Vertrauensverlust
Die Hessischen Wähler geben Ministerpräsident Volker Bouffier gute Noten. Trotzdem haben sie ihn bestraft. Nicht für Hessen, sondern für Berlin. Denn sie haben den Kontrollverlust von 2015 nicht verziehen – und jetzt folgt der Vertrauensverlust.
Hessenwahl

Vertrauensverlust

Kommentar Die Hessischen Wähler geben Ministerpräsident Volker Bouffier gute Noten. Trotzdem haben sie ihn bestraft. Nicht für Hessen, sondern für Berlin. Denn sie haben den Kontrollverlust von 2015 nicht verziehen – und jetzt folgt der Vertrauensverlust.

Soviel hat die Hessenwahl klar gemacht: Die CSU ist nicht schuld am Abstieg der Unionsparteien. Und natürlich auch nicht Horst Seehofer.

Hessens CDU-Chef und Ministerpräsident Volker Bouffier hat alles anders gemacht: Unter den Merkel-Getreuen ist er einer der getreuesten. Die Migrantenpolitik der Kanzlerin hat er drei Jahre lang mitgetragen, ohne den leisesten Ton der Kritik. Im Wahlkampf hat er Angela Merkel nach Hessen geholt und dort demonstrativ auf sie gesetzt. Kurz vor der Bayernwahl hat er sogar noch die CSU offen kritisiert.

Dem Kontrollverlust folgt der Vertrauensverlust

Es hat nichts geholfen. Bouffiers hessische CDU fiel noch tiefer als zwei Wochen zuvor in Bayern die CSU: Von 38,3 auf nur noch 27,0 Prozent. Bundesweit erreichen die Unionsparteien einer jüngsten Emnid-Umfrage zufolge gar nur noch 24 Prozent – eine Implosion.

Mit Angela Merkel an der Spitze gewinnt man keine Wahlen mehr.

Der Standard

Das Ergebnis der Hessenwahl macht deutlich: Die Wähler meinen nicht Hessen oder Bayern. Die Wähler meinen Berlin. Sie meinen die Bundeskanzlerin. Sie meinen in erster Linie ihre Flüchtlingspolitik. Sie haben ihr den großen Kontrollverlust vom Herbst 2015 nicht verziehen. Und jetzt folgt dem Kontrollverlust anhaltender Vertrauensverlust.

CDU abgestraft

Wie den Bayern geht es auch den Hessen so gut wie nie. Alle Wirtschaftszahlen sind gut, sogar sehr gut, nur in punkto Sicherheit und Bildung gab es Rückschritte. In den Umfragen gaben die Wähler ihrem Ministerpräsidenten Bouffier beste Noten: 64 Prozent schätzen ihn als Ministerpräsidenten, 78 Prozent halten ihn für führungsstark und 58 Prozent für glaubwürdig. Trotzdem haben sie ihn abgestraft.

Etwa 300.000 Wähler hat die CDU in Hessen verloren: 99.000 an die Grünen und fast genauso viele, 96.000, an die AfD. 35.000 wanderten zur FDP, 61.000 blieben gleich zuhause. Drei Viertel der abgewanderten hessischen CDU-Wähler haben einer Infratest Dimap Umfrage gesagt, sie wollten der Regierung in Berlin einen Denkzettel verpassen. Sie haben dabei scharf kalkuliert: Die erfolgreiche Regierung Bouffier kann trotzdem bleiben. Denn eine rot-rot-grüne oder vielmehr grün-rot-rote Wende haben sie ausgeschlossen. In den letzten Wahlkampftagen hatte Bouffier genau davor laut gewarnt.

SPD hinter Grünen

Noch schlimmer als der CDU ist es der hessischen SPD ergangen. Mit 19,8 Prozent hat Parteichef Thorsten Schäfer-Gümbel das schlechteste Ergebnis eingefahren, dass die Hessen-SPD in 60 Jahren je erlebt hat: unter 20 Prozent, und mit 74 Stimmen Rückstand sogar nur auf Rang drei hinter den Grünen.

Für die Hessen-SPD bedrohlich: Im ländlich geprägten Hessen waren die Sozialdemokraten früher vor allem in den Städten stark. Nicht mehr: Jetzt liegen in den Städten die Grünen deutlich vorne. In Frankfurt, Offenbach und Darmstadt konnten sie Direktmandate erobern. Noch ein Alarmsignal: Unter der einstigen Kerngruppe der SPD-Wähler, der Arbeiterschaft, gewann die AfD 22 Prozent.

Niemand weiß mehr, was diese Partei will und für wen sie Politik macht.

Neue Zürcher Zeitung

Gut 300.000 Wähler hat die SPD in Hessen abgegeben, an alle Lager: 104.000 an die Grünen, 38.000 an die AfD, 35.000 an die Linken, 24.000 an die CDU. 66.000 einstige SPD-Wähler kamen nicht zur Wahl.

Bundesweit stehen die Sozialdemokraten jetzt gerade noch bei 15 Prozent – hinter den Grünen (20) und hinter der AfD (16). Die SPD brauche eine programmatische Neuausrichtung, analysiert die Neue Zürcher Zeitung: „Niemand weiß mehr, was diese Partei will und für wen sie Politik macht.“ Amüsant: Genau so formuliert es auch SPD-Chef Schäfer-Gümbel: „Für was steht eigentlich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands?“

Grüne in den Städten stark

Wie die Sozialdemokraten an alle Konkurrenten Wähler abgegeben haben, so haben die Grünen von fast überall her Wähler gewonnen: Je etwa 100.000 kamen von SPD und CDU, 3000 von der FDP. 19,8 Prozent hat das den Grünen am Wahlabend eingebracht, knapp neun Punkte mehr als vor fünf Jahren.

Doch dem grünen Aufschwung sind wohl Grenzen gesetzt: Auf dem Land und in manchen Wählerreservoirs – etwa bei älteren Männern – tun sie sich schwer. Sichtbar schwach sind die Grünen bei Arbeitern, unter denen sie nur 13 Prozent gewannen. 1000 Stimmen haben sie denn auch an die Linken und 3000 an die AfD abgegeben.

Viele linke AfD-Wähler

Die AfD, die in Hessen auf 13,1 Prozent kam, ist offenbar vielfach eine Partei sogenannter kleiner Leute: 38.000 ihrer hessischen Wähler kamen von der SPD und 15.000 von den Linken. Knapp 100.000 Stimmen kamen von der CDU, 17.000 von der FDP. 21.000 waren zuvor Nichtwähler. Neben Union und SPD ist seit dem hessischen Wahlabend nur die AfD in allen 16 Landtagen vertreten.

Wann verfliegt der Zorn?

Die Hälfte aller Wähler, sagt das Münchner Umfrage-Institut Infratest, wollte der Berliner Politik einen Denkzettel verpassen. Auch drei Jahre nach dem Herbst 2015 ist das Strafbedürfnis der Wähler – oder ihr Zorn – groß. In Berlin muss es für die Union jetzt darum gehen, das Vertrauen der Wähler zurück zu gewinnen. Damit der Zorn verfliegt.