Migrantenwelle schwappt von Budapest nach München
Ungarn lässt Tausende Migranten unkontrolliert nach Österreich und Deutschland weiterreisen. EVP-Fraktionschef Manfred Weber fordert einen EU-Grenzschutz. Innenminister Joachim Herrmann hält im nächsten Jahr 1,5 Millionen Migranten für möglich. Quotenverweigerer treffen sich zum Sonder-Gipfel. Immer mehr Migranten aus Afghanistan.
Asylpolitik

Migrantenwelle schwappt von Budapest nach München

Ungarn lässt Tausende Migranten unkontrolliert nach Österreich und Deutschland weiterreisen. EVP-Fraktionschef Manfred Weber fordert einen EU-Grenzschutz. Innenminister Joachim Herrmann hält im nächsten Jahr 1,5 Millionen Migranten für möglich. Quotenverweigerer treffen sich zum Sonder-Gipfel. Immer mehr Migranten aus Afghanistan.

„Wir brauchen einen EU-Grenzschutz, langfristig“, fordert Manfred Weber, Vorsitzende CSU Niederbayern und der EVP-Fraktion im Straßburger Europaparlament im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Es gebe Staaten, denen gelänge es einfach nicht, die EU-Außengrenzen zu sichern. Weber: „Dort muss die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Möglichkeit bekommen, an der Grenze das Kommando zu übernehmen, falls Mitgliedstaaten versagen.“  Denn an der griechischen und an der italienischen Grenze würden nicht nur nationale Grenzen gesichert, sondern europäische, erinnert der CSU-Europapolitiker. Da müsse Europa auch die Möglichkeit haben, seine Regeln durchzusetzen.

Eine Außengrenze ist wie eine Wohnungstür. Da entscheiden Sie ja auch, wen sie reinlassen und wen nicht.

Manfred Weber

Europa müsse Verfolgten Aufnahme anbieten, betont Weber gegenüber dem Münchner Blatt, pocht zugleich aber auf solide Kontrolle der EU-Außengrenzen und aller ankommenden Migranten. „Eine Außengrenze ist wie eine Wohnungstür. Da entscheiden Sie ja auch, wen sie reinlassen und wen nicht.“ Aus dem Grunde begrüßt Weber auch den Gedanken der Einrichtung von „EU-Aufnahmezentren in Griechenland und Italien oder in Afrika“.

Nachwuchsmangel in Deutschland mit jungen Italienern und Spaniern lösen

Um den Migrationsdruck zu verringern rät Weber dazu, den Asylmissbrauch klarer zu bekämpfen. Der CSU-Politiker empfiehlt außerdem, den Druck auf afrikanische Länder zu verstärken und die Zahlung von Entwicklungshilfegeldern davon abhängig zu machen, dass die Empfängerländer „ihre Staatsbürger, die hier abgelehnt wurden, auch wieder zurücknehmen“. Weber: „Wir müssen Geldzusagen mit dem Abschluss von Rückführungsabkommen verbinden.“

Wir können Nachwuchsmangel in Deutschland sehr gut mit jungen Italienern oder Spaniern lösen.

Manfred Weber

Zum Stichwort „Zuwanderung in den Arbeitsmarkt“, weist Weber darauf hin, dass derzeit mehr als jeder fünfte Jugendliche in Europa ohne Arbeit sei: „Wir können Nachwuchsmangel in Deutschland sehr gut mit jungen Italienern oder Spaniern lösen.“

Migranten-Chaos in Budapest

Unterdessen wächst in Budapest das Migranten-Chaos. Auf dem Budapester Ostbahnhof hat die ungarische Polizei nach zunehmendem Migranten-Andrang am Montag in der Frühe plötzlich darauf verzichtet, Reisepapiere zu prüfen. Es kam zum Sturm auf mehrere Züge nach Österreich und Deutschland. An der österreichischen Grenze wurden dann offenbar einige Züge aufgehalten. Weil die österreichische Seite Reisende ohne gültige Papiere nicht weiterreisen lassen wollte, holten ungarische Grenzer Hunderte Migranten aus den Zügen.

Auch Österreich lässt Tausende Migranten aus Ungarn unregistriert nach Deutschland weiterziehen.

