CSU-Parteivorsitzender und Bundesinnenminister Horst Seehofer. (Foto: BK/Nikky Maier)
Religion

Überwunden geglaubter religiöser Fanatismus

Die Zuwanderung hat unerwartete Folgen für die Gesellschaft: Plötzlich ist etwa das Thema Religion wieder da – mit Fanatismus, Intoleranz und sogar Gewalt. Deutschland muss wieder über Religion reden, sagt Innenminister Horst Seehofer.

Deutschland muss offen und sehr ernsthaft über Religion reden, über die Rolle der Region in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat. Dringend. Das forderte jüngst Innenminister Horst Seehofer in einem ganzseitigen Meinungsbeitrag in der Berliner Tageszeitung Die Welt: „Reden wir über Religion.”

Noch vor wenigen Jahren schien die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft geklärt, so Seehofer: „Irgendwie am Rande, weitgehend nur noch als Privatsache.“ Nicht mehr. Religion ist plötzlich wieder öffentliches Thema, sogar strittiges. Seehofer: „Die Zuwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsstaaten, mit unterschiedlicher religiöser und kultureller Prägung hat zu erheblichen Herausforderungen geführt, die auch das Verhältnis zwischen Religion und Staat betreffen.“

Was dazu führt, dass das Land alte Fragen neu beantworten muss: Welche Bedeutung soll Religion in Staat und Gesellschaft haben? „Wie gestalten wir das Zusammenleben in einer religiös und weltanschaulich pluraler gewordenen Welt?“

Sprengkraft eines religiösen Fanatismus

Millionenfache Zuwanderung aus fremden Religionswelten konfrontiert die Deutschen nun mit alten und längst erledigt geglaubten Fragen. Die können den gesellschaftlichen Frieden ernsthaft bedrohen, sieht Seehofer: „In Deutschland haben wir beispielsweise die Sprengkraft eines religiösen Fanatismus für unser gesellschaftliches Miteinander lange für überholt gehalten.“

In Deutschland haben wir beispielsweise die Sprengkraft eines religiösen Fanatismus für unser gesellschaftliches Miteinander lange für überholt gehalten.

Horst Seehofer, Bundesinnenminister

Jetzt müssten die Deutschen wieder lernen, dass zur Religion eben auch die Gewalt kommen kann, dass den Religionen auch „Tendenzen zu Unbarmherzigkeit und Intoleranz“ innewohnen und sich Bahn brechen können.

Eine Gefahr für den Frieden, warnt Seehofer: „Wir Europäer haben in vielen Jahrhunderten schmerzvoll gelernt, dass ein friedliches Zusammenleben schwierig ist, wenn mit dem religiösen ein politischer Wahrheitsanspruch einhergeht.“

Auf der Basis der christlichen Soziallehre

Wie also gestalten „wir Europäer” das Zusammenleben in einer religiös und weltanschaulich pluraler gewordenen Gesellschaft? Im Grunde wie bisher, deutet Seehofer an, und die Neuankömmlinge werden sich daran gewöhnen müssen.

Für Seehofer ist alles klar. Sein Staatsverständnis steht auf der christlichen Soziallehre: Die Anerkennung der Notwendigkeit eines staatlichen Ordnungsrahmens, verbunden mit den Prinzipien des Gemeinwohls, der Solidarität und der Subsidiarität. Der Staat sei dabei in der Plicht: Er muss sein Gewaltmonopol konsequent ausüben und dem Recht Geltung verschaffen.

Der Staat muss dem Recht Geltung verschaffen.

Horst Seehofer

Zur Veranschaulichung zitiert Seehofer eine Begründung des Verfassungsgerichts, das 2016 die Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung gut hieß: „Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit.“ Das klingt höchst aktuell.

Die Rechtsordnung gilt für jeden

Der Staat der christlichen Soziallehre setzt das Recht durch und bekennt sich doch auch „zur Existenz überpositiver Werte, die der staatlichen Disposition entzogen sind“. In der Präambel des Grundgesetzes beruht die Staatsordnung auf der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Artikel 1 macht den Schutz der unantastbaren Menschenwürde zur übergeordneten, absoluten „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Die Religionsfreiheit entbindet niemanden von der Achtung der Verfassung.

Horst Seehofer

Der demokratische Rechtsstaat kennt also übergeordnete Werte. Artikel 4 des Grundgesetzes erklärt „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ für unverletzlich. Aber das alles bedeutet eben nicht, so Seehofer sehr deutlich, „dass sich Einzelne unter Berufung auf ihr Gewissen leichtfertig von unserer Rechtsordnung distanzieren können“. Seehofer weiter: „Die Religionsfreiheit entbindet niemanden von der Achtung der Verfassung.“ Neue gesellschaftliche Verhältnisse machen nötig, daran zu erinnern.

„Wir“ gehen davon aus, betont Seehofer, dass Verfassung und Recht, die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens darstellen und „selbstverständlich von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu akzeptieren sind“. Das geht an die Adresse der Neuankömmlinge. Seehofer fügt eine Warnung hinzu: „Wer dies nicht akzeptiert und auf eine Beseitigung dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinwirkt – gleich aus welchen Motiven heraus – dessen Handeln muss der Rechtsstaat konsequent und mit der gebotenen Härte Einhalt gebieten.“

Religiös neutrale Institutionen

Der Staat schützt die Rechtsordnung. Aber er will und soll auch Heimstatt sein für alle Bürger. Aus dem Grunde sind der Staat und seine Institutionen in Religionsdingen neutral. Was heute von noch größerer Bedeutung ist, so Innenminister Seehofer: „Gerade diese Neutralität ist heute unabdingbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer religiös und weltanschaulich pluralen Welt.“ Die religiöse Neutralität des Staates und seiner Institutionen schaffe den Rahmen, in dem Menschen verschiedenen Glaubens oder auch ohne religiöse Bindungen einträchtig miteinander leben können ohne Fremdbestimmung fürchten zu müssen.

Vor allem bedeutet religiös neutral nicht werteneutral.

Horst Seehofer

Die Menschen können darum vom Staat religiöse Neutralität erwarten. Aber Staat und Gesellschaft haben dürfen ihrerseits von Gläubigen gleich welcher Religion auch etwas erwarten, so Seehofer: „dass sie sich auf die Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen sowie auf die Autorität von Wissenschaften einstellen und sich schließlich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen.“ Wieder eine klare Botschaft an Neuankömmlinge aus religiös-kulturell fernen Regionen.

Die eigene Identität pflegen

Und die altansässige Mehrheitsgesellschaft? Die muss sich ihrer „kulturellen und religiösen Wurzeln bewusst werden“ und sie mit gesundem Selbstbewusstsein vertreten. Immer im Respekt vor anderen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen. Denn nur wer die eigene kulturelle Identität lebt und bewusst vertritt, kann auf Neuankömmlinge anziehend wirken, kann überhaupt die Kraft zur Integration haben. Seehofer zitiert den Schriftsteller Navid Kermani: „Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten.“