien, ihre Pflichten zum Schutz der Außengrenzen zu erfüllen, müsste Europa durch den EU-Grenzschutz Frontex für bestimmte Grenzabschnitte das Kommando übernehmen können. Der Gesetzesvorschlag dazu liege seit zwei Wochen auf dem Tisch, so Weber: „Wenn die Kontrolle der Außengrenze durch Frontex aber nicht gelingen sollte, müssen wir über ein temporäres Ausscheiden aus dem Schengen-Raum nachdenken.“ Denn es gehe eben nicht nur um Griechenland und griechische Souveränität, erinnert der CSU-Politiker: „An der griechisch-türkischen Grenze wird auch die Grenze Deutschlands gesichert, das spüren wir hierzulande jeden Tag.“

Bislang ist an der griechisch-türkischen Grenze zwar eine Verringerung, aber keine durchschlagende Trendwende bei den Flüchtlingszahlen zu erkennen.

Manfred Weber

Noch immer seien die Zahlen der ankommenden Migranten – in Deutschland und in Griechenland – zu hoch, sagt Weber und nimmt vor allem die Türkei in die Pflicht: „Die EU hat der Türkei ein klares Angebot gemacht, Ankara muss nun seinen Teil der Vereinbarung erfüllen und die Zahlen reduzieren.“ Weber weiter: „Bislang ist an der griechisch-türkischen Grenze zwar eine Verringerung, aber keine durchschlagende Trendwende bei den Flüchtlingszahlen zu erkennen.“

2016 muss die Zahl der Migranten sinken

In Bayern fordert auch Innenminister Joachim Herrmann , dass der Zustrom der Flüchtlinge im neuen Jahr deutlich sinken müsse: „Es kommen noch immer bis zu 4000 Flüchtlinge pro Tag über die bayerische Grenze.“ Dabei könne es nicht bleiben: „Wir müssen erreichen, dass der Zustrom auf durchschnittlich 1000 Flüchtlinge pro Tag reduziert wird.“ Herrmann weiter: „Gut 350.000 Flüchtlinge können wir 2016 aufnehmen und integrieren. Aber nicht erneut deutlich mehr als eine Million.“

Wir müssen erreichen, dass der Zustrom auf durchschnittlich 1000 Flüchtlinge pro Tag reduziert wird.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann

Genauso sieht das auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier. Täglich 3000 Flüchtlinge seien zwar „viel besser als vorher 10.000 oder 15.000“: „Ich glaube aber, dass die 3000 Menschen täglich immer noch eine zu hohe Zahl sind.“ Problem: Der derzeitige Rückgang ist vor allem auf schlechteres Winterwetter mit höherem Seegang in der Ägäis zurückzuführen. Wird das Wetter wieder besser, werden die Migrantenzahlen wieder steigen, fürchten Beobachter und rechnen schon jetzt für das Jahr 2016 wieder mit über einer Million Migranten. Europa müsse dringend seine Außengrenzen sichern, vor allem in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei, betont darum Bouffier.

Europaweite Migranten-Umverteilung funktioniert nicht

Der hessische Ministerpräsident dringt außerdem darauf, Asylbewerber über Registrierungszentren europaweit zu verteilen. Bouffier: „Ob der Plan gelingt, kann man nicht genau wissen.“ Bouffiers Skepsis ist berechtigt: Von geplanten 66.400 Migranten-Umsiedlungen aus Griechenland hätten bislang erst 82 stattgefunden, heißt es in der griechischen Presse. Anderes Beispiel: Spanien hat sich verpflichtet, von 160.000 Migranten, die EU-weit umverteilt werden sollten, 15.000 aufzunehmen. In Spanien angekommen sind bis zum 28. Dezember genau zwölf Migranten.

Die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland und Österreich wurde nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt. Die anderen Länder sagen: Wir wurden nicht gefragt. Also wollen wir auch nicht im Nachhinein genötigt werden, dies zu unterstützen.

EU-Kommissar Günther Oettinger

So hält denn auch Deutschlands EU-Kommissar Günther Oettinger die Vorstellung der Bundesregierung, künftig über Kontingente noch größere Zahlen von Migranten über die EU zu verteilen, nicht für realistisch. „Einer Verteilerquote in der EU, die in einer höheren Dimension läge als der vorliegende Beschluss über die Verteilung von 160.000, gebe ich keine Chance“, so der EU-Kommissar im Gespräch mit der in Düsseldorf erscheinenden Rheinischen Post. Oettinger hat sogar ein gewisses Maß an Verständnis für Länder, die sich der Zwangsumverteilung von Migranten entziehen wollen: „Die Aufnahme von Flüchtlingen durch Deutschland und Österreich wurde nicht mit den anderen EU-Staaten abgestimmt. Die anderen Länder sagen: Wir wurden nicht gefragt. Also wollen wir auch nicht im Nachhinein genötigt werden, dies zu unterstützen.“ Oettinger hält es dennoch für richtig, Kontingente festzulegen, „die kontrolliert nach Europa kommen“. Diese Kontingente müssen natürlich erheblich geringer sein als die Zahl der Flüchtlinge, die 2015 nach Europa gekommen sind.“

Deutschlands Asylrecht als Magnet

Zur Verminderung der Migrantenzahlen rät Oettinger den Deutschen vor allem, ihr Asylrecht gründlich zu überdenken: „Wir müssen uns fragen, warum in diesem enormen Ausmaß Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen. Das hat zuallererst mit unserem ausgeprägten Asylverfahrensrecht und Asylleistungsrecht zu tun.“ Der EU-Kommissar plädiert für eine „Harmonisierung des Asylrechts aller EU-Staaten entlang unserer europäischen Werte“, die „die Magnetfunktion Deutschlands verringern“ würde. Oettinger schließt sogar eine Änderung des Grundgesetzes nicht aus: „Die Debatte über eine Änderung des Asyl-Grundrechts in Deutschland darf kein Tabu sein.“

Deutschland gewährt etwa die freie Anwaltswahl. Das sollten wir für Asylsuchende künftig ausschließen. Auch sollte Deutschland die vielen gerichtlichen Instanzen, Berufungen und Revisionen beschleunigen oder verringern. Ein Vergleich der Asylbewerber-Leistungen zeigt, dass die materiellen Leistungen bei uns höher sind als in vielen anderen EU-Ländern.

Günther Oettinger

Der deutsche EU-Kommissar hält „für denkbar“, dass die EU-Kommission einen Vorschlag zur Harmonisierung des Asylrechts vorlegt, etwa auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und eines gemeinsam zu beschließenden europäischen Standards. Darüber hinaus sollten Asylsuchenden dann keine nationalen Ergänzungen oder Leistungen mehr angeboten werden. Oettinger: „Deutschland gewährt etwa die freie Anwaltswahl. Das sollten wir für Asylsuchende künftig ausschließen. Auch sollte Deutschland die vielen gerichtlichen Instanzen, Berufungen und Revisionen beschleunigen oder verringern. Ein Vergleich der Asylbewerber-Leistungen auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten zeigt, dass die materiellen Leistungen bei uns höher sind als in vielen anderen EU-Ländern. Angezeigt wäre ein Schlüssel, dass in der EU entlang der Lebenshaltungskosten nur noch ein einziger Standard für Asylbewerberleistungen gilt.“