Wie es dann weiterging wird aus widersprüchlichen Presseberichten nicht ganz klar: Manche Migranten überquerten die ungarisch-österreichische Grenze zu Fuß, andere konnten doch per Bahn nach Wien und Salzburg weiterreisen. Eindeutig ist nur das Ergebnis: Auch Österreich lässt Tausende Migranten aus Ungarn unregistriert nach Deutschland weiterziehen. Nur drei Migranten hätten in Salzburg Asylantrag gestellt, berichtet die Neue Zürcher Zeitung. Alle andern Migranten wollen nach Deutschland.

Alle Migranten wollen nach Deutschland

Wo sie auch ankommen. In der Nacht zum Montag wurden allein in München fast 2000 aus Ungarn eingereiste Asylbewerber gezählt. Weitere 1000 wurden noch erwartet. In Rosenheim kamen am Montag in zwei Zügen insgesamt 3600 Personen an. Rund 2000 Personen fuhren allein am Dienstagmorgen vom Bahnhof Salzburg aus nach Bayern, berichtet die NZZ. Sprecher der Bundespolizei sprachen von weiteren 1300 Personen auf der Durchreise in Österreich und von 5000 Migranten, die in Budapest auf die Weiterreise warteten. „Die Dynamik nimmt zu“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Polizeisprecher. In Rosenheim hat die Bundespolizei zeitweilig die Kontrolle der Züge aus Österreich eingestellt. Dafür gebe es keine Kapazitäten mehr, so ein Behördensprecher.

Der Druck wird anhalten: Immer mehr Migranten aus Afghanistan

Allen Berichten zufolge kommen viele Migranten aus Syrien, sehr viele aber auch aus Afghanistan, Irak, Somalia und Nigeria. In München sprach am Dienstag ein Sprecher der Bundespolizei von Hunderten weiterer Asylbewerber aus afrikanischen Ländern, die erwartet würden. Ein Korrespondent der New Yorker Tageszeitung The Wall Street Journal berichtet von der Ägäis-Insel Lesbos von einem „plötzlichen Anstieg“ von Migranten aus Afghanistan. Das komme daher, dass all diejenigen Afghanen, die etwa im iranischen Exil darauf gehofft und gewartet hätten, dass in Afghanistan Frieden einkehren würde, „jetzt begreifen, dass sich die Lage dort wahrscheinlich nicht sobald bessern wird“, erklärt ihm einer der Afghanen. Auch interessant: Allen Berichten zufolge sprechen die allermeisten Migranten allenfalls gebrochen Englisch.

Allein auf der Ägäis-Insel Lesbos warten seit Tagen über 15.000 Migranten auf den Fähren-Transfer nach Athen.

Immerhin haben die Ungarn am Dienstagvormittag den noch immer von Tausenden Flüchtlingen bedrängten Budapester Ostbahnhof wieder geschlossen. Aber der Migranten-Druck wird anhalten und sich erhöhen. Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex zufolge sind allein  in der vergangenen Woche über 23.000 Bootsmigranten in Griechenland eingetroffen. Allein auf der Ägäis-Insel Lesbos warten seit Tagen über 15.000 Migranten auf den Fähren-Transfer nach Athen. Bis Mittwoch früh sollen 4500 Lesbos-Migranten Piräus erreichen. 9400 Migranten sollen in der vergangenen Woche die serbisch-ungarische Grenze erreicht haben. Vor Libyen wurden im Rahmen der Frontex-Operation Triton 5400 Bootsmigranten aufgegriffen und natürlich nach Italien gebracht.

Innenminister Herrmann warnt vor Überforderung und Gefahr für Europas Sicherheit

In München warnte unterdessen Bayerns Innenminister Joachim Herrmann vor einer Überforderung Deutschlands. „Wir bekommen das im Jahr 2015 in einer großen Kraftanstrengung hin, aber wir können nicht sagen, dass das beliebig so weiter geht“, betonte Herrmann in einem Interview mit dem Fernsehsender Phönix. Herrmann: „Wenn wir keine Änderung herbeiführen, sind es im nächsten Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge oder mehr.“ Hermann weiter: „Wir müssen sehr aufpassen, dass wir uns in Deutschland nicht übernehmen.“ Der Innenminister pocht darauf, jetzt endlich die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen: „Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, muss in sein Heimatland zurückkehren.“

Wenn wir keine Änderung herbeiführen, sind es im nächsten Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge oder mehr.

