Wehret den Anfängen: Kundgebung "Nie wieder Judenhass" in Berlin 2014. (Bild: Imago/Jürgen Heinrich)
Antisemitismus

Stück für Stück radikaler

In sozialen Medien, Blogs und Online-Kommentaren ist der Antisemitismus einer neuen Studie zufolge so stark wie noch nie. Jeden Tag würden Tausende antisemitische Äußerungen gepostet - in Bild, Text und Video.

Jeden Tag werden im Internet Tausende antisemitische Äußerungen gepostet – in Bild, Text und Video. Und die Äußerungen werden zunehmend radikaler. So das Ergebnis eine aktuellen Studie. Für ihre Untersuchung über Judenhass im digitalen Zeitalter werteten die Wissenschaftler am Institut für Sprache und Kommunikation der Technischen Universität (TU) Berlin mehr als 300.000 Texte etwa aus Twitter und Facebook und von Onlinemedien aus. „Weltverschwörung“, „Kindermörder“, „Zionistenclans“ – das sind Beispiele für die antisemitische Hetze, den Hass auf Juden und auf Israel die das Internet durchdringen.

Antisemitismus so verbreitet wie noch nie

In sozialen Medien, Blogs und Online-Kommentaren ist der Antisemitismus so weit verbreitet wie noch nie, heißt es in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Untersuchung. Die Antisemitismus-Expertin Monika Schwarz-Friesel sprach am Mittwoch von einem „besorgniserregenden Phänomen“. Im Web 2.0 werde Antisemitismus selbst in der Mitte der Gesellschaft und auch bei gebildeten und links eingestellten Nutzern akzeptiert.

Antisemitismus ist nicht das Problem der Juden. Es ist das Problem der Gesellschaft, in der er existiert.

Charlotte Knobloch, in einem Kommentar für den BAYERNKURIER

Das Ausmaß der „ungefilterten und nahezu grenzlosen Verbreitung von judenfeindlichem Gedankengut“, auch auf themenfremden Ratgeberseiten oder Diskussionsforen habe eine bisher nicht bekannte Größe erreicht. Zwischen 2007 und 2018 habe sich die Zahl der Äußerungen verdreifacht, Nutzer seien kaum vor judenfeindlichen Texten sicher. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, schrieb dazu in einem Kommentar für den BAYERNKURIER, dass „Ressentiments und Klischees – die Gerüchte über die Juden – wieder salonfähig, beinahe Mainstream“ seien. Knobloch weiter: „Besonders bedrohlich: Der sich immer stärker ausbreitende und radikaler werdende Judenhass unter in Deutschland lebenden Muslimen. Hier zeigt sich, dass die jahrelang praktizierte, von einem romantischen Multikulti-Ideal  geprägte Integrationspolitik – die ihren Namen nicht verdient – völlig versagt hat. Mehr als das: Sie hat großes Unheil angerichtet.“

Der Hass auf Juden

Für die Studie „Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses“ werteten die Wissenschaftler am TU-Institut für Sprache und Kommunikation mit Hilfe von Computern 300.000 deutschsprachige, oft anonym verfasste Texte von 2014 bis 2018 aus, etwa aus Twitter, Facebook und Meinungskanälen von Qualitätsmedien. Als Vergleich zogen sie 20.000 Mails hinzu, die von 2012 bis 2018 an die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden gingen – und die Adressaten zeigten. In rund der Hälfte (54,02 Prozent) der Texte tauchten Stereotype auf, wie sie seit Jahrhunderten kursierten: Die Juden als Fremde, Andere, Böse oder Wucherer. Solche Bilder kursierten etwa auch in der Beschneidungsdebatte von 2012. Der Brauch wurde damals als „Blutritual“ oder „Opferkult“ diffamiert.

Stück für Stück hat eine verbale Radikalisierung und Enthemmung stattgefunden, die uns mit tiefer Sorge erfüllt.

Josef Schuster, Zentralrat der Juden

Eine wichtige Triebfeder sei der Hass. In fast drei Viertel der Texte (70,3 Prozent) würden solche Gefühle offen („Ich hasse Juden“) oder indirekt („Die Welt hasst Israel“, „Der Hass kommt aus Israel“) geäußert. Über politische und ideologische Einstellungen hinweg seien die Nutzer in ihren Stereotypen vereint. „Das alte Phantasma des ‚Ewigen Juden‘ ist dominant“, sagte Schwarz-Friesel. Der auf Israel bezogene Judenhass tauche in einem Drittel (33,35 Prozent) der Texte auf.

Israel als Deckmantel

Im muslimischen Antisemitismus würden neben dem Vernichtungswunsch Israels die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich gemacht. Die Wissenschaftler sprechen daher von einer „Israelisierung der antisemitischen Semantik“. Oft sei nicht mehr von „Jude“ oder „Judentum“ die Rede, sondern von „Israelis“, „Zionismus“ oder „einflussreichen Kreisen“. Dieser Form des „politisch korrekten Antisemitismus“ werde in der Gesellschaft, von der Politik und der Justiz der geringste Widerstand entgegengesetzt.

Eine echte Bedrohung

„Antisemiten bekommen zunehmend das Gefühl, dass sie offen auftreten können“, sagte nun Studienleiterin Schwarz-Friesel. Ein Vertreter der israelischen Regierung sagte zum Ergebnis der Studie: „Wir sind uns des Phänomens bewusst, es steht im Zusammenhang mit den muslimischen Migranten und dem Aufstieg der extremen Rechten. Wir sind uns zudem bewusst, dass es mehr antisemitische Angriffe auf den Straßen Deutschlands gibt.“

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, erklärte: „Stück für Stück hat eine verbale Radikalisierung und Enthemmung stattgefunden, die uns mit tiefer Sorge erfüllt.“ Antisemitismus im Netz sei nicht virtuell, sondern eine echte Bedrohung. Das Internationale Auschwitz-Komitee sprach von einem Warnsignal für Politik, Netzbetreiber und Menschen, die sich im Netz engagierten.

(dpa/BK)