Konstituierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestages: Mit 709 drängen sich so viele Abgeordnete wie noch nie im Plenum. (Foto: Picture alliance)
Wahlrecht

„Eine Reform gegen die Union wäre ein Affront“

Interview Seit mehreren Legislaturperioden streitet der Bundestag um die Reform des Wahlrechts, das eine komplizierte Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht ist. Der BAYERNKURIER befragte den Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Frieser.

Herr Frieser, als Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sitzen Sie mit am Verhandlungstisch, wenn es um die Reform des Bundestagswahlrechts geht. Welches Modell bevorzugt die Union?

Das Wahlrecht bietet nur eine geringe Zahl an Stellschrauben, die durch die letzten Urteile des Bundesverfassungsgerichts zudem weiter verengt wurden. Dennoch hat die Union fünf verschiedene Reformvorschläge unterbreitet, die die Möglichkeiten ausloten, ohne die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren und dennoch den Ausgleichsbedarf und somit die Vergrößerung des Bundestages einzudämmen. Diese Modelle stießen jedoch auf keine Zustimmung der übrigen Parteien. Dabei wurde klar ersichtlich: Die Ablehnung liegt nicht in der fehlenden Begrenzungswirkung begründet, sondern ausschließlich darin, dass wir das Direktmandat nicht antasten. Die Diskussion ist letztlich ein Kampf um das Direktmandat, um die Bedeutung der Wahlkreise.

Die Union hat zuletzt den Vorschlag unterbreitet, den Spielraum der Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu nutzen und entsprechend eine gewisse Anzahl an Überhangmandaten im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen zu akzeptieren und gleichzeitig das System so umzustellen, dass eine Obergrenze von etwa 650 Sitzen nicht überschritten wird.

Die CSU hatte vorgeschlagen, den Ausgleichsmechanismus zu reformieren. Alle anderen Optionen, die nicht den Ausgleich angehen, beseitigen daher nicht die Ursachen des Problems.

Michael Frieser, Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

2017 wuchs der Bundestag von regulär 598 auf 709 Abgeordnete an. Gründe sind die hohe Zahl an Überhangs- und Ausgleichsmandaten wegen der starken Zersplitterung des Parteiensystems. Deshalb befürchten manche Beobachter, der nächste Bundestag könnte aus 800 und mehr Abgeordneten bestehen. Was dagegen tun?

Hier ist zuerst einmal klarzustellen, dass die Linie Überhangmandat führt zu Ausgleichsmandat in dieser Konsequenz schlicht falsch ist. Bedauerlicherweise hält sich diese Mär in der Berichterstattung. Der vorhandene Ausgleichsmechanismus greift grundsätzlich. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wären bei der Bundestagswahl 2017 keinerlei Überhangmandate entstanden und die Mandatszuteilung wäre nach dem Zweitstimmenergebnis erfolgt, hätte es dennoch mehr als 20 Ausgleichsmandate gegeben. Ursache hierfür sind unterschiedliche Erfolgswerte, die laut Bundesverfassungsgericht auszugleichen sind. Bei dem genannten Beispiel wäre dann übrigens das Abschneiden der AfD die Ursache für den Ausgleich gewesen.

Die CSU hatte entsprechend vorgeschlagen, den Ausgleichsmechanismus zu reformieren. Alle anderen diskutierten Optionen, die nicht den Ausgleich angehen, beseitigen daher nicht die Ursachen des Problems.

Eine weitere Unwucht des Verhältnisses darf es nicht geben. Daher haben sich CSU und CDU ganz klar gegen die Reduzierung der Wahlkreise ausgesprochen.

Michael Frieser

Die direkt gewählten Abgeordneten sind der Bevölkerung in der Regel persönich bekannt und haben gewissermaßen die höhere Legitimation im Vergleich zu den oft anonymen Listenkandidaten, die die Bevölkerung nicht bewusst ins Parlament wählt. Durch immer mehr Ausgleichsmandate besetzen die Direktabgeordneten mittlerweile weit weniger als die Hälfte der Sitze des Bundestags, was indes grundsätzlich vorgesehen wäre. Was tun Sie zum Schutz der Direktkandidaten und damit der engen Verankerung der Parlamentarier in der Bevölkerung?

