Bundesinnenminister Horst Seehofer. (Foto: Marko Priske/BK)
Chemnitz

Ein Verbrechen und seine Folgen

Die Vorfälle in Chemnitz nach einem Tötungsdelikt mutmaßlich durch Asylbewerber bleiben unklar. Verfassungsschutzpräsident Maaßen ist weiter davon überzeugt, dass es keine "Hetzjagden" in Sachsen gegeben habe, wohl aber rechtsradikale Straftaten.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat sich besorgt gezeigt über das Auftreten von Rechtsradikalen nach dem Gewaltverbrechen in Chemnitz. „Die Vorgänge sind unschön. Wir haben es mit Rechtsradikalen zu tun. Wir haben es mit antisemitischen Vorfällen zu tun und haben es aber auch mit einem Fall eines Gewaltverbrechens zu tun“, sagte der Minister der dpa. „Wir müssen alle drei Dinge bekämpfen, analysieren und auch mit Konsequenzen versehen, soweit es um das Verbrechen geht.“

Seehofer stellte sich am Mittwoch hinter Maaßen. „Ich habe mich entschieden, dass ich für personelle Konsequenzen keinen Anlass sehe“, sagte der CSU-Chef nach einer Sitzung des Innenausschusses des Bundestags. Maaßen habe sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass manches in der Öffentlichkeit anders aufgefasst und diskutiert worden sei als von ihm beabsichtigt, sagte Seehofer. Das begrüße er. Zudem habe sich Maaßen klar gegen Rechtsextremismus positioniert.

Ausschreitungen nach Tötungsdelikt

In Chemnitz war Ende August ein 35-jähriger Deutscher getötet worden. Verdächtigt werden drei Asylbewerber. Danach kamen Tausende zu einer Kundgebung der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz, darunter auch gewaltbereite Neonazis und Hooligans. Manche zeigten den Hitlergruß – andererseits ist auf einem (bisher nicht verifizierbaren) Facebook-Video auch zu sehen, wie solche Neonazis mit deftigen Worten von der Demonstration ausgeschlossen wurden. Auch wegen eines Angriffs auf ein jüdisches Restaurant wurde Anzeige erstattet. Zudem veröffentlichte der Twitter-Nutzer „Antifa Zeckenbiss“ ein ebenfalls bisher nicht verifizierbares Video, das angeblich eine Hetzjagd von Neonazis auf Ausländer zeigen soll – tatsächlich aber dauern das verschwommene Verjagen und die verbalen Drohungen nur einige Sekunden. Dann lassen die mutmaßlichen Neonazis von ihrem mutmaßlich ausländischem Opfer ab, ohne körperliche Gewalt ausgeübt zu haben.

Debatte um Verfassungsschutz-Präsident

Darum hatten unter anderem auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Regierungssprecher Steffen Seibert von „Hetzjagden“ gesprochen. Dem hatte zunächst der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Landtag widersprochen: „Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome.“ Nach Informationen der Bild-Zeitung hat auch der aus Sachsen stammende Unionsfraktionsvize Arnold Vaatz Seibert kritisiert. Man dürfe nicht Vokabeln wie „Hetzjagd“ verwenden, ohne sich vorher mit den Tatsachen vertraut gemacht zu haben. Über das Konzert „gegen Rechts“ mit seinen völlig inakzeptablen Hetz-Texten etwa gegen Polizisten habe Seibert dagegen kein Wort verloren.

Am 7. September widersprach auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, in der Bild-Zeitung, dem „Hetzjagd“-Begriff. Seinem Amt lägen „keine belastbaren Informationen“ darüber vor, dass in Chemnitz nach dem gewaltsamen Tod eines Deutschen Hetzjagden auf Ausländer stattgefunden hätten. Es lägen auch keine Belege dafür vor, dass ein Video zu einer angeblichen Hetzjagd authentisch sei.

Maaßen rechtfertigt sich

Maaßen hat seine Äußerungen inzwischen in einem von Bundesinnenminister Seehofer angeforderten Bericht mit der Sorge vor einer Desinformationskampagne begründet. In seiner der dpa vorliegenden Erklärung erhebt Maaßen Vorwürfe gegen den Twitter-Nutzer „Antifa Zeckenbiss“. Es sei davon auszugehen, dass dieser das Video vorsätzlich mit der falschen Überschrift „Menschenjagd in Chemnitz“ versehen habe, „um eine bestimmte Wirkung zu erzielen“.

