Der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber fordert eine neue Sicherheitsdebatte. (Bild: Imago/Sven Simon)
Stoiber-Kolumne

Es geht um unsere Sicherheit

Kolumne Aus der aktuellen Ausgabe des BAYERNKURIER-Magazins: Der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber fordert, dass in Deutschland und Europa wieder mehr über die veränderte Sicherheitslage debattiert werden sollte. Die EU müsse auf diesem Feld tätig werden.

Die Sicherheitslage in Europa ist bei objektiver Betrachtung so schlecht wie seit Langem nicht mehr. Die Vorgänge auf der Krim und in der Ostukraine, aber auch die Auseinandersetzungen in und um Syrien haben gezeigt, dass Russland auf seine enorme militärische Kraft baut und sie auch offensiv einsetzt. Hinzu kommt, dass das Land in den letzten Jahren seine Nuklearstreitkräfte modernisiert und darüber hinaus nach NATO-Informationen neue Marschflugkörper entwickelt hat, die atomar bestückt werden und innerhalb kurzer Zeit europäische Städte erreichen können.

Risikofaktor Trump

Die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die amerikanischen Truppen mittelfristig aus Syrien zurückzuziehen, hat ebenfalls potenziell gravierende Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa: So gibt es Berichte, nach denen die syrischen Kurden möglicherweise gefährliche
Gefangene des IS freilassen wollen, weil sie die für deren Bewachung abgestellten Soldaten nun dringender zu ihrer Verteidigung brauchen. Spekulationen über einen Rückzug der USA aus Afghanistan lassen eine weitere Eskalation der Gewalt durch die Taliban befürchten und werfen Fragen der Sinnhaftigkeit des deutschen Engagements in diesem Land auf.

In den 80er-Jahren hätte eine vergleichbare Verschärfung der Sicherheitslage eine Riesendebatte in der Öffentlichkeit und große Demonstrationen ausgelöst.

Edmund Stoiber

Zudem hat Trump das Iran-Atomabkommen einseitig aufgekündigt und droht mit der Kündigung des INF-Vertrags von 1987, der den USA und der damaligen Sowjetunion den Besitz und die Entwicklung von nuklearen Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern verbietet. Als Begründung nennt er neben einem vertragswidrigen Verhalten Russlands auch die Nichteinbeziehung anderer Atommächte wie China. Der INF-Vertrag war ein grandioser Erfolg für die westliche Welt und ist nach wie vor ein wesentlicher Garant für die Sicherheit Europas. Mit seinem Wegfall droht ein neues Wettrüsten, das Europa aufgrund seiner geografischen Nähe zu Russland und seiner militärischen Schwäche in eine sehr unbequeme Situation bringen würde. Verlangt eine durch den INF-Vertrag verbotene Stationierung russischer Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen mit einer Bedrohung von Zielen in Europa eine atomare Antwort der NATO oder Europas? Wären Europa oder Deutschland wie vor gut drei Jahrzehnten dazu bereit?

In den 80er-Jahren hätte eine vergleichbare Verschärfung der Sicherheitslage eine Riesendebatte in der Öffentlichkeit und große Demonstrationen ausgelöst. Die Friedensbewegung stand damals auf dem Höhepunkt ihres Einflusses und konnte Millionen von Menschen mobilisieren. Zu dieser Zeit, 1983, gingen allein im Bonner Hofgarten eine halbe Million Menschen auf die Straße, um gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss zu demonstrieren, also gegen die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen als Antwort auf die Aufrüstung des sowjetischen Atomarsenals. Bundeskanzler Helmut Schmidt, der den NATO-Doppelbeschluss mit initiiert hatte, ist damals an dieser Debatte gescheitert, weil sich seine SPD fast vollständig gegen ihn wandte. Erst die unionsgeführte Bundesregierung unter Helmut Kohl konnte nach der gewonnenen Bundestagswahl 1983 und einer leidenschaftlichen Rede von Frankreichs Staatspräsident Mitterrand im Bundestag den Doppelbeschluss auch im deutschen Parlament durchsetzen. Das war eine richtige und mutige Entscheidung, die wesentlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen hat.

