Asyl-Albtraum
Seit Anfang September haben bis zu 280.000 Migranten Deutschland erreicht – über eine Viertelmillion und viel mehr als im gesamten Jahr 2014, nur in einem Monat. Fast 170.000 waren es allein in Bayern. Die Staatsregierung erwägt Notmaßnahmen. Alle Beobachter halten Bundeskanzlerin Merkels Entscheidung, syrische Migranten unbegrenzt einreisen zu lassen, für den Auslöser der chaotischen Entwicklung.
Migrantenkrise

Asyl-Albtraum

Seit Anfang September haben bis zu 280.000 Migranten Deutschland erreicht – über eine Viertelmillion und viel mehr als im gesamten Jahr 2014, nur in einem Monat. Fast 170.000 waren es allein in Bayern. Die Staatsregierung erwägt Notmaßnahmen. Alle Beobachter halten Bundeskanzlerin Merkels Entscheidung, syrische Migranten unbegrenzt einreisen zu lassen, für den Auslöser der chaotischen Entwicklung.

Albtraumhafte Zahlen: Etwa 230.000 Migranten sind allein zwischen dem 5. Und dem 27. September in Deutschland angekommen. Das berichtete zunächst die Bild-Zeitung unter Berufung auf „Sicherheitskreise“. Von bis zu 280.000 Ankömmlingen spricht in München jetzt Innenminister Joachim Herrmann – über eine Viertelmillion, viel mehr als im gesamten Jahr 2014, nur in einem Monat. Inzwischen hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière solche Zahlen bestätigt: „Wir hatten in den letzten vier Tagen 8000, 9000, 10.000 jeden Tag.“ Derzeit erreichen also im Schnitt täglich 10.000 Asylbewerber Deutschland.

Die Tendenz der Migranten-Zahlen bleibt steigend: Am Montag wurden in Bayern etwa 10.000 Neuankömmlinge gezählt. Für den gestrigen Dienstag wurden allein im Raum Passau 10.000 weitere Migranten erwartet, hieß es wieder aus „Sicherheitskreisen“. Die Entwicklung der Flüchtlingszahlen sei sehr dynamisch, verlautete aus dem Bundesinnenministerium in Berlin.

Anarchie an den Grenzen: Sonderzüge aus Österreich, keine Kontrollen

Die Einführung von Grenzkontrollen am 13. September hat nicht geholfen: Seither kamen 150.000 Migranten in Deutschland an. Kein Wunder: Die Migranten werden mit Sonderzügen von Österreich nach Deutschland gebracht. Weil sich auf der österreichischen Seite derzeit massive Rückstaus bilden, soll die Zahl der eingesetzten Sonderzüge bis zum kommenden Wochenende von täglich acht auf 20 erhöht werden.

In Deutschland bestimmen nicht mehr die Sicherheitsbehörden, wer über die Grenze kommen darf, sondern kriminelle Schlepperbanden.

Hans-Peter Uhl

Kontrolliert werden die Züge und ihre Passagiere schon lange nicht mehr. In Nürnberg schätzte jetzt der neue Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Frank-Jürgen Weise, die Zahl der noch gar nicht registrierten Migranten auf 290.000. Von „Anarchie an den Grenzen“, sprach schon Mitte September der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl. „In Deutschland bestimmen nicht mehr die Sicherheitsbehörden, wer über die Grenze kommen darf, sondern kriminelle Schlepperbanden“, warnte Uhl jetzt im Gespräch mit der Bild-Zeitung. Uhl: „Das ist die Kapitulation des Rechtsstaats.“

Seehofer: Notmaßnahmen in Bayern möglich

Am stärksten betroffen ist Bayern. Im Freistaat wurden seit Beginn des Monats September fast 170.000 Migranten gezählt. Das teilte jetzt in München Ministerpräsident Horst Seehofer mit: „Das sind Größenordnungen, die wir früher in einem ganzen Jahr nicht hatten – und ein klarer Beleg dafür, dass die Angelegenheit aus den Fugen geraten ist.“ In der bevorstehenden Winterzeit werde Deutschland „eine weitere Dramatik“ erleben, warnte Seehofer.

