Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe hat über die Sanktionen im „Hartz-IV“-System verhandelt. Diese sehen vor, dass die Arbeitsagentur die Zahlungen an einen Arbeitslosen kürzen darf, wenn dieser seine Mitwirkungspflichten verletzt – etwa unentschuldigt einen wichtigen Termin versäumt. Das Arbeitslosengeld II (ALG II), auch „Grundsicherung“ oder „Sozialhilfe“ genannt, wurde soeben zur Jahreswende um 8 auf 424 Euro monatlich für Alleinstehende über 25 Jahren angehoben, 764 Euro gibt es für ein in einem Haushalt zusammenlebendes Paar, junge Erwachsene unter 25 Jahren erhalten 382 Euro.
Zentraler Grundsatz der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist das Fordern und Fördern. Es gilt: Wer Sozialleistungen bezieht, muss auch Gegenleistungen erbringen.
Stephan Stracke, CSU-Bundestagsabgeordneter
Das Sozialgesetzbuch II verpflichtet Hartz-IV-Empfänger, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden. Nach geltender Rechtslage sehen die Sanktionen folgendermaßen aus: Verpassen Arbeitssuchende einen Termin beim Jobcenter, mindert sich der Regelsatz für drei Monate um zehn Prozent. Verweigern über 25 Jahre alte Hartz-IV-Empfänger einen zumutbaren Job oder brechen sie eine Ausbildungsmaßnahme ab, drohen ihnen härtere Sanktionen. Für drei Monate werden dann 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt. Bei einem zweiten Regelverstoß innerhalb eines Jahres erhöht sich die Sanktion auf 60 Prozent.
Dritte Sanktionsstufe: 100 Prozent Kürzung, Wohngeld weg
Und beim dritten Regelverstoß innerhalb eines Jahres sind es sogar 100 Prozent Kürzung. In dieser dritten Stufe der Sanktionen werden auch die Zuschüsse für Wohnen und Heizen und der Zuschuss zur Krankenversicherung nicht mehr gezahlt. Bei einer Minderung um mehr als 30 Prozent können die Arbeitssuchenden jedoch ergänzende Sachleistungen beantragen, also zum Beispiel Lebensmittelmarken. Sind Kinder betroffen, müssen die Ämter die Gutscheine gewähren. Derzeit verhängen die Jobcenter knapp eine Million Sanktionen im Jahr, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Weil gegen dieselbe Person mehrmals Sanktionen verhängt werden können, ist die Zahl der Betroffenen niedriger.
Solidarität und Eigenverantwortung sind zwei Seiten einer Medaille.
Stephan Stracke
Nach den neuesten Zahlen von 2017 waren im Jahresdurchschnitt rund 136.800 Erwerbsfähige mit mindestens einer Sanktion belegt, das entspricht einer Sanktionsquote von 3,1 Prozent. Über den gesamten Jahresverlauf betrachtet wurden etwa 34.000 Beziehern die Leistungen komplett gestrichen. Im Lauf der Jahre sind immer weniger Betroffene hart sanktioniert worden: Der Anteil der Betroffenen, die wegen „Pflichtverletzungen“ schärfer sanktioniert wurden, sank von 2007 bis 2017 von knapp 50 auf deutlich unter 25 Prozent. Das Gros der Fälle, mehr drei Viertel, wird lediglich wegen „Meldeversäumnissen“ mit zehn Prozent Kürzung belegt.
Kläger aus Erfurt wollte nicht im Lager arbeiten
Im konkreten Fall geht es um einen arbeitslosen Mann aus Erfurt. Vom Jobcenter wurde ihm ein Job als Lagerarbeiter angeboten. Weil er lieber in den Verkauf wollte, lehnte er den Job ab. Daraufhin kürzte das Jobcenter ihm sein Arbeitslosengeld um 30 Prozent. Der damalige Hartz-IV-Regelsatz für eine alleinstehende Person lag damals bei 391 Euro. 117 Euro davon wurden ihm für drei Monate abgezogen. Weil ihn auch diese Sanktion nicht motivierte und er einen Gutschein zur Erprobung bei einem Arbeitgeber nicht einlöste, kam es zu einer weiteren Kürzung. Insgesamt bekam er nun 234,60 pro Monat weniger, also eine Kürzung von 60 Prozent. Dagegen klagte der Mann. Das Sozialgericht Gotha setzte das Verfahren aus und schickte die Sache zur grundsätzlichen Klärung nach Karlsruhe. Die Thüringer Richter waren der Meinung, dass sämtliche Sanktionsregeln nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, weil dadurch das dem ALG-II-Satz zugrundeliegende Existenzminimum unterschritten wird. Das Urteil des BVerfG wird in einigen Monaten erwartet.