Joachim Herrmann

Ganz Europa müsse nun für die Bewältigung der Flüchtlingsströme in die Pflicht genommen werden, fordert Herrmann. Aber bislang hätten andere Länder und Brüssel nur  weggeschaut. Der Innenminister warnt vor gefährlichen Folgen für die Sicherheit der Europäer, wenn EU-Staaten Migranten weder registrieren noch kontrollieren: „Sicherheitsmäßig ist das eine Katastrophe, was da im Moment geschieht.“ Herrmanns Vorwurf zielt zugleich auf Griechenland, Ungarn, Österreich und Italien.

Budapest gibt Berlin die Schuld an dem Chaos

Die EU-Kommission hat inzwischen Budapest ermahnt, alle ankommenden Migranten gemäß des Dubliner Abkommens mit Fingerabdrücken zu registrieren. Gemäß der Dublin-Verordnung wäre dann Ungarn aber auch zuständig für das weitere Asylverfahren der registrierten Migranten. „Ungarn muss seinen Verpflichtungen nachkommen“, fordert in München auch das Bayerische Innenministerium. Die ungarische Regierung gibt jedoch die Schuld an der plötzlich so chaotischen Lage  Berlin.

Es war eine Entscheidung aus Berlin gewesen, die bei den Flüchtlingen aus Syrien falsche Erwartungen geweckt hatte.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Tatsächlich hatte die Bundesregierung kürzlich angekündigt, für Syrienflüchtlinge die Dublin-Verordnung sozusagen auszusetzen und Syrer eben nicht mehr in die EU-Erstaufnahmeländer zurückzuschicken. Diese Berliner Entscheidung habe bei den syrischen Migranten falsche Erwartungen geweckt, bestätigt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Syrer hätten geglaubt, dass Deutschland damit auch allen die Einreise erlaubt habe. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel räumte später ein, die Berliner Dublin-Ausnahme für Syrer habe offenbar zu einer „gewissen Verwirrung“ geführt.

Berlin und Wien pochen auf gerechte Verteilung der Migranten in Europa − und drohen mit Sanktionen

Am Montag forderte Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, EU-Mitgliedsländer, die sich weigerten, ihren Anteil an Migranten aufzunehmen, zu bestrafen und ihnen EU-Subventionen zu kürzen. Man könne sich in einer  Gemeinschaft nicht nur die Rosen herauspicken, sondern müsse auch Verantwortung übernehmen, so die Ministerin. In Berlin antwortete Bundeskanzlerin Merkel auf die Frage, ob etwa Großbritannien für seinen Mangel an Solidarität bestraft werden sollte: „Ich möchte jetzt nicht alle Folterinstrumente aufzeigen – wir wollen kameradschaftlich zu einer Lösung kommen.“ Wenn es nicht gelänge, die Flüchtlinge gerecht zu verteilen, dann würde natürlich für viele die Schengen-Frage auf die Agenda kommen, so Merkel weiter.

Ich möchte jetzt nicht alle Folterinstrumente aufzeigen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel

Doch mit der von Bundeskanzlerin Merkel verlangten „gerechten Verteilung“ der Migranten könnte es schwierig werden. Am 14. September werden sich die 28 EU-Innen- und Justizminister zur Sondersitzung treffen. Zuvor, schon am kommenden Freitag, treffen sich die Regierungschefs der vier osteuropäischen Migrantenquoten-Verweigerer Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn in Prag zum kleinen Sondergipfel, um ihre gemeinsame Haltung abzustimmen. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico kündigte schon an, dem Druck der westlichen Staaten auf keinen Fall nachgeben zu wollen: Verpflichtende Flüchtlingsquoten innerhalb der EU würden „nur die organisierte Kriminalität“ fördern, so Fico. Die vier osteuropäischen Länder sind mit ihrem Widerstand nicht allein: Auch London, Madrid und die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen lehnen Migranten-Quoten strikt ab.