Keine Leidenschaft für Sicherheit?

Ich halte es fast für einen Skandal, dass wir in Deutschland und Europa heute über unsere veränderte Sicherheitslage so wenig öffentlich debattieren, trotz der angedrohten Kündigung des INF-Vertrags. Es sind keine friedensbewegten Demonstranten auf der Straße zu sehen. Auch die politische Debatte um die Kündigung des INF-Vertrags und den amerikanischen Rückzug in Syrien und Afghanistan verläuft seltsam zurückhaltend. Wir können leidenschaftlich und wochenlang über sozialpolitische Fragen wie die Erhöhung des Mindestlohns oder die Beseitigung des Hartz-IV-Systems streiten; eine derartige Leidenschaft würde ich mir auch für solch existenzielle Fragen wie die zukünftige Sicherheitsarchitektur in Europa und die Rolle der EU darin wünschen. Die Wahl zum Europaparlament im Mai muss als Anlass und Chance für eine breite Diskussion möglicher Folgen genutzt werden.

Die NATO ist das erfolgreichste Militärbündnis aller Zeiten.

Edmund Stoiber

Klar ist, dass die EU nie ein auf militärische Dominanz setzendes Bündnis werden wird. Natürlich ist eine stärkere europäische Zusammenarbeit in Rüstungsfragen und der nationalen Armeen sinnvoll. Aber die Zukunftsvision einer europäischen Armee, wie sie vor allem Frankreichs Präsident Macron vorschwebt, darf keine Konkurrenzveranstaltung zur NATO werden. Die NATO ist das erfolgreichste Militärbündnis aller Zeiten. Um dieses Erfolgsmodell auch gegen die Vorwürfe von Trump zu behaupten, die Europäer gäben zu wenig für ihren Schutz aus, müssen die EU-Staaten mehr Geld in die Verteidigung investieren und die Kritik Trumps damit entkräften. Es ist ein gutes Signal, dass Deutschland bis 2024 seine Verteidigungsausgaben um achtzig Prozent erhöhen will.

Die Stärke der EU liegt in ihrer Wirkung als freiheitlich-demokratische Wertegemeinschaft.

Edmund Stoiber

Die Stärke der EU liegt aber nicht in erster Linie in ihrer militärischen Kraft, sondern in ihrer auf andere Regionen der Erde ausstrahlenden Wirkung als freiheitlich-demokratische Wertegemeinschaft. Aber ohne militärischen Schutz sind diese Werte äußerst fragil. Europa muss vor allem seine diplomatischen Kapazitäten und Fähigkeiten erhöhen. Es ist eine Schande, dass die EU im Syrienkonflikt nach wie vor nur am Katzentisch sitzt, obwohl Europa durch die Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten am meisten davon betroffen ist. Die letzte EU-Strategie zu Syrien stammt aus dem April 2017! Vor allem muss stärker erkannt werden, dass Russland im Nahen Osten nicht nur Teil des Problems, sondern auch Teil der Lösung ist. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat in einem Interview richtigerweise festgehalten, dass er trotz aller Probleme weiter in erster Linie auf einen Dialog mit Russland setzt. Wir brauchen vertrauensbildende Maßnahmen für einen intensiveren Meinungsaustausch mit Russland. Wichtig ist, die Beweggründe des jeweils anderen besser zu verstehen. Helfen könnten zum Beispiel regelmäßigere Sitzungen des NATO-Russland-Rats, der Ende Oktober 2018 das letzte Mal zusammengekommen ist. Auf der politischen Ebene der EU, aber auch zum Beispiel auf der Ebene der kommunalen Zusammenarbeit oder des Schüler- und Studentenaustauschs ist sicher auch noch mehr machbar. Russland ist unser Nachbar und wird es auch bleiben, ob wir es wollen oder nicht.