Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer vertritt in der Flüchtlingsfrage Ansichten, die seinen Parteifreunden wenig gefallen. (Bild: Imago/Eibner)
Asylpolitik

Vernunft verboten?

"Wir schaffen das nicht", sagt Boris Palmer. Und auch: "Wir können nicht allen helfen". Mit solchen Aussagen zur Flüchtlingskrise ist der Oberbürgermeister von Tübingen in der Kommunalpolitik nicht alleine. In seiner eigenen Partei aber stellen sich nur wenige hinter ihn. Der Grund: Boris Palmer ist Mitglied der Grünen. Seine Parteifreunde hören seine Aussagen überhaupt nicht gern.

„Wir schaffen das nicht“, stellte Boris Palmer unlängst fest. In einem Facebook-Post nahm der Oberbürgermeister der baden-württembergischen Stadt Tübingen Stellung zur aktuellen Flüchtlingskrise und der enormen Belastung der Kommunen und Gemeinden in der ganzen Republik.

„Der soziale Frieden ist gefährdet“

Sein Fazit fiel nicht sonderlich gut aus: Über eine Million Flüchtlinge in einem Jahr könne man ja noch reden, führte Palmer aus. Das werfe auch jetzt schon nahezu jede Planung um und produziere Notlösungen von Tag zu Tag. Aber: „Über 10.000 Flüchtlinge pro Tag kann man nicht mehr reden“, kritisierte Palmer. Wenn das anhielte, kämen in den nächsten zwölf Monaten 3,65 Millionen Menschen nach Deutschland. Die Politik müsse jetzt handeln, sonst implodiere das Aufnahmesystem und der soziale Frieden im Land.

Solche Aussagen von Kommunalpolitikern sind im Grunde nichts überraschendes. Gerade in Grenzregionen – allen voran den bayerischen Landkreisen an der Grenze zu Österreich – sind Kritik an dem mangelnden Handlungswillen und den Worten der Kanzlerin mittlerweile normal.

Wenn ein Politiker wie Boris Palmer solche Aussagen tätigt, ist es dann aber doch eine Besonderheit. Denn der 43-Jährige gehört einer Partei an, die sonst so gar nicht für Kritik an „Refugees Welcome“-Statements bekannt ist. Boris Palmer ist Mitglied der Grünen.

„Man muss die Probleme benennen dürfen“

Mit seinen Aussagen stellt sich Palmer offen gegen die Politik seiner eigenen Partei – und benennt dafür gute Gründe. Er wünsche sich eine „ehrliche Debatte in der Flüchtlingskrise“, teilte der OB mit. „Man muss die wirklichen Probleme benennen dürfen, ohne dass man in eine Reihe mit rechten Idioten gestellt wird.“

Hoffnungen zu wecken und dann nicht erfüllen zu können, wäre ein menschliches und gesellschaftliches Drama.

Boris Palmer

Die Bedingungen in den Aufnahmestellen würden schon jetzt immer schlechter, stellte Palmer fest: und kommt zu dem Schluss: An einer Begrenzung der Aufnahme neuer Flüchtlinge komme man in Deutschland einfach nicht vorbei. Das sei auch im Interesse jener Flüchtlinge, die schon jetzt auf dem Weg nach Deutschland seien: „Viele kommen nicht mehr aus Angst um ihr Leben, sondern auf der Suche nach einem neuen Leben. Hoffnungen zu wecken und dann nicht erfüllen zu können, wäre ein menschliches und gesellschaftliches Drama.“

Kritik aus den eigenen Reihen

Kein Wunder, dass die Aussagen Palmers bei den grünen Parteifreunden auf wenig Unterstützung stoßen. Doch auf innerparteilichen Widerspruch reagiert Palmer mit der Beschreibung der Situation in den Kommunen – beispielsweise in „seinem“ Tübingen. Dort sei die Kreissporthalle bereits belegt, sagte er Ende September im Interview mit der taz. Weitere Hallen müssten umgebaut und für die Flüchtlinge genutzt werden, damit man in den kalten Wintermonaten nicht auf Zelte zurückgreifen müsse. Die Gesellschaft sei schon sehr bald an ihrer Schmerzgrenze angekommen, sagte der OB, der seit 2007 die Geschicke Tübingens leitet.

„Grüne vor Realitätstest“

„Wir Grünen stehen vor einem Realitätstest“, prophezeite Palmer seinen Parteifreunden. Er selbst gilt als einer der führenden Realos bei den Grünen, und genau so argumentiert Palmer auch, wenn es darum geht, die Flüchtlingspolitik im Sinne der Bevölkerung zu gestalten. „Ich bin mir sicher, dass die Menschen uns fragen werden, welche Lösungen wir für die Integration dieser Menschen anzubieten haben“, sagte er der taz. Wenn die Grünen darauf antworteten, man schaffe die Voraussetzungen dafür, dass „noch mehr kommen“, dann werde die Bevölkerung den Grünen das nicht abnehmen. „Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz haben als wir Grüne.“