Das Direktmandat ist das Sinnbild des im Grundgesetz dargestellten freien und unabhängigen Abgeordneten. Es ist zudem ein basis- und direktdemokratisches Element auf Bundesebene. Gleichwohl wäre es nicht richtig, die Mandate gegeneinander auszuspielen – wir sind alle Vertreter des gesamten Deutschen Volkes. Eine weitere Unwucht des Verhältnisses darf es jedoch nicht geben. Daher haben sich CSU und CDU ganz klar gegen die Reduzierung der Wahlkreise ausgesprochen.

Wir wollen keine Scheinlösungen, die lediglich auf Kosten der Wahlkreise gehen, aber die Ursachen nicht behandeln.

Michael Frieser

SPD, FDP, Grüne und Linkspartei wollen die Zahl der Direktwahlkreise von 299 auf 270 reduzieren – was besonders die Union hart treffen würde, weil sie die meisten Direktwahlkreise gewinnt. Nun drohen die Vereinigten Linken plus FDP, das Wahlrecht auch gegen den Willen der größten Fraktion, also der Union, zu reformieren. Was würde das bedeuten?

Das grundsätzliche Problem der Debatte wird daran deutlich, dass es immer nur darum geht, wer angeblich wo wieviel verlieren würde. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden am Wahltag über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Die Mandate gehören nicht den Parteien. Richtig ist, dass die Union derzeit die meisten Direktmandate hält. Vergessen werden darf dabei nicht, dass es kaum zehn Jahre her ist, dass die SPD die meisten Direktmandate holte. Die Verteilung der Wahlkreise ist nicht in Stein gemeißeltes. Zumal eine alleinige Reduzierung der Wahlkreise nachweislich nicht zu einer signifikanten Verkleinerung des Bundestages führt.

Wir werden die Entwicklung abwarten und stehen selbstverständlich für alle Diskussionen zur Verfügung. Genügend Vorschläge liegen unsererseits auf dem Tisch. Die SPD beispielsweise hat hingegen bisher noch keinen einzigen unterbreitet. Eine Reform gegen die größte Fraktion im Deutschen Bundestag wäre jedenfalls ein Affront.

Die SPD-FDP-Grün-Linke Wahlrechtsreform würde mutmaßlich den Willen der Bevölkerung grotesk verzerren, und zwar zu Gunsten der kleinen Parteien. Was wollen Sie dagegen vorgehen? In Karlsruhe klagen?

Es gilt die Entwicklung abzuwarten. Die Äußerungen seitens SPD und FDP darf man vorerst nicht überbewerten. Entscheidend ist: Wir verwehren uns keinen Gesprächen. Wir wollen aber auch keine Scheinlösungen, die lediglich auf Kosten der Wahlkreise gehen, aber die Ursachen nicht behandeln. Bevor Wahlkreise reduziert werden, gilt es, alle anderen denkbaren Lösungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die an der Ursache der Vergrößerung des Deutschen Bundestages ansetzen: dem Ausgleichsmechanismus und der zugrunde liegenden Erfolgswertgleichheit. Die Schuld des Überhangmandats ist eine Mär.

Das Interview führte Wolfram Göll.

Demokratisches Prinzip

Eine der zentralen Anforderungen an demokratische Wahlen ist der Grundsatz der Wahlgleichheit. Er verlangt, dass jede Wählerin und jeder Wähler dieselbe Anzahl von Stimmen und jede Stimme gleiches Gewicht hat. Das wird als Zählwertgleichheit bezeichnet. Außerdem muss jede Stimme gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben. Das wird Erfolgswertgleichheit genannt.