Der Ministerpräsident kündigte an, notfalls für Bayern im Alleingang „Notmaßnahmen“ zu ergreifen. Seehofer ging nicht darauf ein, wie die aussehen könnten. Aus der Umgebung des Ministerpräsidenten hieß es dazu, es könnten etwa Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen werden, für die nach geltendem EU-Recht ein anderes Mitgliedsland zuständig wäre. Das beträfe praktisch alle Migranten und könnte unter Umständen einem vollständigen Aufnahme-Stopp gleichkommen. Denn alle Migranten, die Bayern erreichen, reisen zwangsläufig über ein sicheres Drittland ein und hätten von einem EU-Erstaufnahmeland registriert werden müssen. Erwogen wird in München offenbar auch, Migranten einfach in andere Bundesländer weiterzuschicken.

Das sind Größenordnungen, die wir früher in einem ganzen Jahr nicht hatten – und ein klarer Beleg dafür, dass die Angelegenheit aus den Fugen geraten ist.

Horst Seehofer

Schon zuvor hatte die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe Gerda Hasselfeldt angeregt, an den Landesgrenzen sogenannte Transitzonen einzurichten, ähnlich wie auf Flughäfen. Dort sollen Asylbewerber, deren Anträge keine Aussicht auf Bewilligung haben, schnell abgewiesen werden. In München bezeichnete Seehofer dies als „ein mögliches Instrument”. Ein solches Verfahren sei durch EU-Recht gedeckt, betonte jetzt auch Bundesinnenminister de Maizière und kündigte an, demnächst ein Gesetz über die Einrichtung solcher „Transitzonen“ vorzulegen.

Bundeskanzlerin Merkels Rolle

Praktisch alle Berichterstatter im Lande gehen inzwischen davon aus, dass sich die chaotische Entwicklung dramatisch beschleunigt hat, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel am 5. September entschied, syrische Migranten unbegrenzt und unkontrolliert einreisen zu lassen. Der Effekt wurde eine Woche später verstärkt durch Merkels unbedachte Interview-Äußerung: „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze.“

Merkel hat es zweifellos gut gemeint, als sie jeden Syrer einlud, in Deutschland Asyl zu beantragen. Aber jetzt werden die Menschenschleuser auf sie anstoßen, denn nun wird es noch mehr Familien geben, die sie ausplündern und in Budapest gestrandet zurücklassen oder an der libyschen Küste in Boote packen können.

The Daily Telegraph

Merkel habe es zweifellos gut gemeint, als sie jeden Syrer einlud, in Deutschland Asyl zu beantragen, wunderte sich schon Anfang September die Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph: „Aber jetzt werden die Menschenschleuser auf sie anstoßen, denn nun wird es noch mehr Familien geben, die sie ausplündern und in Budapest gestrandet zurücklassen oder an der libyschen Küste in Boote packen können.“ Genau so ist es gekommen. Das Geschäft der Schlepper und Schleuser blüht wie nie zuvor.

Bundespräsident Joachim Gauck: „Unsere Möglichkeiten sind endlich.”

Inzwischen hat immerhin Bundespräsident Joachim Gauck auf die schlichte Selbstverständlichkeit hingewiesen, dass Deutschlands „Aufnahmekapazität begrenzt“ sei: „Unsere Möglichkeiten sind endlich.“ In München forderte jetzt Bayerns Ministerpräsident Seehofer von Bundeskanzlerin Merkel und der Bundesregierung ein „vergleichbares Signal“. Seehofer: „Es ist die drängende Pflicht eines Politikers, auf die begrenzten Aufnahmemöglichkeiten hinzuweisen. Der Ministerpräsident weiter: „Bei aller Hilfspolitik sind wir Politiker nicht befreit von der Frage, auch über die Folgen unseres Tuns nachzudenken.“

Bei aller Hilfspolitik sind wir Politiker nicht befreit von der Frage, auch über die Folgen unseres Tuns nachzudenken.

Horst Seehofer

Doch das erhoffte Signal aus dem Bundeskanzleramt bleibt aus. Bundeskanzlerin Merkel schweigt. Bei der Auszeichnung der diesjährigen Jugend-forscht-Preisträger im Kanzleramt sprach sie am Mittwoch lediglich von der Aufgabe, Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Zur Flüchtlingskrise fiel folgender Satz: „Das wird unsere Politik gravierend ändern und wieder neue Schwerpunkte setzen. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen.“ In der Tat.