Es gab aus der Demonstration heraus Angriffe auf Migranten, Linke und Polizisten. So wurde Menschen über kurze Distanz nachgestellt. Insofern wäre der Begriff ,Jagdszene‘ noch gerechtfertigt. Eine ,Hetzjagd‘, in dem Sinne, dass Menschen andere Menschen über längere Zeit und Distanz vor sich hertreiben, haben wir aber nicht beobachtet.

Freie Presse, Zeitung aus Chemnitz

Auf die Frage, was ihn vor dem Hintergrund laufender Ermittlungen veranlasst habe, in der Öffentlichkeit eine Einschätzung abzugeben, macht Maaßen deutlich, dass er Sachsens Ministerpräsidenten Kretschmer unterstützen wollte. Dessen Feststellung entspreche auch den Erkenntnissen aller zuständigen Sicherheitsbehörden, nämlich der sächsischen Polizei, der Staatsanwaltschaft, des Landesamtes für Verfassungsschutz und der Bundespolizei sowie des BfV selbst. Die Zuständigkeit des BfV umfasse „auch die Aufklärung von Desinformation“ und sei „unabhängig von den Zuständigkeiten und Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden“.

Nein, es gab keine Hetzjagden oder Pogrome in Chemnitz nach dem abscheulichen Verbrechen an einem 35-jährigen Mitbürger.

Sächsische Zeitung (Dresden)

Maaßen betont weiter, er habe „in keiner Weise in Zweifel gezogen, dass es von Rechtsextremisten organisierte und durchgeführte Demonstrationen und Straftaten in Chemnitz gab“. Zugleich erklärt der BfV-Präsident, anders als von Medien berichtet, habe er „zu keinem Zeitpunkt behauptet, dass das Video gefälscht, verfälscht oder manipuliert worden ist“. Er habe dagegen in Frage gestellt, dass das betreffende Video „authentisch“ eine „Menschenjagd in Chemnitz“ am 26. August belege. Dies wird von der Bild-Zeitung bestätigt.

Falls die Veröffentlichung des Videos durch „Antifa Zeckenbiss“ keinen linken Hintergrund haben sollte, so Maaßen in seinem Bericht, komme als Motiv „auch ein Anheizen der Stimmung in der Öffentlichkeit in Frage“. Falls er aber der linksextremistischen Szene angehöre, „könnte es auf Grund der bestehenden politischen Interessenlage der Szene möglich sein, dass die Falschetikettierung des Videos dem Ziel diente, die öffentliche Aufmerksamkeit von dem Tötungsdelikt abzulenken und auf angebliche rechtsextremistische ‚Hetzjagden‘ hinzulenken“. Seine Ausführungen verbindet Maaßen mit Erkenntnissen des BfV zum „regelmäßigen“ Einsatz von Falschinformationen durch extremistische Gruppen.

Kein Recht auf Gewalt

Bundeskanzlerin Merkel sagte am Mittwoch in der Generaldebatte des Bundestags, sie habe Verständnis, dass viele aufgewühlt seien durch Straftaten, die mutmaßlich von Asylsuchenden begangen worden seien. Zudem seien Demonstrationen ein verfassungsmäßig verbürgtes Recht. „Es gibt aber keine Entschuldigung und Begründung für Hetze, zum Teil Anwendung von Gewalt, Naziparolen, Anfeindungen von Menschen, die anders aussehen, die ein jüdisches Restaurant besitzen, für Angriffe auf Polizisten.“ Weiter sagte die Kanzlerin: „Begriffliche Auseinandersetzungen, ob es jetzt Hetze oder Hetzjagd ist, helfen uns wirklich nicht weiter.“

Umfrage stützt Seehofer

Die Einschätzung von Bundesinnenminister Horst Seehofer, die Migrationsfrage sei die „Mutter aller politischen Probleme“ in Deutschland, teilt die Mehrheit der Bevölkerung. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag von t-online stimmten knapp 51 Prozent Seehofers Aussage eher oder vollständig zu. Gut 45 Prozent widersprachen ihr ganz oder teilweise. Seehofer begründete den Satz damit, dass es „erstmals eine Partei rechts der Union gebe, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft“. Der Minister hatte im Interview mit der Rheinischen Post gesagt: „Viele Menschen verbinden jetzt ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage. Wenn wir den Kurswechsel nicht hinbekommen und die Ordnung der Humanität gleichberechtigt zur Seite stellen, werden wir weiter Vertrauen verlieren.“