Schreckgespenst für Linke
Die Linkspartei und ihre Vorgängerpartei PDS lehnten das ganze Hartz-IV-System mit dem Prinzip „Fordern und Fördern“ schon seit dessen Einführung 2005 unter der rot-grünen Bundesregierung Schröder/Fischer komplett ab und stilisierten es regelrecht zum Schreckgespenst und Feindbild. Doch auch SPD und Grüne wenden sich derzeit vom Hartz-IV-System ab.
SPD-Chefin Andrea Nahles kündigte wenig konkret an, ihre Partei wolle Hartz IV „hinter sich lassen“ und forderte: „Die Menschen brauchen einen freundlichen, zugewandten, echten Sozialstaat.“ Näher hat die SPD ihre Pläne noch nicht ausformuliert. Die Grünen setzen auf einen sozialstaatlichen Pleonasmus namens „Garantiesicherung“: Weiter nötig sein sollten zwar ein Antrag und der Nachweis der Bedürftigkeit. Die Grünen wollen aber den „Zwang“ abschaffen, Termine im Jobcenter zu machen oder Arbeit zu suchen. Damit entfalle „das wesentliche Element von Hartz IV, die Gängelung“, wie die Grünen formulieren. Im Kern laufen die Pläne von SPD und Grünen jedenfalls darauf hinaus, die Sozialhilfesätze deutlich zu erhöhen und die Bedingungen für deren Empfang drastisch zu erleichtern.
Erfolg der Hartz-Reformen wird gefährdet
Die CSU lehnt derartige Systemwechsel ab: „Zentraler Grundsatz der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist das Fordern und Fördern. Es gilt: Wer Sozialleistungen bezieht, muss auch Gegenleistungen erbringen“, betont der sozialpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Stephan Stracke, gegenüber dem BAYERNKURIER. Ohne Sanktionsandrohungen würde das ganze System nicht mehr funktionieren, fürchtet Stracke. „Um dies durchsetzen zu können, bedarf es eines effektiven Sanktionsmechanismus. Dies ist allein schon eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber der Gemeinschaft und der Steuerzahler. Solidarität und Eigenverantwortung sind zwei Seiten einer Medaille.“
In scharfem Gegensatz zum Dauerklageton der Sozialstaatskritiker („Immer mehr Arme, immer mehr Abgehängte“) finden immer mehr Bezieher der angeblich gescheiterten Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgreich in ein Beschäftigungsverhältnis.
Marcus Jung, FAZ
Auch konservative Medien warnen davor, die „erstaunliche Erfolgsgeschichte“ des Hartz-IV-Systems ohne Not zu zerstören. So schreibt FAZ-Redakteur Marcus Jung: „In scharfem Gegensatz zum Dauerklageton der Sozialstaatskritiker („Immer mehr Arme, immer mehr Abgehängte“) finden immer mehr Bezieher der angeblich gescheiterten Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgreich in ein Beschäftigungsverhältnis.“ Die amtliche Statistik, schreibt die FAZ weiter, belege dies: „Die Gesamtzahl der Haushalte, die Hartz IV beziehen, ist seit zehn Jahren um ein Sechstel gesunken, die Zahl der Hartz-IV-Bezieher mit deutscher Staatsbürgerschaft sogar um ein Drittel.“ Der Rückgang sei so stark, dass die „Immer-mehr-These“ selbst dann fehlgehe, wenn man ignoriere, dass „seit 2013 mehr als eine Million Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland gekommen sind und Hartz IV beantragt haben“.